by Gesche Heidorn*
A. Einleitung
Die Verwirklichung von Geschlechtergleichstellung1 ist seit über 100 Jahren die zentrale Forderung des Feminismus: Alle Menschen sollen unabhängig von ihrem Geschlecht ihr Leben nach ihren individuellen Vorstellungen gestalten können.2
Im westlichen Kulturkreis ist die Geschlechtergleichstellung als Ziel weitgehend anerkannt3 und auch im Grundgesetz verankert: Zwar ist das Diskriminierungsverbot in Art. 3 III GG als Gebot formaler rechtlicher Gleichbehandlung auszulegen,4 die heute weitgehend erreicht wurde.5 Allerdings verleiht die Menschenwürde (Art. 1 I GG) allen Menschen das gleiche Maß an Freiheit6 und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG) garantiert das Recht, selbstbestimmt die eigene Identität zu entfalten.7 Auch Art. 3 II 1 GG8 bezieht sich auf die faktische Gleichheit von Männern und Frauen.9
Besteht über das ob einer Politik zur Geschlechtergleichstellung damit weitgehend Einigkeit, ist das wie umstritten. Ein wichtiges Instrument zur Umsetzung politischer Forderungen ist das Recht. Gegenstand dieser Arbeit ist die Frage, wie das Recht als Instrument zur Erreichung von Geschlechtergleichstellung eingesetzt werden kann.
Aus der vielschichtigen, interdisziplinären Debatte sollen zwei feminismustheoretische Konzeptionen des Geschlechterbegriffs vorgestellt werden, die das Entstehen von Geschlechterungleichheiten unterschiedlich beschreiben (sogleich B.). Eine kritische Analyse wird zeigen, dass beide Ansätze Aufschlüsse über eine effektive Nutzung des Rechts als Instrument zur Geschlechtergleichstellung geben: Gerade im Verzicht auf Geschlechterkategorien im Recht liegt eine Chance zur Gleichstellung. Gleichzeitig kann das Recht zur Gewährleistung einer effektiven Antidiskriminierungs- und Frauenförderungspolitik noch nicht gänzlich auf den Geschlechterbegriff verzichten (unten C.). In diesem Spannungsfeld entwickelt die Arbeit einige konkrete gleichstellungsorientierte Reformvorschläge (unten D.).
B. Geschlecht und Geschlechterungleichheit – Zwei Ansätze
Was meinen wir, wenn wir von Geschlecht reden? Was sind die Erscheinungsformen und Ursachen der Geschlechterungleichheit? Welche Forderungen an das Recht resultieren aus dieser Ursachenanalyse? Diese Fragen werden aus der Perspektive des liberalen Feminismus einerseits sowie der des Konstruktivismus andererseits beantwortet.
I. Liberaler Feminismus
1. Geschlechterkonzept: Trennung von Sex und Gender
Ausgangspunkt traditioneller Gleichstellungspolitiken ist das Konzept des liberalen Feminismus.10 Zentral für die Beschreibung von Ungleichheiten ist danach die konzeptionelle Unterscheidung zwischen dem biologischen Geschlecht (sex11) und dem sozialen Geschlecht (gender).12
Das biologische Geschlecht ist charakterisiert durch die genetische Disposition sowie die primären und die sekundären Geschlechtsmerkmale.13 Das biologische Geschlecht gilt als von der Natur vorgegeben (sogenannter biologischer Determinis-
* Die Autorin ist Studentin an der Bucerius Law School, Hamburg.
1 Zur Formulierung der Zielforderung werden auch die Begriffe Geschlechtergleichheit oder Geschlechtergerechtigkeit verwendet. Hier wird der Begriff der Geschlechtergleichstellung bevorzugt, der sich einer Stellungnahme darüber enthält, ob Frauen und Männer ihrem Wesen nach gleich oder ungleich sind.
2 Zum Konzept der Autonomie als zentrale Ziele des Feminismus Faulstich-Wieland, Einführung in Genderstudien, 2006, S. 100; Rauschenberg, gender…politik…online…10/2009, S. 1; Rossanda, in: Gerhard et al. (Hrsg.), Differenz und Gleichheit, 1990, S. 15.
3 S. Holzleithner, in: Camus et al. (Hrsg.), Im Zeichen des Geschlechts, 2008, S. 205.
4 S. BVerfG 64, 135, 157; Maihofer, in: Gerhard et al. (Hrsg.), Differenz und Gleichheit, 1990, S. 357-359. Teilweise wird angenommen, dass Art. 3 III 1 GG auch ein Verbot mittelbarer Diskriminierung enthält, vgl. Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz9, Art. 3 Rn. 255 mit Verweis auf BVerfGE 97, 35, 43.
5 S. Greif, Einführung in die Feministische Rechtswissenschaft, 2007, S. 3; Kolbe, in: Camus et al. (Hrsg.), Im Zeichen des Geschlechts, S. 221; Rossanda , S. 14.
6 S. Maihofer , S. 358; Schmidt, in: Foljanty/Lemke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2012, § 3 Rn. 6.
7 S. BVerfGE 101, 361, 79; Jarass/Pieroth, Kommentar zum Grundgesetz11, Art. 2 Rn. 36.
8 Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Art. 3 II GG: Maihofer , S. 362.
9 S. BVerfGE 92, 91, 112; 109, 64; Cordes, in: Becker/Kortendiek (Hrsg.), Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung, 2004, S. 713; Maihofer , S. 363 f.
10 Es gibt zahlreiche Ansätze zur Systematisierung feminismustheoretischer Strömungen (vgl. nur die Einteilungen bei Evans, Feminist Theory Today, 1995, S. 8 ff.; Faulstich-Wieland , S. 98 ff.; Greif , S. 40 ff.; Künzel, in: Foljanty/Lemke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2012 § 2 Rn. 5 ff.; Lenz, in: Schäfer (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse im sozialen Wandel, 2002, S. 38 ff.; Lorber, Gender Inequality, 2010, S. 1 ff.; McHugh Feminist Philosophies A-Z, 2007, S. 6 ff.; Rauschenberg , S. 2 ff.). Die für die einzelnen Strömungen gewählten Bezeichnungen sind uneinheitlich. Aufgrund seiner großen Verbreitung wird hier der Begriff des Liberalen Feminismus (Liberal Feminism) gewählt. Teilweise werden ähnliche Thesen auch unter dem Begriff des Gleichheitsfeminismus (Rauschenberg , S. 3 ff.) oder Feministischer Realismus (Frey/Dingler, in: Alles Gender? Oder Was? Dokumentation einer Fachtagung der Heinrich-Böll-Stiftung, 2001, S. 22) behandelt.
11 Das Begriffspaar sex/gender ist mittlerweile in der deutschen Fach- und Alltagssprache üblich. Hier werden sowohl die deutschen als auch die englischen Bezeichnungen verwendet.
12 S. Faulstich-Wieland , S. 102; Greif , S. 46; Mann, Doing Feminist Theory, 2012, S. 404; Maihofer, Geschlecht als Existenzweise, 1994, S. 19; McHugh , S. 48 f.; Tarrant, in: Naffine (Hrsg.), Gender and Justice, 2002, S. 83.
13 Näher zur Bestimmung des biologisches Geschlechts: Büchler/Cottier, in: Degele /Penkwitt (Hrsg.), Queering Gender – Queering Society, Freiburger FrauenStudien 17, S. 116; Coester-Waltjens, JZ 2010, 852, 854; Maihofer, in: Institut für Sozialforschung Frankfurt (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse und Politik, 1994, S. 171; Nicholson, in: Institut für Sozialforschung Frankfurt (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse und Politik, S. 199.
mus14 oder Essentialismus15).16 Als unveränderliche Kategorie wird es vom Recht lediglich aufgegriffen.17
Demgegenüber ist gender das Produkt gesellschaftlicher Konventionen und kultureller Erwartungen, nach denen wir unser Verhalten ausrichten und hierdurch spezifische Geschlechterrollen ausbilden:18 „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“19 Diese uns prägenden sozialen Normen20 unterliegen dem gesellschaftlichen Wandel und variieren mit Ort und Zeit.21
Die Verknüpfung von sex und gender besteht darin, dass als Konsequenz des sex eine das biologische Geschlecht repräsentierende Geschlechterrolle eingenommen wird:22 Der biologische Körper als stabiler Kern fungiert als symbolischer Mantelständer, dem soziale Normen übergeworfen werden.23
Die konzeptionelle Trennung von sex und gender verhindert, dass empirisch nachweisbare Unterschiede in sozialen Verhaltensmustern schlicht mit dem Verweis auf biologische Unterschiede erklärt werden. Damit lassen sich mit den Geschlechterrollen verknüpfte Hierarchieverhältnisse nicht mehr aus einer natürlichen Geschlechterdifferenz rechtfertigen.24
2. Erscheinungsformen und Ursachen der Geschlechterungleichheit
Im Fokus des liberalen Feminismus stehen die empirische Analyse und systematische Aufarbeitung der Erscheinungsformen der Geschlechterungleichheit.25 Untersuchungsgegenstand ist das soziale, nicht das biologische Geschlecht.26 Ursächlich für die Benachteiligung von Frauen sind diesem Ansatz zufolge gesellschaftliche Strukturen, die bewirken, dass Frauen in ihrer sozialen Rolle schlechteren Zugang zu materiellen Ressourcen, Macht, Status und Autorität besitzen.27
Bei gleichen Fähigkeiten und Ausbildung gelingt es Frauen in vielen Bereichen doch nicht, in die Führungspositionen großer Unternehmen und Organisationen zu gelangen – eine glass ceiling versperrt ihnen den Weg an die Spitze.28 Umgekehrt geraten die wenigen Männer, die in Wirtschaftsbereichen mit hohem Frauenanteil arbeiten, erstaunlich häufig in höherrangige, besserbezahlte administrative Positionen (glass escalator).29 Beide Phänomene werden auf ein unzureichendes Mentoring des weiblichen Nachwuchses und den damit zusammenhängenden fehlenden Zugang zu informellen Netzwerken zurückgeführt.30
3. Forderungen an das Recht aus liberalfeministischer Perspektive
Nach dem Ansatz des liberalen Feminismus existieren demnach zwei biologische Geschlechter, denen in der Gesellschaft unterschiedliche soziale Rollen zugeschrieben werden. Die Ursache der Geschlechterungleichheit liegt in der strukturellen Benachteiligung des gender der Frau.
Aufgabe des Rechts ist es folglich, dafür zu sorgen, dass unterschiedliche Geschlechterrollen nicht zu persönlichen Einschränkungen führen. Durch geeignete Reformen muss Frauen gleicher Zugang zu Bildung, Beruf und Politik verschafft werden.31 Denkbare Instrumente sind kompensierende Maßnahmen wie Quotenregelungen (unten D.I.) sowie gezielte Bekämpfung struktureller und mittelbarer Diskriminierung (unten D.II.) durch entsprechende gesetzliche Regelungen.
II. Konstruktivismus
1. Abgrenzung zum liberalen Feminismus
Der feministische Konstruktivismus32 unterscheidet sich in seinem Geschlechterkonzept und dadurch auch in seinen Vorstellungen eines wirkungsvollen gleichstellungsorientierten Rechts.33 Die zentrale Annahme lautet, dass sowohl das soziale als auch das biologische Geschlecht gesellschaftliche Konstruktionen sind. Bestehende Geschlechterhierarchien werden durch unser tägliches Verhalten stabilisiert und perpetuiert.34
Zwar geht bereits der liberale Feminismus davon aus, dass genderspezifische Rollenverteilungen nicht natürlich sind, sondern sich aus Sozialstrukturen ergeben. Allerdings wird weder
14 So die Begriffswahl von Nicholson , S. 201. Die Vorstellung einer natürlichen Zweigeschlechtlichkeit wird auch als Ontologisierung der Geschlechterdifferenz bezeichnet, s. Kolbe , S. 222; Marshall, Engendering Modernity, 1994, S. 104.
15 So die Begriffswahl von Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, S. 56; Maihofer , S. 16.
16 S. Chau/Herring, International Journal of Law, Policy and Family 16 (2002), S. 327, 328; Ingraham, in: Gerhard, Differenz und Gleichheit, 1990, S. 310; Künzel , Rn. 46; Nicholson , S. 199.
17 S. Cossman, The Canadian Journal of Law & Jurisprudence 2 (2002), S. 281, 288.
18 S. Chau/Herring , S. 328; Dominijanni, in: Casale/Rendtorff (Hrsg.), Was kommt nach der Genderforschung?, S. 149; Maihofer , S. 171.
19 De Beauvoir, Das andere Geschlecht, 1951, S. 334.
20 Der Begriff der Norm wird in dieser Arbeit sowohl in seiner Bedeutung als soziale Norm als auch in seiner Bedeutung als Rechtsnorm verwendet. Welche Begriffsfacette jeweils gemeint ist, ergibt sich aus dem Kontext.
21 Frey/Dingler (Fn. 10), S. 9.
22 Zur Wechselwirkung zwischen sex und gender s. Cossmann , S. 281; Ingraham , S. 310; Maihofer , S. 69.
23 Frey/Dingler , S. 11.
24 Zur Bedeutung der Unterscheidung von sex und gender: Butler , S. 22; Frey/Dingler , S. 9; Maihofer , S. 173; Roeding, in: Alles Gender? Oder Was? Dokumentation einer Fachtagung der Heinrich-Böll-Stiftung, 2001, S. 27; Schmitz, in: Rendtorff (Hrsg.), Geschlechterforschung, 2011, S. 15.
25 S. Mann (Fn. 12), S. 19.
26 Greif (Fn. 5), S. 51.
27 S. Ridgeway, American Sociological Review 2 (1997), S. 218; Risman et al., Toward a World Beyond Gender: An Utopian Vision, 2012, S. 12.
28 Näher zum Phänomen der glass ceiling: Crompton, in: Davis et al. (Hrsg.), Handbook of Gender and Women’s Studies, 2006, S. 258; Baer, Geschlecht – kein Thema mehr für das Recht? Beitrag zum Forum Gleichstellung, 68. Deutscher Juristentag, 2010, S. 8; Tronto, in: Davis et al. (Hrsg.), Handbook of Gender and Women’s Studies, 2006, S. 419.
29 S. Fine, Delusions of Gender, 2010, S. 65; Lorber (Fn. 10), S. 33.
30 S. Cordes (Fn. 9), S. 715; Gildemeister, in: Becker/Kortendiek (Hrsg.), Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung, 2004, S. 138.
31 So auch die Forderungen von Greif (Fn. 5), S. 49; Künzel (Fn. 16), Rn. 7; Lenz , S. 41; Lorber (Fn. 10), S. 11; McHugh , S. 73; Rauschenberg , S. 4; Tronto (Fn. 28), S. 425.
32 Der Konstruktivismus zählt zu den postmodernen feministischen Strömungen (s. Künzel , Rn. 33; Oakley, Gender on Planet Earth, 2002, S. 189 f.) und wird der sogenannten Dritten Welle des Feminismus zugerechnet (s. Frey/Dingler (Fn. 10), S. 8).
33 Zu den genannten Merkmalen des Konstruktivismus und der Abgrenzung zum liberalen Feminismus: Faulstich-Wieland , S. 108; Frey/Dingler , S. 12; Greif (Fn. 5), S. 56; Lenz , S. 48; McKenna/Kessler, in: Davis et al. (Hrsg.), Handbook of Gender and Women’s Studies, 2006, S. 343; Risman, Gender & Society 4 (2004), S. 429, 431.
34 S. Cossmann (Fn. 17), S. 281; Lorber (Fn. 10), S. 245 ff.; Mann (Fn. 12), S. 404; West/Zimmermann, Gender and Society 2 (1987), S. 125, 134-137.
das Geschlecht als Ordnungskategorie noch das Konzept der Zweigeschlechtlichkeit in Frage gestellt.35 Gender wird als eine soziale Struktur empfunden, die zwar grundsätzlich wandelbar ist, aber dennoch objektiv und extern zum Individuum steht.36
Der Konstruktivismus untersucht demgegenüber den Entstehungsprozess von Geschlechterrollen: Durch welche Mechanismen werden Geschlechterrollen und Vorstellungen von biologischen Geschlechterkategorien hervorgebracht? Welche Rolle spielt menschliches Verhalten hierbei? Und welche Rolle spielt das Recht beim doing gender?
2. Konstruktion des sozialen Geschlechts
a) Geschlechterhierarchie durch Stereotype
In einer Gesellschaft gibt es zahlreiche gender-basierte Stereotypen37, die je nach Kulturkreis variieren.38 Diese enthalten sowohl deskriptive (wie sind Frauen und Männer?) als auch präskriptive (wie sollen Frauen und Männer sein?) Elemente.39 Nach den im westlichen Kulturkreis vorherrschenden Stereotypen gelten Frauen als freundlicher und fähiger in der Bewältigung von Beziehungsaufgaben.40 Männer hingegen sind unabhängig, dominant, zielstrebig41 und werden in einer diffusen Art und Weise als allgemein kompetenter beurteilt.42 Aus den Stereotypen ergibt sich folglich eine Geschlechterhierarchie, in der Männer einen höheren Status einnehmen als Frauen (gender ranking43).
b) Aktivierung von Stereotypen in Interaktionen
Treten wir im alltäglichen Leben mit anderen Menschen in Kontakt, so kategorisieren wir diese nach ihrem Geschlecht. Die Zuordnung erfolgt nicht nach (für gewöhnlich verborgenen44) biologischen Merkmalen, sondern nach äußerlich sichtbaren Kriterien wie Kleidung oder Frisur (gender display45).46 Ohne Anstrengung können wir das Gegenüber wenigstens grob einordnen und durch die Komplexitätsreduzierung eine leichtere Orientierung in sozialen Systemen ermöglichen.47
Im Verlauf der Interaktion übernimmt gender die Rolle einer master identity48, die im Hintergrund präsent ist, während andere Merkmale die dominante Rolle einnehmen.49 Unsere Erwartungen, unser Verhalten und unsere Beurteilungen werden durch unsere internalisierten Stereotype unterschwellig beeinflusst.50
c) Stabilisierung und Naturalisierung von Geschlechterrollen
Die beschriebenen Mechanismen führen zu einer ständigen Stabilisierung und Rekonstruktion sozialer Geschlechtsnormen (sog. reflexiver Zirkel51): Wir passen uns den Rollenerwartungen an, weil wir wissen, dass wir an diesen gemessen werden. Umgekehrt erwarten wir auch vom Interaktionspartner ein entsprechend normiertes Verhalten.52 Diese genderspezifischen Verhaltensweisen werden bereits von kleinen Kindern erlernt.53 Als Gesellschaftsmitglieder merken wir aufgrund dieser Naturalisierungsprozesse nicht mehr, dass wir selbst an der Konstruktion beteiligt sind und nehmen die geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen hin.54
3. Konstruktion des biologischen Geschlechts
a) Die Abkehr vom natürlichen Geschlecht
Konstruktivistische Ansätze gehen davon aus, dass nicht nur das soziale Geschlecht gesellschaftlich konstruiert wird. Vielmehr sei die Vorstellung, dass es aufgrund natürlicher körperlicher Unterschiede zwei biologische Geschlechter gibt, ebenfalls eine Konstruktion.55 Diese wird durch die wiederholte Ausübung historisch bedingter Verhaltensnormen gefestigt. Erst durch diese soziale Praxis erhalten bestehende körperliche Unterschiede demnach eine spezifische Bedeutung.56
Auch die konzeptionelle Trennung von sex und gender wird in Frage gestellt: Ist der Geschlechtskörper in seiner Bedeutung konstruiert, so kann er sinnvollerweise nicht mehr die Basis bestimmter Geschlechterrollen darstellen.57
b) Begründungslinien
Die Vorstellung zweier natürlicherweise existierender biologischer Geschlechter ist als Basisregel in unserem Alltagswissen fest verwurzelt.58 Entsprechend fernliegend bis absurd erscheint deshalb die Behauptung, es handle sich hierbei um eine Konstruktion. Wie wird dieses Konzept begründet und mit potenziellen Einwänden der Naturwissenschaften in Einklang gebracht?
aa) Inter- und Transsexualitätsforschung
Zweifel an der natürlichen Existenz eines binären Geschlechtersystems ergeben sich aus der medizinischen Forschung zur
35 Frey/Dingler (Fn. 10), S. 12.
36 S. Faulstich-Wieland (Fn. 2), S. 108; Mann (Fn. 12), S. 404.
37 Geschlechterstereotype sind kognitive Strukturen, die sozial geteiltes Wissen über die charakteristischen Merkmale von Frauen und Männern enthalten, vgl. Eckes, in: Becker/Kortendiek (Hrsg.), Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung, 2004, S. 165.
38 S. Lorber (Fn. 10), S. 9; Ridgeway/Correll, Gender and Society 4 (2004), S. 510, 511; Risman et al. (Fn. 27), S. 9.
39 Eckes (Fn. 37), S. 165 ff.
40 Crompton (Fn. 28), S. 26; Maihofer (Fn. 12), S. 69; Ridgeway/Correll , S. 513.
41 Eckes (Fn. 37), S. 165.
42 S. Fine (Fn. 29), S. 55; Ridgeway (Fn. 27), S. 221.
43 So der Begriff bei Lorber (Fn. 28), S. 27 ff.
44 Greif (Fn. 5), S. 64; West/Zimmermann (Fn. 34), S. 132.
45 Lorber (Fn. 28), S. 31.
46 S. Maihofer (Fn. 12), S. 60; Ridgeway (Fn. 27), S. 219.
47 S. Eckes (Fn. 37), S. 168; Faulstich-Wieland (Fn. 2), S. 109; Gildemeister , S. 133.
48 West/Zimmermann (Fn. 34), S. 128.
49 Ridgeway/Correll (Fn. 38), S. 516.
50 S. Ridgeway (Fn. 27), S. 219; Rismann (Fn. 33), S. 436 ff.
51 Maihofer (Fn. 12), S. 60.
52 S. Faulstich-Wieland (Fn. 2), S. 109; Lorber (Fn. 28), S. 32; Schmitz, in: Rendtorff (Hrsg.), Geschlechterforschung, 2011, S. 15.
53 S. Eckes (Fn. 37), S. 165; Fine (Fn. 29), S. 238; West/Zimmermann , S. 141.
54 S. Faulstich-Wieland (Fn. 2), S. 109; Lorber (Fn. 28), S. 13; Rismann , S. 445; Wetterer, in: Rendtorff (Hrsg.), Geschlechterforschung, 2011, S. 123.
55 Zu dieser These des Konstruktivismus: Butler , S. 24; Chau/Herring (Fn. 16), S. 329; Künzel (Fn. 16), Rn. 39; Mann (Fn. 12), S. 404; Villa, in: Rendtorff (Hrsg.), Geschlechterforschung, 2011, S. 149.
56 S. McKenna/Kessler (Fn. 33), S. 343; Lorber (Fn. 28), S. 52.
57 S. Frey/Dingler (Fn. 10), S. 10; Greif (Fn. 5), S. 68; Schmitz , S. 15.
58 S. Kolbe (Fn. 5), S. 219; Schmidt (Fn. 6), Rn. 20.
Inter- und Transsexualität. 59 Intersexuelle Menschen lassen sich aufgrund ihrer biologischen Merkmale nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen.60 Schätzungen zufolge trifft dies auf 0,05 bis vier Prozent der Neugeborenen zu.61 Die Erfahrungen mit der Intersexualität zeigen, dass zumindest die äußeren Geschlechtsmerkmale keine zwingende Zweigeschlechtlichkeit vorgeben.62 Transsexuelle Menschen besitzen zwar eindeutige anatomische Merkmale, ordnen sich aber psychisch dem anderen Geschlecht zu.63 Dies belegt die Fragwürdigkeit einer Herleitung der Geschlechtsidentität aus einem vermeintlichen biologischen Geschlecht.64
bb) Kulturanthropologie
Forschungsergebnisse der Kulturanthropologie stützen die Zweifelhaftigkeit unverrückbarer Geschlechtergrenzlinien65: Andere Gesellschaften kennen mehr als nur zwei Geschlechter oder lassen einen Geschlechtswechsel in verschiedenen Lebensphasen zu.66 Auch in der westlichen Welt entstand die Vorstellung einer kategorialen Differenz zwischen Mann und Frau erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.67
cc) Einwände aus Genetik und Neurowissenschaften
In verschiedensten naturwissenschaftlichen Feldern wird untersucht, ob und wie biologische Unterschiede zu geschlechtsspezifischen Differenzen in Verhalten und Fähigkeiten führen.68 Bislang konnte die genetische Determiniertheit von Geschlechterdifferenzen nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. So besteht in der Hirnforschung beispielsweise Uneinigkeit darüber, ob feststellbare Unterschiede in der unveränderlichen Biologie des Menschen begründet liegen, oder aber durch Interaktion mit der Umwelt entstehen.69 Die angewandten Methoden sehen sich ferner dem Vorwurf ausgesetzt, mit Verzerrungen und unzulässigen Generalisierungen zu arbeiten.70
Die Zweifel daran, ob es die zwei biologischen Geschlechter Mann und Frau tatsächlich gibt, erscheinen mangels wissenschaftlicher Widerlegung berechtigt.
4. Ursache der Geschlechterungleichheit: Perpetuierung der Geschlechterhierarchie
Es wurde gezeigt, wie der Konstruktivismus das Entstehen bestimmter gesellschaftlicher Vorstellungen von sozialem und biologischem Geschlecht erklärt. Wie aber entsteht dadurch Ungleichheit?
Durch unsere kulturellen Prägungen und geschlechtsspezifischen Stereotypen gehen wir nicht nur von einem binären Geschlechterbegriff, sondern auch von einer Hierarchie zwischen den Geschlechtern aus. Die Vorstellung der männlichen Superiorität71 und der weiblichen Minderwertigkeit wird durch alltägliche Interaktionen reproduziert.72 Zwar kann sich der kulturelle Bedeutungsgehalt von gender verändern, das Über- und Unterordnungsverhältnis bleibt indes stabil.73
Der konstruktivistische Ansatz sieht das Problem demnach nicht erst in der ungleichen Behandlung der verschiedenen Geschlechterrollen, sondern bereits in dem Bestehen und der ständigen Reproduzierung der Geschlechterrollen an sich.74
5. Forderungen an das Recht aus konstruktivistischer Perspektive
Bei der Perpetuierung der Geschlechterhierarchie spielt das Recht eine wichtige Rolle. Das deutsche Recht geht auch nach der jüngsten Änderung des Personenstandsgesetzes75 von einer grundsätzlich binären Geschlechterordnung aus, in der das Geschlecht von Geburt an feststeht und sich grundsätzlich im Verlauf des Lebens nicht ändert. Da das Geschlecht aus konstruktivistischer Perspektive als Kategorie vor seiner Festschreibung nicht existiert, wirkt das Recht entscheidend bei der Konstituierung eines binären Geschlechtermodells mit.76 Durch die Setzung spezifischen Rechts werden existierende soziale Hierarchieverhältnisse letztlich bestätigt (law is doing gender)77 und auf dem Geschlecht beruhende Rollenvorstellungen scheinbar legitimiert.78
Produziert aber gerade die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern Ungleichheiten, so muss das Ziel in einer Aufgabe des binären Geschlechterdenkens bestehen.79 Durch die Anerkennung der Heterogenität und Wandelbarkeit geschlechtlicher Existenzformen (sog. queere Existenzen80) wäre dem Mechanismus, dass eine bestimmte Geschlechtsgruppe der anderen gegenüber bevorzugt wird, seine Grundlage entzogen.81 Destabilisierung und Enthierarchisierung der Geschlechterord-
59 S. Chau/Herring (Fn. 16), S. 327 ff.; Kolbe (Fn. 5), S. 219; Maihofer , S. 54; Roeding (Fn. 24), S. 27.
60 S. Büchler/Cottier (Fn. 13), S. 116; Greif (Fn. 5), S. 60.
61 Chau/Herring (Fn. 16), S. 355.
62 Coester-Waltjens, JZ 2010, 852, 856.
63 Greif (Fn. 5), S. 86.
64 S. Maihofer (Fn. 12), S. 54.
65 S. Coester-Waltjens, JZ 2010, 852, 854.
66 S. Greif (Fn. 5), S. 6 ff; Roeding (Fn. 24), S. 27; Wetterer (Fn. 54), S. 123.
67 Im zuvor verfolgten Ein-Geschlechter-Modell wird die Vagina beispielsweise als nach innen gestülpter Penis verstanden, s. hierzu: Büchler/Cottier (Fn. 13), S. 118; Maihofer (Fn. 12), S. 22; S. 101.
68 S. Schmitz (Fn. 52), S. 14.
69 S. Schmitz (Fn. 52), S. 18.
70 Fausto-Sterling, Gefangene des Geschlechts?, 1988, S. 22; Schmitz , S. 17. Ausführlich zum Verhältnis von Feminismus und Naturwissenschaften: Code, in: Davis et al. (Hrsg.), Handbook of Gender and Women’s Studies, 2006, S. 152 ff.
71 So formuliert bei Greif (Fn. 5), S. 66.
72 Zur Verknüpfung von konstruierten Kategorien und Geschlechterhierarchien: Baer, in: Becker/Kortendiek (Hrsg.), Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung, 2004, S. 646; Code, (Fn. 70), S. 147; Elsuni, in: Behmenburg (Hrsg.), Wissenschaf(f)t Geschlecht, 2007, S. 136; Lorber , S. 32 ff.; West/Zimmermann (Fn. 34), S. 144.
73 S. Ridgeway/Correll (Fn. 38), S. 523; Rismann (Fn. 33), S. 446.
74 S. Cottier, Feminist, transgender and intersex visions of a gender-free society and the legal category of sex, Paper presented at the annual meeting of The Law and Society Association, TBA, Berlin, Germany, July 25, 2007, S. 2; Lorber, Davis et al. (Hrsg.), Handbook of Gender and Women’s Studies, 2006, S. 469; Maihofer , S. 65.
75 Durch Gesetzesänderung vom 7.5.2013 wurde § 22 Abs. 3 PStG eingefügt: Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.
76 Zur kategorisierenden Wirkung des Rechts: Butler (Fn. 16), S. 17 f.; Engel, in: AG Queer Studies (Hrsg.), Jenseits der Geschlechtergrenzen, 2001, S. 354; Holzleithner , S. 202; Naffine, in: James/Palmer (Hrsg.), Visible Women, 2002, S. 70.
77 S. Littleton, California Law Review 4 (1987), S. 1279, 1332.
78 S. Frey/Dingler (Fn. 10), S. 21.
79 S. Büchler/Cottier (Fn. 13), S. 125; Mann (Fn. 10), S. 405; Rismann , S. 446.
80 Unter dem Begriff der Queer Theory werden Denkansätze zusammengefasst, die sich gegen das Konzept einer stabilen zweigeschlechtlichen Ordnung richten, vgl. hierzu näher Greif (Fn. 5), S. 70 f.; McHugh , S. 108 f.; McKenna/Kessler (Fn. 33), S. 348 f.; Rauschenberg , S. 8; Rendtdorff (Fn. 10), S. 229.
81 Engel (Fn. 76), S. 350; Faulstich-Wieland (Fn. 2), S. 103; Risman et al. , S. 13.
nung (undoing gender82, degendering83) gehen nach dem konstruktivistischen Ansatz also Hand in Hand.84 Die Forderung an das Recht lautet, auf den Geschlechterbegriff zu verzichten.85
C. Das feministische Dilemma
I. Für die Abschaffung des Geschlechterbegriffs im Recht
Ist ein solcher Verzicht auf Geschlecht als Rechtskategorie tatsächlich eine erstrebenswerte Zukunftsvision? Maßstab für die Beantwortung dieser Frage bildet die Wahrung von Autonomie: Dient die Geschlechtergleichstellung der Sicherung gleicher Freiheit zur Selbstverwirklichung, so ist entscheidend, ob eine Geschlechtszuordnung die Möglichkeiten für die individuelle Lebensgestaltung ausweitet oder aber im Gegenteil einschränkt.
Gegen das Konzept des degendering und damit auch gegen ein Recht ohne Geschlecht wird angeführt, dass die Geschlechtszuordnung eine wichtige strukturierende Funktion in unserer Gesellschaft einnehme.86 Genderspezifische Sozialnormen verleihen Status und Identität87, können Spaß, Genuss und Phantasie mit sich bringen.88 Der Abbau von Geschlechterdifferenzen wäre folglich eine unwillkommene schädliche Nivellierung.89
Wie jedoch oben ausgeführt, ist die Einwirkung von gender-Normen für den Menschen nicht steuerbar, sodass vermeintlich freie, individuelle Entscheidungen überformt werden.90 Wer sich den Rollenerwartungen nicht anpasst, riskiert Ablehnung und den Verlust sozialer Anerkennung.91
Wird von jedem Menschen verlangt, sich einem mit spezifischen Rollenerwartungen verknüpften Geschlecht zuzuordnen, so beinhaltet dies eine dem Selbstverständnis des modernen Rechts widersprechende Zwangskategorisierung.92 Die selbstbestimmte Entfaltung, die durch die Grundrechte gerade geschützt werden soll, wird erheblich beschränkt. Mit der Abschaffung der Geschlechterkategorien würde folglich die Autonomie der Rechtssubjekte gestärkt.93
II. Für den Erhalt des Geschlechterbegriffs im Recht
Es wurde dargestellt, dass durch den Verzicht auf das Geschlecht als rechtliche Kategorie die Festschreibung eines binären Geschlechtermodells und die damit verbundene Perpetuierung hierarchisierender Geschlechterrollen vermieden werden können.94 Damit scheint es einleuchtend, den Geschlechterbegriff zum Ziel der Geschlechtergleichstellung aus dem Recht zu eliminieren. Andererseits bestehen schützenswerte Interessen an der Aufrechterhaltung der rechtlichen Kategorie des Geschlechts:
Soll das Recht als Instrument zur Durchsetzung politischer Zielvorstellungen wirksam werden, so muss es an reale soziale Tatsachen anknüpfen.95 Das herrschende Alltagswissen geht von der Existenz zweier biologischer Geschlechter aus, die es mit den entsprechenden Assoziationen und Rollenerwartungen verbindet.96 Existieren die Menschen derzeit faktisch als Frauen und Männer und werden in ihren Geschlechterrollen unterschiedlich wahrgenommen und behandelt, dann darf dieser Umstand vom Recht nicht ignoriert werden.97 Auch eine sozial konstruierte Realität bleibt eine Realität, welche das Leben der Menschen bestimmt.98 Ein gänzlicher Verzicht des Rechts auf Geschlechterkategorien ließe das Problem ungelöst, dass Frauen de facto in vielen Bereichen gerade aufgrund ihrer Geschlechterrolle benachteiligt werden. Ohne das Rekurrieren auf den Geschlechterbegriff könnte diesen unterdrückten Perspektiven rechtlich nicht begegnet werden: Schutzmöglichkeiten entfielen und eine effektive Bekämpfung der Diskriminierung würde unmöglich.99 Auch gerichtlich könnte nicht mehr gegen Diskriminierungen vorgegangen werden.100
III. Problemstellung
Damit ergibt sich für das Recht das sogenannten feministische Dilemma101: Es muss Frauen gezielt vor struktureller Diskriminierung schützen, um ihre faktische Gleichstellung zu sichern. Gleichzeitig führt aber die Verwendung der Kategorie Frau zur Stabilisierung der binären Geschlechterordnung. Das Recht muss also aktiv der Benachteiligung von Frauen entgegen wirken und hierzu Regeln festschreiben, darf aber gleichzeitig die vorhandenen Hierarchieverhältnisse nicht fortschreiben.102 Können diese Anforderungen miteinander in Einklang gebracht werden? Kann das Recht Geschlechtergleichstellung produzieren und gleichzeitig darauf hinarbeiten, den Geschlechterbegriff zu eliminieren?103
D. Lösungsansätze
Als Strategie für die Nutzung des Rechts als Instrument zur Geschlechtergleichstellung empfiehlt sich die Leitlinie: So viel Geschlecht wie nötig, so wenig Geschlecht wie möglich.
82 So der Begriff bei Butler, Undoing gender, 2004, S. 1.
83 So der Begriff bei Cottier (Fn. 74), S. 1.
84 S. Engel (Fn. 76), S. 346 ff.; Lorber (Fn. 28), S. 293.
85 S. Maihofer (Fn. 13), S. 168; Risman et al. (Fn. 27), S. 12.
86 S. Butler (Fn. 82), S. 176.
87 S. Eckes (Fn. 37), S. 168; Lorber (Fn. 74), S. 470; S. 9.
88 S. Butler (Fn. 82), S. 214; Engel (Fn. 76), S. 359; Rismann , S. 446.
89 Zu Ansätzen des Differenzfeminismus vgl. Dominijanni , S. 144 ff.; Gilligan, Die andere Stimme, 1991, S. 21 ff. Aus der Perspektive des Differenzfeminismus sind die in der westlichen Gesellschaft bestehenden Rechtssysteme als Produkte einer patriarchalen Ordnung abzulehnen.
90 S. Crompton (Fn. 28), S. 263; Gildemeister (Fn. 30), S. 133; Lorber , S. 470.
91 S. Büchler/Cottier (Fn. 13), S. 124 ff.; Eckes (Fn. 37), S. 165; Kolbe , S. 225; Lenz (Fn. 10), S. 48.
92 S. Büchler/Cottier (Fn. 13), S. 125; Engel (Fn. 76), S. 348; Frey/Dingler (Fn. 10), S. 20; Kolbe (Fn. 5), S. 219.
93 S. Cottier (Fn. 74), S. 6.
94 Frey/Dingler (Fn. 10), S. 20; Kolbe (Fn. 5), S. 222; Schmidt , Rn. 22.
95 Zum Verhältnis von Recht und Realität: Baurmann, Analyse & Kritik 15, (1993), S. 36 ff.
96 S. Holzleithner (Fn. 3), S. 206; Schmidt (Fn. 6), Rn. 20.
97 S. Evans, Davis et al. (Hrsg.), Handbook of Gender and Women’s Studies, 2006, S. 474.
98 Die Bedeutung des Geschlechts in der tatsächlichen Lebenswelt betonend: Greif (Fn. 5), S. 74; Maihofer (Fn. 13), S. 184.
99 S. Büchler/Cottier (Fn. 13), S. 131; Holzleithner (Fn. 3), S. 216; Maihofer , S. 365; Schmidt (Fn. 6), Rn. 23.
100 Kolbe (Fn. 5), S. 222.
101 Zu diesem Konflikt: Cottier (Fn. 74), S. 6; Faulstich-Wieland , S. 103; Greif (Fn. 5), S. 81; Kolbe (Fn. 5), S. 220; Schmidt , Rn. 22.
102 S. Baer (Fn. 72), S. 647.
103 Zur Frage, ob das Recht auf den Begriff des Geschlechts verzichten kann, s. Büchler/Cottier (Fn. 13), S. 131 f.; Chau/Herring (Fn. 16), S. 357; Cottier (Fn. 74), S. 5 ff; Engel (Fn. 76), S. 358; Holzleithner , S. 202; Kolbe (Fn. 5), S. 220.
Werden nun Ideen zur Umsetzung dieses Konzepts unterbreitet, so erfolgt dies ohne den Anspruch, die vorgeschlagenen Maßnahmen in ihren sämtlichen Auswirkungen, Chancen und Risiken zu erfassen. Vielmehr beschränkt sich der Blickwinkel auf die Frage, ob die Vorschläge zur Geschlechtergleichstellung nach der hier entwickelten Vorstellung beitragen können.
I. Gleichstellung ohne Geschlechterbegriff
1. Anknüpfung an geschlechtsneutrale Begriffe
Durch die grundsätzlich bestehende Pflicht zur Zuordnung zu einem Geschlecht im Geburtenbuch (§ 21 I Nr. 3 PStG) wird die Vorstellung einer binären Geschlechterordnung verfestigt.104 Diese Zuordnungspflicht sollte deshalb vollständig abgeschafft werden.105
Als Folge müssen Rechtsnormen auf das Geschlecht als Anknüpfungspunkt verzichten. Stattdessen könnte an funktionsbezogene Begriffe angeknüpft werden, welche die jeweils als regelungsbedürftig empfundenen Lebensrealitäten beschreiben.106
So verlangt beispielsweise das Rechtsinstitut der Ehe in seiner jetzigen Form einen Bund zwischen Mann und Frau107 und bestätigt dadurch das binäre System der Zweigeschlechtlichkeit und das Konzept der Heteronormativität.108 Anstelle der Verschiedengeschlechtlichkeit könnte an die Bereitschaft zur Übernahme gegenseitiger Verantwortung angeknüpft werden. Hierdurch entstünde ein Rechtsinstitut, das einen offenen rechtlichen Rahmen für diverse Lebensgemeinschaften schafft.109
2. Strukturelle Veränderungen
Strukturelle Diskriminierungen bestehen dann, wenn die praktische Nutzung von Regelsystemen zur Benachteiligung von Frauen in ihrer sozialen Rolle führt.110 So sind zahlreiche Normen des Arbeitsrechts auf männliche Normalbiographie, -bedürfnisse und -wertvorstellungen zugeschnitten.111
Die Aufgabe des Rechts besteht im Abbau derartiger Strukturen.112 Arbeitsrechtliche Regelungen müssen so ausgestaltet werden, dass die Erwerbsarbeit vereinbar mit Erziehungs- und Pflegeaufgaben ist.113 Dies könnte beispielsweise durch verstärkte Förderung von Teilzeitregelungen und Modellen flexibler Arbeitszeit geschehen.114 Auf diese Weise sichert die Rechtsordnung die Freiwilligkeit bei der Entscheidung für oder gegen bestimmte Rollenwahlen ab.115
II. Gleichstellung mit Geschlechterbegriff
1. Diskriminierungsschutz und Frauenförderung als regelungsbedürftige Bereiche
Wo eine Diskriminierung aufgrund weiblicher Geschlechterrollen faktisch stattfindet, muss der Gesetzgeber mit geeigneten rechtlichen Regelungen intervenieren.116 Darüber hinaus sind in bestimmten Bereichen gezielte Förderungsmaßnahmen nötig: Wenn in Institutionen deutlich ungleiche Geschlechterverhältnisse vorherrschen, sollte der Gesetzgeber tätig werden.117 Dies gilt beispielsweise für die Unterrepräsentation von Frauen in Führungspositionen in Politik und Wirtschaft. Quotenregelungen118 und gender mainstreaming119 sind denkbare, im Einzelnen freilich sehr umstrittene Maßnahmen. Auf eine detaillierte Darstellung dieser Konzepte wird hier verzichtet. Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Frage, wie der Geschlechterbegriff im Bereich der Antidiskriminierung und Frauenförderung gefasst werden könnte, um autonomiebeschränkende Festschreibungen möglichst zu vermeiden.
2. Geschlechterbegriff als Zuschreibung
Zur Erreichung von Gleichstellung erscheint es sinnvoll, mit dem Begriff des Geschlechts ähnlich wie mit dem der Rasse umzugehen.120 Das Geschlecht sollte nicht als Faktum, sondern als eine zum wirksamen Diskriminierungsschutz unerlässliche necessary fiction121 verstanden werden. Eine solche Konzeption des Geschlechts als Zuschreibung (ascription122) hebt hervor, dass die rechtliche Kategorisierung auf menschlicher Konstruktion beruht und insofern keinen absoluten Wahrheitsanspruch erhebt.123 Das Recht ginge mit dem Problem offen um: Menschen werden in unserer Gesellschaft anhand zugeschriebener Rollen klassifiziert, diese Klassifizierungen stehen in einer Hierarchie zueinander und eben dieses Über-Unterordnungsverhältnis gilt es abzubauen.124
Ist in der Praxis die Feststellung des Geschlechts zur Anwendung einer Rechtsnorm des Antidiskriminierungsrechts erforderlich, so könnte nicht auf eine Registrierung im Geburtenbuch zurückgegriffen werden. Stattdessen wäre nach dem Konzept der Zuschreibung festzustellen, ob eine Benachteiligung aufgrund bestimmter Merkmale oder gesellschaftlicher Positionen geschieht, die nach dem herrschenden Alltagsverständnis als geschlechtsspezifisch gelten. Untersucht werden müsste also im Regelfall, ob die fragliche Diskriminierung aufgrund der angenommenen weiblichen Geschlechterrolle erfolgt. Auch bei Förderungsmaßnahmen von Frauen wäre entscheidend, ob der fraglichen Person das weibliche Geschlecht
104 S. Büchler/Cottier (Fn. 13), S. 131; Cottier (Fn. 74), S. 6; Schmidt , Rn. 21.
105 Büchler/Cottier (Fn. 13), S. 131; Cottier (Fn. 74), S. 6.
106 S. Chau/Herring (Fn. 16), S. 357; Foljanty/Lemke, in: Foljanty/Lemke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2012, § 14 Rn. 12.
107 Dass eine Ehe nur zwischen Mann und Frau geschlossen werden kann, wird zwar im Gesetz nicht ausdrücklich normiert, ist indes einhellige Meinung, s. BVerfGE 105, 313, 342; 115, 1, 19; Kolbe , S. 220; Jarass/Pieroth , Art. 6 Rn. 2.
108 S. Chau/Herring (Fn. 16), S. 341; Coester-Waltjens, JZ 2010, 852, 853; Cottier , S. 3.
109 S. Kolbe (Fn. 5), S. 222.
110 Cordes (Fn. 9), S. 712.
111 Zur fehlenden Neutralität vieler Rechtsnormen: Baer , S. 4; Evans , S. 143; Greif (Fn. 5), S. 124; Maihofer , S. 351.
112 Näher zum Phänomen der mittelbaren Diskriminierung: Baer , S. 643.
113 S. Risman et al. (Fn. 27), S. 21.
114 S. Lorber (Fn. 10), S. 35.
115 S. Coester-Waltjens, JZ 2010, 852, 853.
116 S. Coester-Waltjens, JZ 2010, 852, 853; Engel (Fn. 76), S. 358; Kolbe , S. 223.
117 S. Baer, (Fn. 28), S. 7; Kolbe (Fn. 5), S. 222.
118 Näher zur Quotenregelungen als Maßnahme der Frauenförderung: Cordes , S. 713; Foljanty/Lemke (Fn. 106), Rn. 11; Lorber (Fn. 10), S. 10.
119 Vgl. hierzu Baer, (Fn. 28), S. 5; Cordes (Fn. 9), S. 717; Cossmann , S. 284.
120 Eine Parallele zwischen Geschlechter- und Rassendiskriminierung zieht auch Littleton (Fn. 77), S. 1291 f.
121 S. Mann (Fn. 12), S. 404.
122 S. Cottier (Fn. 74), S. 7.
123 S. Schmidt (Fn. 6), Rn. 22.
124 S. Cottier (Fn. 74), S. 7; Greif (Fn. 5), S. 76; Maihofer (Fn. 12), S. 18.
zugeschrieben wird. Gegen eine solche Geschlechterdefinition ließe sich zwar einwenden, dass sie zu Rechtsunsicherheiten führen könnte. Indes sind wir in der Regel problemlos in der Lage, den uns begegnenden Menschen ein Geschlecht zuzuschreiben. Sollte dies eines Tages nicht mehr der Fall sein, so wäre die Destabilisierung der Geschlechterverhältnisse Wirklichkeit geworden und damit die Schutzbedürftigkeit entfallen.
E. Fazit
Durch seinen direkten Zugriff auf gesellschaftliche Verhältnisse ist das Recht ein besonders wirkmächtiges Instrument zur Realisierung von sozialen Veränderungen.125 Diese Arbeit hat gezeigt, wie das Recht zu einem Wandel im Bereich der Geschlechtergleichstellung beitragen kann: Durch weitgehenden Verzicht auf Geschlechterkategorien lässt es Geschlechtergrenzen und -hierarchien durchlässiger werden. Ergänzt wird diese Strategie durch einen Diskriminierungsschutz, bei dem der Geschlechterbegriff als Zuschreibung konzipiert wird.
125 Zur Gestaltungsmacht des Rechts vgl. Baer (Fn. 72), S. 649; Cossmann , S. 283; Cottier (Fn. 74), S. 1.