13th Bucerius Law Journal Debate
Becker: Meine Damen und Herren, der Begriff ‚Verfassungsschutz‘ ist seit Aufdeckung der vom sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund begangenen Mordserie im November 2011 in aller Munde. Auch das Bekanntwerden der Beobachtung mehrerer Bundestagsabgeordneter der Fraktion der Linken hat für öffentliches Aufsehen gesorgt. In beiden Kontexten wird der Begriff ‚Verfassungsschutz‘ in einem – wenn man so will – organisationsrechtlichen und formalen Sinne verwendet, wenn damit das Amt für Verfassungsschutz, meistens das Bundesamt, oder auch die Landesämter – also umgangssprachlich „der Geheimdienst“ – gemeint ist. Dieses Verständnis wird auch in der heutigen Diskussion, natürlich schon aus Aktualitätsgründen, im Vordergrund stehen. Wir werden versuchen herauszuarbeiten, ob sich der Verfassungsschutz in einer Legitimationskrise befindet und, falls ja, wie darauf politisch und juristisch reagiert werden kann. Darüber hinaus soll der Begriff ‚Verfassungsschutz‘ aber auch in einem weiteren Sinne verstanden werden, das heißt in einem verfassungstheoretischen Sinne. Und wir wollen auch der Frage nachgehen, inwieweit ein freiheitlicher Rechtsstaat sich selbst mit präventiven und/oder repressiven Mitteln schützen kann, ohne dass die dabei gleichsam als Kollateralschäden auftretenden Grundrechtsverletzungen genau das unterminieren, was eigentlich geschützt werden soll, nämlich die freiheitliche Ordnung. Auch in diesem Sinne wollen wir heute fragen, wie viel Schutz die freiheitlich-demokratische Grundordnung braucht und wie viel sie verträgt.
Da wir uns in der glücklichen Situation befinden, vier kompetente Diskutanten begrüßen zu dürfen, muss der
konfrontative Charakter eines Streitgespräches, wie man es bei zwei Diskutanten vielleicht erwartet hätte, natürlich etwas zurücktreten. Ich werde versuchen, dies nach Möglichkeit dadurch zu kompensieren, dass ich hin und wieder den advocatus diaboli spiele und einzelne Diskutanten mit Thesenfragen konfrontiere, die sie möglicherweise zu Widerspruch herausfordern werden. Ob mir das gelingt, wird dann der Verlauf der Diskussion zeigen. Grundsätzlich wollen wir vier Blöcke abhandeln. Zunächst allgemein die Legitimation des Verfassungsschutzes und die gegenwärtige Situation. Dann speziell die Problematik sogenannter V-Leute. Im Weiteren dann die Beobachtung von Parlamentsabgeordneten – speziell im Zusammenhang mit der Linken in die Diskussion geraten – und abschließend, wie gesagt, den Verfassungsschutz in einen weiteren Sinne als verfassungstheoretisches Problem.
Um programmatisch in die Diskussion einzusteigen, möchte ich gerne Herrn Gössner fragen: Die Süddeutsche Zeitung, die ich heute häufiger erwähnen werde, hat zur Diskussion um die mögliche Reform des Verfassungsschutzes folgende Frage aufgeworfen „Umbauen, stärken oder abschaffen?“ Herr Gössner, ich kenne angesichts Ihrer Publikation im Grundriss Ihre Antwort, da wir schon am Anfang darüber gesprochen haben. Aber wenn wir uns diese drei Möglichkeiten „umbauen, stärken, abschaffen“ anschauen, wohin würden Sie tendieren?
Gössner: Na ja, wenn ich es ganz kurz sagen darf, natürlich „auflösen“ und zwar „sozialverträglich auflösen“. Soll ich es auch gleich begründen?
Becker: Sehr gerne.
Gössner: Ich werde es auf jeden Fall einmal versuchen. Die bisherigen Reformvorschläge, die wir von Innenpolitikern und -ministern des Bundes und der Länder so lesen, wagen sich nicht an das eigentliche Problem heran und das eigentliche Problem beim Verfassungsschutz ist die Geheimdienststruktur. Diese Substanz wird nicht angegriffen, sondern es geht offenbar eher darum, die Skandalträchtigkeit zu reduzieren, die Pannenanfälligkeit zu reduzieren und bei der Bevölkerung wieder Vertrauen in die Behörde zu erwecken. Das ist meines Erachtens eher Kosmetik. Wir müssen deswegen an die Substanz des Verfassungsschutzes herangehen, weil der Verfassungsschutz in seiner Ausgestaltung als Geheimdienst, als Inlandsgeheimdienst, meines Erachtens ein Fremdkörper in der Demokratie ist. Warum? Weil er demokratischen Prinzipien, erstens der Transparenz und zweitens der Kontrollierbarkeit, widerspricht. Das ist das große Problem. Deswegen ist er auch so anfällig für Skandale und Machtüberschreitungen und muss auch Verselbständigungstendenzen verzeichnen. Jedenfalls haben sich alle bisherigen Versuche einer wirksamen Kontrolle des Verfassungsschutzes als ungenügend erwiesen; ich meine sogar, sie sind gescheitert und werden mit den jetzt vorliegenden Reformvorschlägen auch weiterhin scheitern.
Becker: Jedenfalls ist dies von den drei Varianten, die die SZ vorgeschlagen hat, eine klare Positionierung. Ich wende mich jetzt dann direkt an Sie, Herr Schmidt-Jortzig. Ihr Kollege Herr Professor Gusy – „Kollege“ kann man sicherlich noch sagen, obwohl Sie ja nicht mehr unterrichten – hat in einem Beitrag für die SZ geschrieben und bestätigt, was Sie, Herr Gössner, im Grunde eben gesagt haben: „Ein transparenter Geheimdienst ist ein Widerspruch in sich.“ Bei ihm führte das allerdings nicht zu der Konsequenz, zu der es bei Ihnen führt, sondern er hielt das Abschaffen nicht für praktikabel. In der Innenministerkonferenz ist diese Variante auch nicht, soweit man das der Presse entnehmen kann, ernsthaft diskutiert worden. Wenn das, was Professor Gusy sagt und was Sie auch sagen, als Beobachtung richtig ist, und wenn wir gleichzeitig offensichtlich einen relativ breiten politischen Konsens dahingehend haben, dass der Verfassungsschutz nicht abgeschafft werden soll, müssen wir dann einfach damit leben, dass das ein rechtsstaatlich nicht wirklich kontrollierter Bereich ist? Und wenn wir das müssen, wie kann dann verhindert werden, dass sich Dinge, wie wir sie jetzt im Zusammenhang mit der NSU erlebt haben und wie sie dann möglicherweise berechtigterweise als „Skandal“ bezeichnet werden, wiederholen; wie können wir sicherstellen, dass so etwas zukünftig nicht mehr passiert?
Schmidt-Jortzig: Ich fühle mich in sehr guter Gesellschaft mit dem – in der Tat – „Kollegen“ Christoph Gusy. Der gute Gusy ist auch einer, der ein wenig von der Praxis versteht. Denn rein theoretisch an die Sache heranzugehen ist mir, glaube ich, zu kurz gesprungen. Also erst einmal die Frage: Brauchen wir einen Verfassungsschutz? Da, glaube ich, gibt es ernsthaft keinen Dissens, dass das notwendig ist. Das kann man heftig beklagen, aber da es nun einmal immer Bestrebungen gibt, die Verfassung abzuschaffen, und vor allem auch Einzelpersonen, die hinreichend auf das Dagegen gebürstet sind und über deren Aggressivität und Radikalität man sich auch keine Illusionen machen sollte, wäre alles andere als ein wirksamer Schutz der Verfassung und überhaupt des Staates unrealistisch. Und das geht eben leider auch nicht in aller Offenheit, denn dann könnte man das vielleicht alles der Polizei überlassen, sondern man muss insbesondere in der Prävention von wirklichen, konkreten Gefahren, die dann die Polizei auf den Plan rufen würden, Informationen haben, um möglicherweise schon vor der konkreten Gefahr tätig werden zu können. Ich gebe dem Kollegen Gusy – ich habe den Artikel nicht gelesen, kenne seine Standpunkte aber hinreichend – auch dahingehend Recht, dass wir also nicht an einem Verfassungsschutz auch im Sinne von Verfassungsschutzämtern, also von irgendeiner administrativen Organisation, die den Verfassungsschutz dann eben heimlich betreibt, vorbeikommen. Und da ich lange genug – allerdings immer auf Bundestagsebene – im parlamentarischen Kontrollgremium wie auch in der G10-Kommission war, weiß ich, dass es natürlich eine Spannungslage, wenn Sie so wollen, oder einen gewissen Gegensatz gibt zwischen dem, was demokratische Kontrolle – also das Öffentlichmachen von Missständen etc. – bedeutet, und dem, was der Verfassungsschutz für seine Arbeit braucht. Ich glaube allerdings, dass wir insbesondere bei der parlamentarischen Kontrolle auf Bundesebene – nur über die spreche ich, die Kollegen aus der Bürgerschaft hier werden das für den Hamburger Bereich viel besser wissen – Vieles noch stark verbessern könnten. Übrigens halte nicht viel von der Aktion, nun alles zu zentralisieren, die Landesämter abzuschaffen und dann das Heil in einer reinen Bundeseinrichtung zu suchen. Es kommt vielmehr darauf an, die Vielfalt zu nutzen, die ja auch Vorteile hat, und nur die Kommunikation untereinander auszubauen. Aber noch einmal: Die parlamentarische Kontrolle ist eine Krux bei der Geschichte. Wann immer Sie in einem dieser Kontrollgremien Kenntnis von einem Missstand bekommen, ist das im Grunde aus der Süd-
deutschen Zeitung oder aus dem Spiegel, jedenfalls von irgendwoher aus der Presse der Fall. Ich habe mal zu früheren Systemzeiten bei dem Instytut Zachodni in der sozialistischen Republik Polen erlebt, dass die da ihre ganze Aufklärung Deutschlands darauf beschränkten, penibel die Presseartikel auszuwerten und danach sagten, sie wüssten alles, sie bräuchten also keinen Auslandsgeheimdienst. Also man kriegt es eigentlich erst mit, wenn man kritisch und täglich die Zeitung liest und dann nachfragt: „Was ist denn dran?“ Aber dann gibt es natürlich die institutionellen Vorkehrungen, dass erst einmal gemauert wird und keine Blicke in die Akten zugelassen werden. An dieser Stelle lässt sich viel verändern: Erstens, was die frühe Informationsmöglichkeit anbelangt – möglichweise durch ein eigenes Zugangsrecht in die Behörde, zu den Akten. Zweitens, was das Nachprüfen betrifft. Und das Dritte, das war immer das, mit dem ich jedenfalls dann auch heftig laboriert habe: Wie gehe ich mit Kenntnissen von Missständen – offensichtlichen oder möglichen – um? „An die große Glocke hängen“ ist auch aus strafrechtlichen Gründen nicht möglich, das wäre Geheimnisverrat. Man ist selbst als Mitglied eines solchen Gremiums speziell zur Geheimhaltung verpflichtet. Also ist an diesem Punkt die parlamentarische Kontrolle eigentlich blockiert. Es gibt dann verschiedene Umwege: Jede Fraktion hat ihren Geheimschutzbeauftragten, dem kann man also die Dinge mal sagen und darauf setzen, dass dann vielleicht von da schon mal die ersten Informationen jedenfalls an Fraktionsführungen kommen. Wenn die dann gezielt nachfragen können im Parlament, hat man auch die Gelegenheit, darauf einzugehen. Aber noch einmal: Für mich liegt das entscheidende Reformbedürfnis bei der Stärkung der parlamentarischen Kontrolle. Wenn die einigermaßen gesichert ist, so weit wie irgend möglich, dann ist auch der noch verbleibende Dissens zwischen Geheimhaltung für die Nachrichtendienste und Offenlegung für die demokratische Kontrolle verträglich und zumutbar.
Becker: Vielen Dank, das war sozusagen jetzt aus justizpolitischer Sicht, wenn wir es jetzt mal…
Schmidt-Jortzig: Nö, auch aus Praktikersicht.
Becker: …und auch aus Praktikersicht. Herr Ahlhaus, als Innenpolitiker – ehemaliger und jetzt-auch-wieder Innenpolitiker: Wenn man sich klarmacht, dass mit der Variante, die hier mit „Abschaffung“ so schlagwortartig umschrieben wird, sicherlich nicht gemeint ist, sämtliche Bekämpfung von verfassungsfeindlichen Tendenzen aufzugeben, sondern eine ausformulierte These wohl eher dahin gehen würde, dass man natürlich weiterhin Staatsschutz betreibt, dies aber eben eingliedert in die Polizei oder andere Behörden, die einfach rechtsstaatlich besser kontrolliert werden können – wäre diese Variante dann trotzdem ein Alptraum für Innenpolitiker?
Ahlhaus: Also ich habe grundsätzlich ein großes, großes Vertrauen in unsere Polizeibehörden und deswegen ist es für mich kein Alptraum, wenn Aufgaben bei der Polizei sind. Nur: Wir haben in Deutschland aus guten Gründen ein Trennungsgebot. Es ist Mode geworden, immer wenn irgendwo etwas schiefläuft, wenn Fehler passieren, gleich die ganz große Keule rauszuholen und zu sagen: „Die Behörde muss man abschaffen, diese Strukturen müssen gänzlich geändert werden.“ Ich glaube, dieses Thema verdient eine differenzierte Betrachtung; die wollen wir auch anstellen. Dabei, glaube ich, hilft es nicht weiter, wenn man einfach sagt, „Abschaffen!“, und schaut, wer es denn dann macht. Denn eines ist klar, und darüber sind wir uns, glaube ich, wirklich alle einig – so, wie Sie es eben auch angesprochen haben: Dass verfassungsfeindliche Tendenzen den demokratischen Rechtsstaat beschädigen können, gefährden können oder auch sogar beseitigen wollen; dass ein Staat dafür Sorge tragen muss, dass solche Tendenzen frühzeitig erkannt werden und präventiv dagegen vorgegangen wird – da, glaube ich, gibt es auch keinen Dissens. Ich sehe es auch nicht wie Herr Dr. Gössner, der gesagt hat, er empfinde den Verfassungsschutz – korrigieren Sie mich, wenn ich Sie da falsch zitiere – als „Fremdkörper in einer Demokratie“, weil er der gebotenen Transparenz oder parlamentarischer Kontrolle oder was nicht entspreche. Ich sehe es genau andersherum: Für mich ist eine Institution – ob sie nun „Verfassungsschutz“ oder anders heißt –, die Hüterin über die Verfassung ist und damit des wichtigsten Rechtsguts und auch der Grundrechte, kein Fremdkörper in der Demokratie, sondern gerade ganz elementarer Bestandteil des Schutzes dieser Demokratie. So war es mal gedacht und so soll es auch sein. Dass auch in dieser Behörde, wie wir gesehen haben, Fehler passieren, die auch unentschuldbar sind, die zu Recht nicht nur Verärgerung hervorrufen, sondern auch Widerspruch, ist eine Sache, die ja nicht speziell nur beim Verfassungsschutz zu beobachten ist. Also nehmen Sie mal das aktuelle Thema weg, versetzen Sie sich zwei Jahre zurück und überlegen Sie mal, ob da das Bundesamt für Verfassungsschutz das große Thema in der öffentlichen Diskussion war. Das habe ich nicht so wahrgenommen. Man kann natürlich darüber streiten, ob es in den Strukturen dieses Amtes möglicherweise Verbesserungsbedarf gibt. Und damit meine ich nicht nur das Bundesamt, sondern auch die Landesämter und vor allem auch die Zusammenarbeit zwischen den Behörden. Da kann ich auch aus eigener Erfahrung sagen: „Ja, da läuft vieles nicht optimal.“ Und da würde ich sagen – der Dreiklang war ja „Abschaffen, Stärken oder…“, was war es nochmal genau?
Tabbert: „Umbauen“.
Ahlhaus: Genau. Ich würde sagen: „Stärken durch Umbauen“. Nicht durch eine Erweiterung von irgendwelchen Kompetenzen, die noch mehr Grundrechte einschränken, sondern das, was da ist an Rechten, so effektiv nutzen, dass auch der eigentlichen Aufgabe einer solchen Behörde, nämlich verfassungsfeindliche Tendenzen früh zu erkennen und ihnen vorzubeugen und sie im Keim zu ersticken, besser und effektiv nachgekommen werden kann. Wogegen ich mich ein bisschen wehre, ist, dass immer gesagt wird: „Naja, das sind alles so Geheimdienste, die sind per se etwas Schreckliches, weil sie nicht transparent sind – und da, wo etwas nicht transparent ist, sind irgendwelche bösen Leute am Werk, die können ja nichts Gutes mit unserer Verfassung im Sinn haben.“ Also, viele Dinge kann man nun einmal nicht – wenn man sie effektiv machen will – an die große Glocke hängen. Und das hat nichts damit zu tun, dass irgendwelche bösen Mächte da etwas verdecken wollen, sondern dass gewisse Aufgaben nicht sofort und in aller Breite in der Öffentlichkeit diskutiert werden können. Wenn man dann sagt, die parlamentarische Kontrolle durch die Kontrollgremien sei nicht ausreichend oder sie werde einer demokratischen Legitimation nicht gerecht, dann geht mir dieser Angriff zu weit. Ich gebe Ihnen Recht, in der politischen Auseinandersetzung und in der Bewertung sind Medien natürlich von ganz erheblicher Bedeu-
tung und auch nicht wegzudenken. Sie sind ein scharfes Schwert. Aber ich glaube schon, dass wir in unserem Bundestag genauso wie in unseren Landesparlamenten Abgeordnete haben, die in den Kontrollgremien sitzen, die dieser Verantwortung auch gerecht werden. Ich bin dafür, dass wir in der Tat über Umbau reden und Umbau zur Effizienzsteigerung nutzen. Nur ich befürchte, die Effizienzsteigerung – die ich mir wünschen würde und die ich mir auch in meiner Amtszeit als Innensenator und Innenstaatsrat gewünscht hätte, damit diese Behörden effektiver und besser zusammenarbeiten, um ihren Aufgaben auch besser gerecht werden zu können – diese Effizienzsteigerung würde eine neue Diskussion hervorrufen. Denn was heißt „effektiv zusammenarbeiten“ – was alle als Zauberwort sagen? Das heißt ja auch miteinander zu kommunizieren, das heißt ja auch Erkenntnisse auszutauschen. Und dann hat man sofort wieder Diskussionen über Datenschutzbelange und auch über Grundrechtseingriffe auf einer anderen Ebene. Deswegen, glaube ich, tun wir gut daran, bei aller kritischen Überprüfung dessen, was da schiefgelaufen ist, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten und diese Institutionen, die sich im Übrigen über Jahrzehnte bewährt haben, abzuschaffen. Wir müssen stattdessen genau hinschauen, wie wir sie umbauen können, damit sie im Verbund besser arbeiten können. Und jetzt sage ich etwas, was für einen Landespolitiker ungewöhnlich ist: Ich glaube auch – und ich bin überhaupt kein Freund von Zentralismus –, dass man in gewissen Dingen, die ein bundesweites Phänomen sind – ob das Rechtsradikalismus ist, ob das anderer Terrorismus ist, der nicht auf eine Stadt oder auf ein Bundesland beschränkt ist – vielleicht durch eine neue Kompetenzabgrenzung, nicht unbedingt unter Aufgabe jeglicher föderaler Prinzipien, mit Blick auf Effizienz dazu kommen muss, dass nicht 16 Landesämter und ein Bundesamt sozusagen im gleichen Brei rühren, dasselbe machen und nicht voneinander wissen, sodass sich dann zum Beispiel V-Leute gegenseitig beobachten. Da ist, glaube ich, erheblicher Bedarf zur Verbesserung, aber nicht in der Form, dass man sagt: „Da ist ein Fehler passiert und deswegen hat sich diese Institution insgesamt nicht bewährt.“
Becker: Vielen Dank. Eine letzte Grundsatzpositionierung, die ich auch mit einer Frage einleiten möchte: Bei meiner Vorbereitung auf diese Veranstaltung habe ich aus den Reihen der SPD durchaus unterschiedliche Äußerungen vernommen. Es gab kurz vor dem Eckpunktepapier der Innenministerkonferenz ein Eckpunktepapier der Bundestagsfraktion, in dem mehr Kompetenzen für das Bundesamt gefordert wurden. Der Innenminister aus NRW Herr Jaeger hat im Zusammenhang der Innenministerkonferenz dann gesagt, er sei “gegen eine zentralistische Megabehörde und für mehr parlamentarische Kontrolle vor Ort“. Und der Innenminister von Brandenburg hat noch das sogenannte Brandenburger Modell ins Gespräch gebracht, wonach der Verfassungsschutz keine eigenständige Behörde, sondern eine Abteilung im Innenministerium sein soll. Herr Tabbert, wenn Sie sich programmatisch positionieren würden, wo würden Sie sich da einordnen wollen, oder auch gerne ganz woanders?
Tabbert: Um zunächst auf Herrn Gössner einzugehen: Ich bin ein großer Anhänger von Transparenz – weil Sie sagten, der Verfassungsschutz passe nicht so recht in die Demokratie; ich habe vor ein paar Monaten ganz wesentlich auch innerhalb meiner eigenen Partei und Fraktion dafür gekämpft, dass wir das Transparenzgesetz bekommen in Hamburg. In der Initiative waren übrigens auch Parteien wie Die Linke oder die GAL drin, am Ende haben wir das fraktionsübergreifend entschieden und sind damit Transparenzhauptstadt Deutschlands. Nicht mal die Initiatoren dieses Transparenzgesetzes haben in den Paragraphen, die sie formuliert haben und an denen wir dann in dem gesetzgeberischen Prozess in der Bürgerschaft auch rumgebastelt haben, jemals gefordert, dass man sozusagen Geheimschutz, den der Verfassungsschutz genießt, aufheben sollte. Ich glaube, bloß weil etwas ganz offensichtlich – wie in dem Fall NSU – nicht funktioniert hat, kann man ja nicht sagen, dass man das Ganze abschafft, denn die Gefahren bestehen ja weiterhin. Und man kann nicht sagen, das sei ein Fremdkörper in der Demokratie; Feinde der Demokratie sind auch oft Fremdkörper in der Demokratie und man muss natürlich auch schauen, dass man denen mit einer gewissen Waffengleichheit gegenübertritt. Denn Demokratie bedeutet auch, dass man die Rahmenbedingungen, innerhalb derer Demokratie stattfindet, schützen und stärken muss. Es geht wie immer um den großen Ausgleich, den wir Innen- und Rechtspolitiker häufig vornehmen müssen, zwischen Freiheit und Sicherheit und diese bedingen sich ja, wie wir wissen, gegenseitig. Deswegen kann es aus meiner Sicht nicht um eine ernsthafte Debatte der Abschaffung gehen. Ich glaube, in meiner Partei führte diese Debatte auch niemand. Es geht dann darum – und es wäre spannend, das heute vielleicht mal rauszuarbeiten –, wo man den Verfassungsschutz verbessern kann. Man muss sich mal anschauen: Was ist denn dort schiefgelaufen bei dem Komplex NSU? Das waren doch in erster Linie zwei Punkte. Einerseits, der Einsatz der V-Leute, der ja offensichtlich nicht so richtig gut funktioniert hat, um das mal ganz vorsichtig zu sagen. Und das Zweite war, dass offensichtlich die Zusammenarbeit der verschiedenen Verfassungsschutzbehörden von verschiedenen Bundesländern und eben auch des Bundes nicht richtig funktionierte. Die Probleme hatten Sie ja auch schon angesprochen. Es gibt, wie gesagt, Vorschläge, die die Bundestagsfraktion der SPD hierzu gemacht hat, die durchaus auch vorsehen, dass man Kompetenzen auch des Bundesamts für Verfassungsschutz dahingehend stärkt: Bisher besteht kein Selbsteintrittsrecht; das Bundesamt kann in einzelnen Bundesländern nur tätig werden, wenn die entsprechenden Bundesländer damit einverstanden sind. Ein Selbsteintrittsrecht würde ja tatsächlich auch zu mehr Macht führen, aber ich weiß nicht, ob das der Weisheit letzter Schluss ist. Wichtig ist, dass man schaut: Gibt es irgendwo eine Übersicht über alle Quellen, die dort im Einsatz sind? Denn – das hatten ja meine beiden Vorredner auch schon angesprochen – ein großes Problem war doch, dass da verschiedene Verfassungsschützer und Verfassungsschutzbehörden in verschiedenen Töpfen rumgerührt haben, ohne dass sie voneinander wussten. Also muss man doch schauen, wie man den Austausch von Informationen, die Vernetzung von Informationen, letztlich verbessert. Das muss aus meiner Sicht Ziel sein. Dann war auch noch eine Frage, die der demokratischen Kontrolle: Absolute Transparenz geht nicht, aber es muss natürlich ein Maximum an Rechtsstaatlichkeit gewährleistet werden; das heißt, wir müssen schauen, dass wir vielleicht Rechtsgrundlagen, insbesondere für den Einsatz von V-Leuten, erst einmal schaffen. Bisher sehe ich in den meisten Gesetzen nur, dass es die V-Leute einmal so gibt – aber wann
sie zum Einsatz kommen, unter welchen Kriterien sie zum Einsatz kommen – gibt es dort eventuell sogar Ausschlusskriterien? Darf das sozusagen jeder machen? Was passiert mit dem Geld, das die V-Leute bekommen? Kann dadurch auch Schaden verursacht werden, werden womöglich extremistische Strömungen dadurch aufgebaut, durch Gelder von V-Leuten? All das war ja im Raum. Dort sollten wir durch differenziertere, genauere, bestimmtere Rechtsgrundlagen Kontrolle schaffen, aber auch – und das ist ein Vorschlag, den ich sehr vernünftig finde, der hier von meiner Bundestagsfraktion, also der SPD, gemacht wurde – jedenfalls ab einem gewissen Tätigkeitsumfang sicherstellen, dass man diese V-Leute zusätzlich kontrolliert, dass zum Beispiel das G10-Gremium über den Einsatz entscheidet und man so nochmal eine zusätzliche Rückkoppelung hat. Also ich habe auch immer großes Vertrauen in die Polizei und ich habe auch großes Vertrauen in Abgeordnete und die Justiz. Aber deswegen nur gegenseitig Vertrauensbekundungen auszusprechen, reicht ja nicht, sondern wir müssen natürlich auch schauen, dass entsprechend Gewaltenteilung vorhanden ist und ebenso die Kontrolle der unterschiedlichen Gewalten. Unsere Diskussion sollte sich einerseits daran ausrichten, wie man die demokratische und rechtsstaatliche Kontrolle des Verfassungsschutzes verbessert, und als anderen Komplex ansprechen, wie man den Verfassungsschutz effektiver gestaltet.
Becker: In einer zweiten Runde würde ich Sie bitten, die Statements zu verkürzen und zu den vorangegangen Statements Stellung zu beziehen.
Gössner: Vielen Dank. Ich halte es für falsch, wenn man im Zusammenhang mit den NSU-Skandalen von einem „Fehler“ redet. Das ist meines Erachtens kein Fehler mehr, sondern das ist erheblich mehr. Meines Erachtens sind es ideologische Scheuklappen, es ist Ignoranz gegenüber dem neonazistischen Spektrum und der Gewaltbereitschaft dieser Szenen. Es hat sich gezeigt, dass hier der Verfassungsschutz systematisch verdunkelt hat. Systematisch und absichtlich, wie der Schäfer-Bericht (2012) aus Thüringen auch ganz deutlich zeigt. Erkenntnisse über strafbare Handlungen etwa wurden nicht an die Polizei weitergeleitet, sondern es wurden sogar im Gegenteil V-Leute, die straffällig wurden, gegenüber der Polizei beschützt. Ich habe ein ganzes Buch über diese V-Leute geschrieben und musste Schauerliches erleben. Ich selber habe auf politischer Ebene in Niedersachsen in rot-grünen Zeiten der frühen 90er Jahre versucht, den dortigen Verfassungsschutz rechtsstaatlich zu zähmen. Ich war damals wissenschaftlicher Berater der grünen Regierungsfraktion und wir haben ein Gesetz geschaffen, dass als liberalstes Geheimdienstgesetz innerhalb Europas galt, das es jemals gegeben hat. Wir haben die Hürde hochgeschraubt, ab der der Verfassungsschutz überhaupt tätig werden konnte. Die gesamte Gesinnungsschnüffelei, die wir derzeit leider erleben, ist ausgeklammert worden. Erst ab der Ebene der Gewaltförmigkeit oder der Gewaltorientierung konnte der Verfassungsschutz überhaupt tätig werden. Das ist immerhin ein Versuch, diese Ausuferung, die wir auch über die Jahrzehnte immer wieder erleben mussten, zu reduzieren, und wir haben die Kontrolle erheblich verbessert. Warum ist es immer noch nicht so, dass jede Fraktion einen Sitz im parlamentarischen Kontrollgremium hat? Warum gibt es kein Minderheitenrecht, um Kontrollen zu beantragen? Bisher ist es immer die Regierungsmehrheit, die eine Kontrolle anstoßen muss. Wie ist damit eine unabhängige und effiziente Kontrolle zu gewährleisten? All dies haben wir damals in Niedersachsen hinbekommen. Der andere Bezugspunkt zum Verfassungsschutz ist meine eigene Befangenheit. Ich wurde vier Jahrzehnte vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet, beginnend in meiner Studentenzeit bis hin zu meiner Funktion 2008 als stellvertretender Richter am Staatsgerichtshof in Bremen. Eine rekordverdächtige Dauerüberwachung, die 2011 nach einem fünfjährigen Rechtsstreit als von Anfang an rechtswidrig eingestuft wurde. Ich war schockiert, mit welcher ideologischen Verbissenheit und Ausdauer der Verfassungsschutz gegen mich und andere Personen und Gruppen der Linken vorging, während sich in der gleichen Zeit Neonazis und rechter Terror entwickelt haben. Da stimmt meiner Meinung nach etwas nicht mehr. Es ist schon rekordverdächtig, wenn einer Bundesbehörde ein 40-jähriges verfassungswidriges Handeln von einem Gericht bescheinigt wird. Das bringt mich zu dem Punkt, dass ich diesen Verfassungsschutz nicht für mit der Verfassung vereinbar halte. Sowohl von seiner ganzen Grundstruktur her als auch von seiner Tätigkeit über die Jahrzehnte hinweg. Nehmen wir die Kommunistenverfolgung oder auch die Berufsverbote, Perioden staatlicher „Feindbekämpfung“, in denen der Verfassungsschutz immer eine zentrale Rolle spielte. Die Geschichte des Verfassungsschutzes kann man schreiben als eine Geschichte von Skandalen und Bürgerrechtsverletzungen. Und wenn man das aufdröseln würde, käme man kaum dahin zu sagen, dass dieser Verfassungsschutz „Hüter der Verfassung“ ist. Hüter der Verfassung ist eine andere Institution. Das ist nämlich das Bundesverfassungsgericht. Und wie viele Gesetze musste das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren für verfassungswidrig erklären? Wo war da der Verfassungsschutz, frage ich mich. [Raunen im Plenum] Was ich damit sagen möchte, ist, dass der Verfassungsschutz eine Gefahr für die Demokratie darstellt, während mir bisher noch niemand plausibel darlegen konnte, was der Verfassungsschutz in den letzten Jahrzehnten verhindert oder Segensreiches vollbracht hat.
Becker: Es ist schön, dass wir mit der Grundsatzdiskussion der Legitimation des Verfassungsschutzes weitermachen könnten. Wir wollen dies aber nicht vertiefen, um auch noch auf einzelne Aspekte zu sprechen zu kommen.
Schmidt-Jortzig: Dass wir den Verfassungsschutz nicht auch zur Obrigkeit der Verfassung auch für unsere Gesetze machen sollten, da sind wir uns, denke ich, einig. Mir kam als Realist noch einmal ins Gedächtnis, dass angesichts der Tatsache, dass die parlamentarische Kontrolle auf Offenlegung angelegt ist – also in der Tat auch Presse und Medien eine große Rolle spielen – der andere Ast von Kontrolle umso wichtiger ist. Das ist nämlich die Fach- und Dienstaufsicht. Das wird deutlich, wenn man bedenkt, wie der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz zurücktrat, weil er von manchen Dingen in seinem Hause effektiv nichts wusste. Das kann man sich bei einigen Dingen kaum vorstellen, dass nichts gewusst wurde. Da gibt es dann jedenfalls entsprechend verantwortliche Abteilungsleiter. Die haben auch von nichts gewusst. Und da sind Akten vernichtet worden und, und, und. Wenn man sich also die Thüringer Anamnese da anschaut, dann ist für mich ganz eindeutig, dass der jetzige Aufschrei „Wir müssen wieder an irgendwelchen Gesetzesschrauben drehen!“ viel zu weit gegriffen ist. Man muss erst mal die konkrete Praxis in den Griff nehmen und
mal schauen, ob denn das, was das Gesetz bisher schon an Schranken beinhaltet, was vor allem die Aufsicht anbetrifft, effektiv stattgefunden hat. Ich habe den Eindruck, das ist überhaupt nicht der Fall gewesen und leider haben ja solche Untersuchungsausschüsse, die dann immer eingesetzt werden – das ist nun auch gut und richtig – sofort die Eigenschaft, in Angreifer und Verteidiger zu zerfallen, dass also dann die Farbe, die ihren Minister oder ihren vom Minister eingesetzten Behördenleiter verteidigen muss, Sperrfeuer schießt und die anderen zum Teil auch etwas irrational dagegen anzulaufen versuchen. Also ich würde mal erst versuchen zu klären: Welche effektiven Missstände sind denn unabhängig von irgendwelchen Gesetzesreformen überhaupt auszumerzen? Leider ist es ja eine Tendenz der Politik, dann sofort an den großen Gesetzesschrauben zu drehen, weil man dann auch in der Öffentlichkeit natürlich immer ihre Aktivität belegen kann. Aber die praktische Umsetzung von Dingen, die ist häufig viel wichtiger und deren Kontrolle hier, also verwaltungsrechtlich gesprochen fach- wie dienst- und rechtsaufsichtlich, davon kann ich sprechen, die ist ja dann das Selbstverständlichste und Notwendigste der Welt. Dass die nicht richtig funktioniert hat, hat in diesem Fall, glaube ich, effektiv dazu beigetragen, dass es zu diesem unerhörten Vorfall oder diesen Missständen gekommen ist. Und wenn das in der Vergangenheit so gewesen ist, dann war auch das meistens eine Frage der nicht oder vielleicht nicht effektiv ausgelebten Aufsicht. Also bevor wir an Gesetzesänderungen gehen, die dann wieder nur auf dem großen Papier stehen, sollten wir das Auge auf die Praxis legen und schauen, ob da vielleicht nicht die wichtigsten Fehler gemacht worden sind.
Becker: Herr Ahlhaus, mir ist bewusst, Sie könnten auf das, was Herr Gössner Ihnen gesagt hat, ähnlich pointiert replizieren und dann könnte es eine erneute Replik geben. Das würde ich, wie gesagt, jetzt gerne unterbrechen, um zu ein paar spezifischen Punkten zu kommen. Auch zu einem, den Sie bereits angesprochen haben. Ein Hauptproblem in der Innenministerkonferenz war überraschend die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern. Und in dem Bereich hat es ja auch offensichtlich Mängel, um es vorsichtig zu sagen, im Zusammenhang mit diesem NSU–Komplex gegeben. Brauchen wir zur besseren Koordinierung von überregionalen Ermittlungen – Sie hatten das schon angedeutet – mehr Kompetenzen für den Bund und glauben Sie, dass die Kritik der Ländervertreter tatsächlich sachbezogen ist und sozusagen der Sorge um rechtsstaatliche Standards geschuldet? Oder geht es da um – ich habe mir hier den Begriff ausgedacht, wenn ich ihn unbewusst geklaut habe, tut mir das Leid – kompetenzielleBesitzstandswahrung Also versucht man da möglicherweise, einfach nur auch Gelder zu behalten – Länder mit gut ausgestatteten Behörden wehren sich besonders stark? Wird da sozusagen – pathetisch gesprochen – der Schutz der Verfassung im Kompetenzgerangel verspielt?
Ahlhaus: Also zunächst finde ich die Begriffsschöpfung gut und diese hat sicherlich auch ihre Berechtigung. Ich glaube, es ist beides. Egal, ob das eine Innenministerkonferenz oder eine Kultusministerkonferenz ist oder welche Fachminister da auch immer zusammenkommen. Dass das auch immer ein Gerangel um Kompetenzen ist, dass es immer um diesen Konflikt geht: „Ist es nicht besser und effektiver zu leisten, wenn wir etwas nicht in 16 Ländern einzeln machen, sondern lieber zentral?“ Dass dagegen aber unsere föderale Ordnung, die sich auch bewährt hat, in vielerlei Hinsicht spricht, da ist schon etwas dran. Und ich glaube, das sind auch Reflexe. Das sage ich ganz bewusst auch als ehemaliger Landesinnenminister, wobei Landesinnenminister natürlich im politischen Geschäft eine Rolle spielen, wenn es darum geht, einen Bundesminister – egal jetzt welcher Fachrichtung – in seiner gerne ausufernden Amtsführung – wobei natürlich anwesende Minister a.D. ausgenommen sind – zu beschränken. Natürlich will ja jeder gerne Kompetenzen in seiner Behörde, die er gut findet, weil er sie führt, erweitern. Möglicherweise auch mit guten Gründen, gerade von der Bundesebene. Und Landesminister wollen Kompetenz nicht gerne abgeben, weil das auch schlecht aussieht. Dann sind sie die Verlierer. Das ist ein Spiel. Aber dann sind wir wieder bei dem Thema, Herr Professor Schmidt-Jortzig, zu dem Sie eben auch repliziert haben und auch das Beispiel gebracht haben, dass es auf der anderen Seite ja oft so ist, dass auch in den Ausschüssen dann diese Fensterreden gehalten werden. Und der eine vertritt eben die Position, weil es die Position der Partei A ist, der der Minister angehört, und umgekehrt. Das ist ja genau die Krux. Wir kommen – und dasselbe gilt für diese konkrete Frage, weil Vieles eben nur im Lichte einer medialen Diskussion stattfindet – viel weniger zu einem sachlichen Punkt, als wenn man irgendwelche Profilneurosen ausblendete. Die gibt es aber nun mal. Die gibt es bei Ministern, die gibt es bei Parlamentariern, die gibt es überall. Ich glaube, Herr Tabbert wird mir zustimmen. Wir erleben auch in der Alltäglichkeit parlamentarischer Arbeit, dass immer dann, wenn in einer Ausschusssitzung keine Journalisten mehr im Publikum sitzen, auf einmal eine Debatte schneller geht, möglicherweise effektiver geht und vor allem mehr von Inhalten getragen ist als von irgendwelchen Fensterreden. Damit sage ich ja um Gottes Willen nicht, dass ich alles nur noch geheim machen will und ohne Medien, nur weil die störten. Überhaupt nicht. Nur ich gebe zu bedenken, wenn man immer nur sagt, die Transparenz sei so ein immanentes Wesensmerkmal des Rechtsstaats, das über allem stehen muss, dass manchmal durch eine Übertransparenz und eine übermediale Begleitung vielleicht die sachliche Diskussion zu kurz kommt. Und – um auf Ihre ganz konkrete Frage zurückzukommen – deswegen glaube ich: Ja, sicherlich denkt mancher Landesinnenminister vielleicht im Inneren noch etwas Anderes als das, was er dann medial geschuldet nach außen vorträgt. Und ich glaube, wenn man sich mal jenseits von irgendwelchen Gewinner- und Verliererinszenierungen zusammensetzt und überlegt, wie wir so den Verbund zwischen 17 Ämtern, die die gleiche Aufgabe wahrnehmen – 16 Landesämter, ein Bundesamt – effektiver machen, dann glaube ich, spricht viel dafür, dass man auch über manche Dinge nachdenkt. Und da will ich jetzt gar nicht irgendwelchen SPD-Anträgen das Wort reden, aber wo es richtig ist, ist es richtig, darüber nachzudenken, welche Aufgaben vielleicht bei einer stärker koordinierenden Funktion des Bundesamtes effektiver wahrgenommen werden können.
Becker: Das Thema Medien in diesem Zusammenhang werden wir später auch nochmal ansprechen, wenn der Moderationsplan sich zeitlich durchhalten lässt, insofern fand ich das schon sehr interessant. Zum Abschluss der allgemeinen Runde jetzt an Herrn Tabbert die Frage: Sie haben im Grundsatz dem Papier der Bundestagsfraktion zugestimmt, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Das fordert, wenn man es schlag-
wortartig formulieren will, durchaus ein „Mehr“ an Verfassungsschutz auf Bundesebene. Dazu hat wiederum in der Süddeutschen Zeitung der von Ihnen erwähnte Herr Prantl ein durchaus interessantes Bild gefunden. Der sagt im Zusammenhang mit dem Innenministerpapier, also der Innenministerkonferenz – aber das war ja inhaltlich ähnlich –, das sei so, als gebe ein Fahrprüfer seinem Kandidaten nach einem schweren Unfall neben dem PKW auch den Omnibusführerschein mit den Worten: „Herr Kollege, Sie brauchen Fahrpraxis.“ Jetzt kann man über dieses Bild streiten und gucken, auf wie vielen Beinen der Vergleich hinkt.
Ahlhaus: Man könnte auch sagen: Er kriegt einen Spiegel mehr an den Bus!
Becker: So könnte man es auch machen. Aber wenn doch die Botschaft diejenige ist: „Ja, der Bund braucht eigentlich mehr Kompetenzen!“ – ist das unabhängig von der inhaltlichen Richtigkeit der Bevölkerung vermittelbar? Nach dem, was hier jetzt offenbar geworden ist und möglicherweise auch weiterhin offenbar wird, in diesem NSU–Zusammenhang, kann man das den Leuten erklären?
Tabbert: Ja, das versuchen wir ja. Also nochmal: Bloß, weil etwas nicht gut funktioniert, muss man es ja nicht abschaffen. Die Alternative wäre ja, es zu verbessern. Und da würde ich mich auch freuen, wenn sich Herr Gössner an dieser Debatte beteiligte, hilfsweise sozusagen zu seinem Hauptwunsch. Wie können wir das tatsächlich verbessern? Und ich glaube, ganz unstreitig ist, dass eine bessere Koordinierung stattfinden muss. Da wird man vermutlich um eine stärkere Rolle des Bundesamtes für Verfassungsschutz nicht herumkommen, wenn man das realistisch betrachtet.
Wie die dann genau aussieht, vermag ich nicht abschließend zu beurteilen, dazu bin ich noch zu kurz mit diesen Aufgaben beschäftigt, die ich parlamentarisch seit anderthalb Jahren wahrnehme. Aber eine bessere Koordinierung muss es geben und die muss wahrscheinlich durch das Bundesamt für Verfassungsschutz stattfinden. Dass das Bundesamt für Verfassungsschutz Selbsteintrittsrechte in Bundesländer bekommen muss, dass es im bloßen Benehmen handeln darf ‑ was ja als juristische Formulierung bedeutet, dass man eigentlich nur informieren muss: „Achtung, wir kommen jetzt!“ ‑ das halte ich noch nicht für zwingend. Das vermag ich noch nicht abschließend zu beurteilen. In dem Eckpunktepapier wird es ja gefordert. Aber sehr plausibel erscheint mir, dass man jedenfalls einen stärkeren Informationsaustausch zwischen den Landesämtern und auch dem Bundesamt hinbekommt. Das ist zentral für das Ziel, dass nicht Aufgaben in Unkenntnis des Handelns der anderen Behörde gleichzeitig wahrgenommen werden und dadurch weniger Effektivität bei der Aufgabenwahrnehmung eintritt.
Wir hatten zudem über mehr parlamentarische Kontrolle gesprochen. Herr Schmidt-Jortzig ist dabei gut gestartet – und jetzt sagt er auf einmal, wir müssen zunächst gucken, dass sich die Praxis verbessert.
Schmidt-Jortzig: Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen.
Tabbert: Genau! Das gefällt mir schon viel besser. Aus meiner Erfahrung heraus halte ich es zunächst für wünschenswert, dass man diese Gremien nicht allzu klein macht. Dann kann man innerhalb des Gremiums auch diskutieren und sitzt nicht nur zu dritt da, falls mal jemand ausfällt; in einer solchen Situation kann man keine effektive Überwachungsarbeit leisten gegenüber einer Behörde, die einen riesigen Informationsvorsprung hat.
Wenn man da als kleiner Parlamentarier ‑ hier in Hamburg auch noch als Feierabendparlamentarier ‑ sitzt und Akten vorgelegt bekommt, die man nicht nach Hause mitnehmen darf, da wünscht man sich schon eine ganze Reihe von Möglichkeiten zur Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle – wohl wissend, dass totale Transparenz nicht möglich ist. Denn man kann ja nicht die Namen derjenigen, deren Telefone überwacht werden, öffentlich machen, sonst würde der Sinn der Maßnahme nicht mehr verfolgt werden können.
Eine Verbesserung wäre zum Beispiel, auch bei V-Leuten zumindest eine Rückkopplung in dem G10-Gremium vorzusehen. Dafür müsste man das Gesetz ändern. Eine weitere Verbesserung bestünde darin, dass man von Gesetzes wegen den Mitarbeiterstab besser ausstattet, dass man das Ganze professionalisiert. Derzeit sitzen im parlamentarischen Kontrollausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft nur neun Feierabendparlamentarier ohne ihre Mitarbeiter, obwohl die sich den ganzen Tag damit befassen könnten, die Mitarbeiter könnten ja strafbewehrte Verschwiegenheitserklärungen abgeben. Nur eine Mitarbeiterin bzw. ein Mitarbeiter steht derzeit pro Fraktion für die Aufgabe zur Verfügung, aber der darf auch nicht in der PKA-Sitzung dabei sein. Meine Phantasie reicht schon aus, um mir eine ganze Reihe von gesetzlichen Verbesserungsmöglichkeiten auf Landes- wie auch auf Bundesebene vorzustellen. Hoffentlich kommen wir so dazu, dass mehr Rechtsstaatlichkeit durch präzisere, genauere Rechtsgrundlagen hergestellt wird, dass aber auch mehr demokratische Legitimation stattfindet, die hier nur auf der Ebene des Parlaments und nicht auf der Ebene der Öffentlichkeit erfolgen kann.
Gössner: Wenn ich hier noch etwas ‑ von meiner Seite aus systemimmanent argumentiert ‑ ergänzen darf: Ich würde durchaus die Möglichkeit ins Auge fassen, einen so genannten Geheimdienstbeauftragten zu installieren, der einen Mitarbeiterstab hat, um professionell kontrollieren zu können. Wohlgemerkt: Nie wird es eine wirklich demokratische Vollkontrolle geben, auch damit nicht, aber die Kontrolle könnte wirklich professionalisiert werden. Das ist übrigens auch ein Vorschlag des Bundesdatenschutzbeauftragten. Ein solches Modell wäre möglicherweise eine Überlegung wert.
Tabbert: Wenn ich da kurz einhaken darf… Hier finde ich das Papier der SPD-Bundestagsfraktion sehr plausibel: Ein Arbeitsstab ist zu fordern, der kann sehr viel bringen. Ich habe selber einmal im Arbeitsstab eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses gearbeitet. Da hat man wochenlang Zeit, sich mit einem Thema zu befassen, kann sich in etwas hineinwühlen. Aber wenn man einen Beauftragten dort einrichtet, führt das natürlich wieder zu einem Weniger an politischer Kontrolle und unter Umständen auch zu weniger parteipolitischer Kontrolle. Das wäre also etwas, das mir nicht unbedingt einleuchtet. Einen professionalisierten Arbeitsstab finde ich sehr plausibel, aber die Delegation an einen Geheimdienstbeauftragten führt meines Erachtens nicht zwangsläufig zu dem Ziel einer verstärkten Kontrolle, dem Sie sich ja auch verbunden fühlen müssten.
Becker: Wir können das Thema jetzt im Zusammenhang mit den V-Leuten noch einmal konkret angehen. Herr Ahlhaus, ich habe bei meiner Vorbereitung Volker Kauders Aussage gelesen, der Einsatz von V-Leuten müsse „ernsthaft auf den Prüfstand“ gestellt werden, denn: „Ein Instrument, das uns nichts bringt, das brauchen wir auch nicht.“ Die Aussage stammt vom 15. November 2011, also relativ kurz nach dem Bekanntwerden der NSU-Mordserie. Möglicherweise war die Aussage der Wucht dieser Erkenntnisse geschuldet, denn jetzt, neun Monate später, steht in dem Papier der Innenministerkonferenz, wie in der Presse zu lesen war, etwas von einheitlichen Standards bei V-Leuten, die man voranbringen möchte. Glauben Sie als Innenpolitiker, dass der vollständige Verzicht auf V-Leute tatsächlich zumindest ernsthaft geprüft und diskutiert werden müsste? Wurde das Thema ernsthaft genug geprüft? Oder sind V-Männer notwendiger Bestandteil eines funktionierenden Verfassungsschutzes, so dass es auch hier nur um Verbesserungen gehen kann?
Ahlhaus: Herr Kauder hat Recht, wenn er sagt, dass man keine Instrumente braucht, die nichts bringen. Ich glaube aber, dass falsch liegt, wer sagt, dass V-Leute grundsätzlich nie etwas gebracht haben und nichts bringen werden. Dafür gibt es schließlich genügend Beispiele. Aber auch hier muss man – ähnlich wie in der Debatte, die wir eben geführt haben – hinschauen, wo man Strukturen verbessern muss. Auch muss man – ich sag es jetzt einmal untechnisch – das Handling der V-Leute möglicherweise rechtsstaatlich noch einmal neu einsortieren oder überhaupt auf vernünftige Rechtsgrundlagen stellen. Dafür bin ich sehr. Nur sollte man auch da nicht das Kind mit dem Bade ausschütten: Es ist falsch, zu sagen, das ganze Instrument taugt nichts, wenn V-Leute an Operationen beteiligt waren, die schiefgegangen sind, und wenn sich diese V-Leute möglicherweise sogar strafbar gemacht haben.
Wir haben in der Debatte um das NPD-Verbotsverfahren gesehen, dass der Einsatz von V-Leuten durchaus kein Allheilmittel ist, sondern dass es dabei auch Schwierigkeiten geben kann, die sogar den eigentlichen Zweck des Einsatzes gefährden können, wie es beim NPD-Verbotsverfahren der Fall war. Aber dann kann man nicht die Schlussfolgerung ziehen, alles sei Mist und künftig sei darauf zu verzichten. Denn dann fehlen den Behörden Erkenntnisse, um wirksam operieren und verfassungsfeindlichen Tendenzen entgegentreten zu können. Vielmehr muss auf den Prüfstand, wie V-Leute geführt werden. Da bin ich ganz bei Professor Schmidt-Jortzig: Gerade bei dem Thema V-Leute-Einsatz scheint mir, dass die Aufsicht – die bei V-Leuten natürlich auch etwas schwieriger ist – möglicherweise absolut unzureichend ist. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Phänomen nicht nur beim Bundesamt für Verfassungsschutz, sondern auch bei den Landesämtern besteht. Und ich glaube, daran müssen wir arbeiten.
Klar ist aber auch: Es liegt bei der Institution der V-Leute in der Natur der Sache, dass diese Personen nicht so geführt werden können wie irgendein Beamter im Polizeikommissariat „xy“. Das heißt aber nicht, dass jemand, der im Auftrag handelt, die verfassungsmäßige demokratische Ordnung eines Rechtsstaates zu schützen, sich selbst völlig von dieser Rechtsordnung lösen kann. Das geht nicht. Hier existiert Bedarf, näher hinzuschauen. Auch im wohlverstandenen Eigeninteresse dieser Behörden besteht ein Bedürfnis, künftig Fehlentwicklungen zu verhindern, wie wir sie beim NPD-Verbotsverfahren, in der NSU-Sache und auch an anderer Stelle gesehen haben.
Ahlhaus: Ich bin davon überzeugt, dass das ein Phänomen ist, das nicht nur für das Bundesamt für Verfassungsschutz gilt, sondern auch für die Landesämter. Und ich glaube, daran müssen wir arbeiten. Klar ist aber auch, der Institution „V-Leute“ ist immanent, dass sie nicht so geführt werden kann wie irgendein Beamter, der im Polizeikommissariat „xy“ arbeitet. Das liegt in der Natur der Sache. Das heißt aber nicht, dass jemand, der im Auftrag handelt, die verfassungsmäßige, rechtsstaatliche und demokratische Ordnung zu schützen, sich selbst vollständig von dieser Ordnung lösen kann. Und hier ist Bedarf, näher hinzuschauen. Es ist sogar im wohlverstandenen Eigeninteresse dieser Behörden, Fehlentwicklungen, wie wir sie im NPD-Verbotsverfahren, wie wir sie jetzt bei der NSU-Sache gesehen haben, wie wir sie auch an anderer Stelle gesehen haben, künftig zu verhindern.
Becker: Herr Schmidt-Jortzig, was die Verbesserung von Aufsicht im weitesten Sinne angeht, haben Herr Dr. Förster, Ermittlungsrichter beim BGH, und ein weiterer Kollege von Ihnen aus Hamburg, Herr Bull, sich jüngst in der ZRP dafür ausgesprochen, den Einsatz von V-Leuten unter Richtervorbehalt zu stellen. Halten Sie das einerseits aus verfassungstheoretischer Sicht für richtig und zugleich auch für praktikabel und was wären Ihre Empfehlungen, wenn die Innenministerkonferenz Sie fragen würde, wie man die bisher recht blassen, einheitlichen Standards gestalten sollte?
Schmidt-Jortzig: Der Gedanke des Richtervorbehalts ist rein theoretisch ein vernünftiger Gedanke. Denn bei den V-Leuten spielt mit, dass sie per definitionem immer auch in der Lage sein müssen ‑ um sich hinreichend in der Szenen, in der sie eingesetzt sind, Vertrauen zu schaffen, Zugang zu schaffen ‑ gewisse Rechtsverletzungen vornehmen dürfen. Hier ist die Balance zu halten, zwischen dem, was die V-Leute auf keinen Fall dürfen und dem, was im Interesse ihrer Aufgabe akzeptiert werden kann ‑ wir dürfen sie ja nicht mit den verdeckten Ermittlern verwechseln. Hier ist es dann schon denkbar und theoretisch sinnvoll, das jedenfalls durch einen Richter erlauben zu lassen. Ich habe nur praktische Bedenken. Mein Freund Hans-Peter Bull ist lange genug Innenminister in Schleswig-Holstein gewesen. Er kennt die Probleme der Bürokratisierung solcher Dienste. Wenn das alles erst zum Richter geht ‑ womöglich nach Karlsruhe zum Ermittlungsrichter bei der Bundesanwaltschaft ‑ dann ist die Effektivität eines V-Leute-Einsatzes wieder in Frage gestellt. Und dann wissen wir leider auch aus der Praxis ‑ was mich in meiner Profession als Hochschullehrer eigentlich überraschen sollte ‑ dass die immer so als Allheilmittel für rechtsstaatliche Defizite eingesetzten Richtervorbehalte auch nicht viel besser funktionieren. Es gibt eine Vielzahl Untersuchungen dazu, was diese Richtervorbehalte bringen und es stellt sich heraus, dass diese vom Richter erteilten Genehmigungen kaum rechtsstaatlich effektiver sind, als würde es ein vernünftiger, vom Rechtsstaat durchdrungener Beamter machen. Ich bleibe dabei, es sind namentlich die V-Leute-Führer des entsprechenden Amtes. Diese Führung, also Laufbahnbeamten, un-
terliegt einer unbegrenzten Dienst-, Fach- und Rechtsaufsicht. Wenn die V-Leute straff geführt sind und das dann auch innerhalb der Amtshierarchie hinreichend kommuniziert wird, hätten wir vieles, was innerhalb dieses ganz komplexen Falls der NPD und des Rechtsradikalismus über die Jahre schief gelaufen ist, im Griff. Grundsätzlich stimme ich Herrn Ahlhaus zu und halte die Abschaffung der V-Leute nicht für zielführend. Man muss sie effektiver handhaben.
Tabbert: Ich wollte noch ergänzen: Die Richter würden ja nur eine Rechtsmäßigkeitskontrolle durchführen können und keine der Zweckmäßigkeit. Deswegen finde ich diese Idee der G10-Kommission charmant. Man hat noch ein zusätzliches Kontrollinstrument. Ich stimme Ihnen zu, Herr Schmidt-Jortzig. Man kann mehr Kontrolle auch durch straffere Führung erreichen. Aber eben auch durch Berichtspflichten. Man muss diese Sache sozusagen innerhalb der Behördenhierarchie hoch genug ansiedeln. Vielleicht muss das möglicherweise auch ein Volljurist sein mit mehr Feeling für Verhältnismäßigkeit. Das würde ich mir wünschen.
Becker: Herr Gössner, welches sind Ihrer Auffassung nach nun die Hauptprobleme im Zusammenhang mit diesen sogenannten V-Leuten?
Gössner: In der Tat ein ganz heikles Feld. Ich muss gleich zu Beginn sagen, dass das, was Sie alles erzählt haben, ein bisschen blauäugig klingt, gemessen an der Praxis. Sie werden kein wirklich kontrollierbares V-Leute-System hinkriegen. Wir müssen uns doch vergegenwärtigen, was V-Leute eigentlich sind. V-Leute stammen aus den jeweils zu beobachtenden Szenen und Parteien. Das heißt, im rechtsextremen, neonazistischen Bereich sind das gnadenlose Neonazis und heillose Rassisten. Und sie sind auch weiterhin tätig in diesen Szenen ‑ und zwar häufig an vorderster Stelle. Und sie müssen auch weiter einschlägig aktiv bleiben, um nicht aufzufallen. Das heißt, dass ihre Tarnung unmittelbar damit zusammenhängt, dass sie sich aktiv, auch gewalttätig, in einer gewaltgeneigten Szene verhalten. Es handelt sich bei diesen V-Leuten nicht etwa um Agenten des demokratischen Rechtsstaats, sondern es sind staatlich alimentiere Naziaktivisten.
Tabbert: Es geht ja nicht nur um diese Szene!
Gössner: Nein, klar, das ist ja auch nur ein Beispiel, wenn auch ein heftiges. Wir kennen in keiner anderen Szene so viele V-Leute wie in der rechtsextremen und trotzdem wusste der Verfassungsschutz angeblich nichts.Ich habe das ‑ gerade in diesem Bereich ‑ ausführlich in meinem Buch „Geheime Informanten“ beschrieben und dort von „Neonazis im Dienste des Staates“ gesprochen. Die begehen Straftaten, teilweise auch zur Tarnung, und der Verfassungsschutz tut nichts dagegen, weil er seine Leute – die er ja mühsam rekrutiert – langfristig in der Szene halten will. Das ist ein ganz großes Problem. Der Verfassungsschutz als Geheimdienst ist nach Gesetzeslage nicht dazu da, Straftaten zu verhüten oder Straftaten aufzuklären. Das ist Sache der Polizei, die dem Legalitätsprinzip unterliegt. Der Verfassungsschutz versucht alles, um seine kriminell gewordenen V-Leute in der Szene zu stabilisieren und zu halten. Ich habe das in etlichen Fällen nachweisen können. Das war für mich das Erschreckendste, was ich bei meinen Recherchen erleben musste: Dass der Verfassungsschutz seine kriminellen V-Leute nicht nur deckt, sondern auch systematisch gegen polizeiliche Ermittlungen abschirmt. Das ging tatsächlich bis hin zu Beweismittelunterdrückung: Da wurden dann Tatcomputer vom Verfassungsschutz ausgetauscht, bevor die Polizei kommt und ein Haus durchsucht; auch im Fall der NSU hat der Verfassungsschutz seinen V-Leuten polizeiliche Ermittlungsmaßnahmen wie etwa Observationen verraten.
Ahlhaus: Tatsächlich muss man das gesetzlich regeln!
Gössner: In vielen Gesetzen sind ja schon gewisse Grenzen zu finden, aber das funktioniert nicht. Die Abschirmung krimineller V-Leute gegen Ermittlungen der Polizei ist letztlich auch strafbar: Es geht um Strafvereitelung im Amt oder Beihilfe zu Straftaten. Aber kein Verantwortlicher des Verfassungsschutzes ist jemals dafür belangt worden. Das ist doch erstaunlich! In einem Fall gab es ein Verfahren gegen einen V-Mann-Führer, der den kontaminierten PC seines Schützlings, seines V-Manns, ausgetauscht hatte. Das Ermittlungsverfahren wurde dann aber mangels öffentlichen Interesses eingestellt. So läuft das nämlich im Geheimdienstbereich. Wir kommen hoffentlich gleich noch auf das Geheimhaltungssystem insgesamt zu sprechen, weil das ganz große Auswirkungen hat. Das ist ein ganz zentrales Beispiel, warum es mit der Kontrolle geheimdienstlichen Handelns nicht klappen kann: Der Quellenschutz geht über alles. Und wir haben es gesehen: Wer den Schäfer-Bericht liest, der sieht, dass der Quellenschutz der oberste Wert ist. Ihm hat sich alles andere unterzuordnen. Das ist ein strukturelles Problem von Geheimdiensten.
Becker: Ich danke Ihnen für diese zugespitzte Darstellung. Wir müssen natürlich sehen, dass nicht alle Leute den Schäfer-Bericht gelesen haben. Insgesamt sollten wir versuchen, nicht zu detailliert über die NSU-Affäre im Konkreten zu reden. Dann ist es immer schwierig, dass die Sachverhaltskenntnisse unterschiedlich sind, und nicht alle der Diskussion gleichermaßen folgen können. Aber ich glaube, es ist berechtigt, dass Sie zu dem Punkt V-Leute das letzte Wort hatten; gerade wenn Sie hier in der Grundposition „eins gegen drei“ stehen. Dann können wir nämlich noch zu einem anderen wichtigen Punkt kommen, der auch für viel Aufsehen gesorgt hat: Die Beobachtung von Abgeordneten der Partei „Die Linke“. Herr Tabbert, aus Ihrer Partei gab es da auch deutliche Kritik. Ich erinnere mich an die Formulierung, das sei „gaga“, ich glaube von Herrn Wiefelspütz. Jedenfalls wurde das aus ihrer Partei deutlich kritisiert. Ich versuche mich jetzt als advocatus diaboli:Jedenfalls im Fall Bodo Ramelow haben wir ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts und damit einen Sachverhalt den wir – wie Juristen das in der Revisionsinstanz machen – als gegeben ansehen können. Hier war es so, dass nur öffentlich zugängliche Quellen ausgewertet wurden und – so hat es das Gericht jedenfalls festgestellt – dass das Abstimmungsverhalten sowie die Äußerungen im Parlament und den Ausschüssen nicht Gegenstand der Beobachtung waren. Da könnte man jetzt sagen, dass es erstaunlich ist, dass man einen Verfassungsschützer für Aufgaben braucht, die jeder Schüler als Ferienjob erledigen könnte: Zeitungsartikel auswerten. Das war jetzt von mir sehr zugespitzt formuliert. Aber ich will auf etwas Anderes hinaus: Man könnte sich doch fragen, ob ‑ wenn das so gewesen ist,
wovon wir jetzt einfach ausgehen ‑ das wirklich eine Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist. Oder ob man sich nicht fragen kann, ob die Zulässigkeit dieser Form von Beobachtung – nur öffentlich zugängliche Quellen und Verzicht auf die Abgeordnetentätigkeit im engeren Sinne – auch bei Abgeordneten anders zu beurteilen ist als die Beobachtung von Abgeordneten mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Würden Sie sagen, dass man da möglicherweise differenzieren kann?
Tabbert: Schwierig. Schwierige Frage. Vorweg: In Hamburg findet meiner Kenntnis nach keine Überwachung der Partei „Die Linke“ statt, so jedenfalls habe ich das dem Verfassungsschutzbericht entnommen. Das ist natürlich ein sehr starker Eingriff, egal wie man politisch zu der Partei steht. Und dann muss man sich fragen, ob das, wenn man es generell unterbindet, auch dazu führt, dass man Abgeordnete der NPD gar nicht mehr überwachen kann. Wenn man das eine generell ausschließt, muss man das andere auch immer mitdenken. Ich bin auch ein großer Gegner von Gesinnungsschnüffelei, ich finde, das sollte nicht Aufgabe des Verfassungsschutzes sein. Viele junge Leute haben viele verrückte Ideen, wenn sie jung sind, und ändern sich vielleicht im Laufe des Lebens und werden auch gesetzter und haben mehr Einsicht in gewisse gesellschaftliche Notwendigkeiten, die sie als solche erkennen. Ich bin also kein großer Freund von Gesinnungsschnüffelei, das sage ich ganz ehrlich. Aber sich selbst die Möglichkeit vorzuenthalten… Gerade wenn wir sehen, mit was für zum Teil gefährlichen Persönlichkeiten – so jedenfalls erscheint es mir – wir es bei einigen NPD-Abgeordneten in den neuen Bundesländern zu tun haben, würde ich nicht aus der Hüfte geschossen von mir geben wollen, dass wir da einen großen Bogen drum machen sollen.
Becker: Auf den Aspekt wollte ich auch noch einmal kommen. Jetzt versuche ich bei Ihnen, Herr Ahlhaus, auch im Vorhinein die Gegenposition zu antizipieren. Ich beziehe mich, was die Tatsachen und den Sachverhalt angeht, immer noch auf das Urteil. Der Verfassungsschutz beobachtet nicht nur die „Kommunistische Plattform“ und andere Suborganisationen in der Partei „Die Linke“, von denen das Bundesverwaltungsgericht anknüpfend an das Oberverwaltungsgericht sagt, dass sie verfassungsfeindlich sind. Sondern es wird auch Bodo Ramelow beobachtet, der nach den Feststellungen desselben Gerichts nichts mit diesen Organisationen zu tun hat und sich selbst nie in verfassungsfeindlicher Weise betätigt hat. Außerdem beobachtet der Verfassungsschutz, wie wir wiederum in der heutigen \footnote Süddeutschen Zeitung lesen konnten, in Baden-Württemberg einen 81-jährigen Rentner, der sich nie etwas hat zuschulden kommen lassen und der seit Jahrzehnten von den Bürgern gewählt im Kreistag sitzt. Er ist Mitglied im Kaninchenzüchterverein, aber eben auch in der DKP. Hier hat der Kreistag fraktionsübergreifend, auch die Unionsfraktion, einen Appell an die Landesregierung gerichtet, man möge die Beobachtung dieses Menschen einstellen. Auf der anderen Seite gibt es das schwer erklärbare – ich nenne es jetzt „Versagen“, auch wenn Herr Gössner den Begriff nicht mag – im Fall der NSU. Wie lässt sich anhand solcher Dinge, die vielleicht zugespitzt sind, vielleicht aber auch ein Muster erkennen lassen, der oft, so auch heute, gehörte Vorwurf der „Blindheit auf dem rechten Auge“ entkräften?
Ahlhaus: Ich kann und will mich nicht zu der Beobachtung einzelner Personen oder Institutionen äußern. Ich selbst habe als Innensenator die Entscheidung getroffen, dass die Beobachtung der Partei „Die Linke“ in Hamburg eingestellt wird und hierbei sehr wohl differenziert, was die – Sie haben es eben ausgeführt – Unterorganisation „Kommunistische Plattform“ angeht. Das war ein Vorschlag des Landesamts für Verfassungsschutz, der plausibel dargelegt wurde und der seine Gründe hatte. Was mir an dieser Diskussion nicht gefällt, ist Folgendes, verzeihen Sie mir das, Herr Tabbert: Sie sagten eben „Gesinnungsschnüffelei“, der Begriff fiel vorher schon einmal von Herrn Dr. Gössner. Es geht nicht um „Gesinnungsschnüffelei“. Mir gefällt auch nicht, dass als Argument gesagt wird, ein Verzicht auf die Beobachtung der Linkspartei könnte dazu führen, dass wir auch die NPD nicht mehr beobachten können. Dieser Schluss gefällt mir nicht. Es kann nicht davon abhängen, ob rechts oder links, es kann nicht davon abhängen, welcher Partei einer angehört. Wenn einer verfassungsfeindliche Tendenzen verfolgt, offensichtlich, und er ist gefährlich, und ein Abgeordneter der CDU, dann bin ich sehr dafür, dass er auch beobachtet wird. Das mal zu eins. – Zu zwei: Ich finde auch – und das sage ich auch als Abgeordneter: Allein die Tatsache, dass jemand Abgeordneter ist, kann ihn auch nicht davor schützen, darf ihn nicht davor schützen, dass, wenn er Schlimmes im Schilde führt, auch Sicherheitsbehörden genau hingucken. Das Ganze muss natürlich seine Grenze haben, wo der Abgeordnete in seiner parlamentarischen Kontrollfunktion behindert oder diese ganz ausgehöhlt wird. Das ist auch klar in einem demokratischen Rechtsstaat. Aber allein zu sagen, nur weil jemand Abgeordneter ist oder nur weil eine Partei auch politisch tätig ist, darf sie nicht Gegenstand einer Beobachtung sein, halte ich für falsch. Das halte ich auch für gefährlich. Denn in Einem sind wir uns ja einig, nämlich dass es Parteien gibt, die eben verfassungsfeindliche Tendenzen verfolgen und die auch mit den Mitteln eines demokratischen Rechtsstaats – und dazu gehört auch die Institution Verfassungsschutz – aufgeklärt und dann bekämpft werden müssen. Und ob einer 81 Jahre alt ist oder nicht: Auch mit 81 kann man so fit und verfassungsfeindlich sein, dass es ganz gut ist, wenn man da hinguckt. Ich kenne den Fall nicht und will mich auch nicht dazu äußern. Ob das gerechtfertigt ist oder nicht, weiß ich nicht. Nur weder Alter, ich sage es noch einmal, noch rechts, noch links darf eine Rolle spielen.Sie haben vorhin auch gesagt, Herr Dr. Gössner, wenn ich mich recht entsinne, und da ging es um die Frage der parlamentarischen Kontrolle, es sei doch ein Unding, dass nicht alle Fraktionen drin sind. Dabei haben Sie sich zu Recht in ihrem letzten Beitrag darüber beschwert, dass der Verfassungsschutz ja mit den V-Leuten lauter Kriminelle unterhält, die selbst eigentlich Gegenstand der Beobachtung sein sollten, weil sie selbst eben zu Straftätern werden und dann auch noch geschützt werden. Aber wollen Sie dann in einem Gremium möglicherweise einen NPD-Mann zu sitzen haben, dem dann vertraulich berichtet wird, was sein Parteifreund nun da gerade macht? Also das ist schon schwierig. Und man kann natürlich nicht sagen, dass, nur weil es die NPD ist, wir die jetzt nicht haben wollen. Aber ich bin, ehrlich gesagt, ganz froh, dass wir nicht automatisch jede Partei in diesen Gremien drin haben. Ich finde, das hat sich auch bewährt. Wir hatten in verschiedenen Landesparlamenten Auswüchse von Extremisten und es ist gut,
dass die nicht überall dabei waren und überall alles mitbekommen haben. Das ist keine juristisch, verfassungsrechtlich, dogmatisch einwandfreie Erklärung, denn da kann ich nicht differenzieren, wenn jemand gewählt ist, ist er gewählt. Aber wenn sie das Ziel verfolgen und auf der einen Seite sagen, „es ist schlimm, dass die da angeworben werden, obwohl sie selbst mittendrin sind“, dann ist es schwierig, auf der anderen Seite zu sagen, „bei dem Kontrollgremium will ich sie auch noch dabei haben“.
Becker: Ich würde gerne da einmal, bevor wir dann noch einmal auf den konkreten Fall zu sprechen kommen, abstrahieren von den konkreten Parteien und mich an Herrn Schmidt-Jortzig wenden wollen und die, Sie haben es eben gesagt, abstrakte rechtsdogmatische Frage aufwerfen. Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem Urteil im Zusammenhang mit Herrn Ramelow gesagt, die Beobachtung von Abgeordneten bedürfe keiner speziellen Ermächtigungsgrundlage. Das kann man kritisieren und man könnte eine extreme Gegenposition beziehen, die hier jedenfalls von Herrn Ahlhaus deutlich abgelehnt wurde und sagen – über Art. 38 GG oder wie man das immer begründet – die Beobachtung demokratischer Abgeordneter wäre generell unzulässig. Wie würden Sie sich da positionieren und wie beurteilen Sie das de lege lata und möglicherweise – wenn man dann etwas regeln müsste – de lege ferenda?
Schmidt-Jortzig: Wir müssen uns gar nicht auf den Art. 38 GG zurückziehen. Es gibt ja immerhin die konkrete Vorschrift mit der Indemnität der Abgeordneten. Alles, was die im Bereich ihrer parlamentarischen Tätigkeit machen, ist von irgendeiner Verfolgung ausgenommen, jedenfalls wenn man es im Zweifel für die parlamentarische Freiheit auslegt. Deswegen kann es nicht sein, dass die Arbeit im Ausschuss A oder im Ausschuss B, die der Abgeordnete da treibt, Gegenstand von Untersuchungen durch den Verfassungsschutz ist. Umgekehrt kann es aber auch nicht sein, dass das reine „Abgeordnetersein“ davor schützt, nicht auch kritisch unter die Lupe genommen zu werden, ob man sich nicht außerhalb seiner parlamentarischen Tätigkeit, unter anderem in seiner Partei, in den einzelnen Parteigremien, verfassungsfeindlich verhält. Da ist dann auch nach meiner Sicht für den Abgeordneten oder auch für den Bundespräsidenten, wenn er denn irgendwo Mitglied sein sollte, irgendeine besondere Ermächtigungsgrundlage vonnöten, um zu beobachten. Ob ich dann wirklich Herrn Ramelow – soweit ich den kenne, ist der in der Tat ein Gutmensch, aber nicht gefährlich – ob man den nun wirklich beobachten muss, nur weil er Mitglied bei den Linken ist und die Linken als Institution als verfassungsfeindlich eingeordnet werden. Das ist eine Frage des Fingerspitzengefühls und in dem Fall Ramelow ‑ zu dem 81-Jährigen kann ich nichts sagen ‑ würde ich schlicht sagen, das ist reichlich zu viel und das muss schleunigst beendet werden. Aber es gibt andere Abgeordnete, jedenfalls kenne ich das aus meiner Parlamentszeit, als die noch PDS hießen, bei denen ich mir gut vorstellen konnte, dass man da schon mal ein bisschen genauer hingucken müsste. Sonst will ich zu der ganzen Geschichte nichts näher sagen und ich habe auch den Eindruck, die Aufregung wäre längst nicht so groß, wenn man auf der rechten Seite irgendwelche Missstände auf irgendwelche Beobachtungstendenzen aufwürfe. Da läuft das und keiner regt sich auf. Ich habe mit großen Augen gelesen, dass der betreffende Fraktionsvorsitzende, der ist ja da, glaube ich, im mecklenburgischen Landtag, für Tätigkeiten im Parlament sogar zur Verantwortung gezogen wird. Das erstaunt mich staatsrechtlich, wobei dort ja auch noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Dort sollen wir also jedenfalls auf keinem Auge blind sein, sondern möglichst scharf auf jedem Auge. Das ist für mich unbestritten.
Becker: Den Punkt würde ich jetzt gerne noch einmal aufgreifen und diesen erst mal gerne an Herrn Gössner richten. Im NPD-Verbotsverfahren haben seinerzeit vier Richter, und das hat nicht gereicht, weil eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich ist, die Meinung geäußert, dass kein Verfahrenshindernis vorliegt und wollten daher das Verfahren weiter betreiben. Da wurde gesprochen vom, und ich zitiere jetzt, „Grundanliegen einer Verfassung, die sich nicht durch den Missbrauch der von ihr gewährten Freiheitsrechte zur Disposition stellen lassen will und mit gleicher Entschiedenheit der Verächtlichmachung und Herabwürdigung von Menschen oder Gruppen von Menschen entgegentritt“. So und in der Stoßrichtung gegen eine ja sicherlich in diesem Raum und weithin ja auch in unserer Gesellschaft konsensfähig als verfassungsfeindlich eingestufte Partei ist das ja erst einmal grundsympathisch. Wenn man diese Ansicht jetzt teilt, wäre man dann, wenn wir jetzt sozusagen wieder immanent argumentieren und sagen, der Verfassungsschutz beobachtet bestimmte NPD-Funktionäre und die werden dann ins Parlament gewählt, gezwungen, die Beobachtung zu beenden? Müsse sich, um dieses Beispiel mit der NPD zuzuspitzen, das ja auch schon gebracht wurde, müsste sich dann der Rechtsstaat, wenn man diese Position vertreten wollte, nicht gerade gegenüber seinen schlimmsten Feinden eigentlich am stärksten beweisen?
Gössner: Naja, das Erstaunliche ist ja nun, dass ausgerechnet der Verfassungsschutz es verhindert hat, dass die NPD verboten wird und dadurch überhaupt noch in Parlamente einziehen kann und auch Steuergelder bekommt. Und dass die NPD dann noch rassistisch geprägt wird und finanziert wird über V-Leute, über langjährige V-Leute, die Hunderttausende an Honoraren gekriegt haben, wie Herr Frenz zum Beispiel oder Herr Holtmann aus Nordrhein-Westfalen, das ist dann schon erstaunlich. Wie sich also ein staatliches Sicherheitsorgan verstrickt in eine solche menschenfeindliche Partei und es dann noch über diese Verstrickung verhindert, dass diese Partei auch möglicherweise verboten werden kann. Der Verfassungsschutz war so prägend in der NPD zu Gange, dass das Bundesverfassungsgericht zu Recht sagen musste, „nein, wir können ja gar nicht mehr unterscheiden, was sozusagen von staatlicher Seite mitgeprägt und was wirklich staatsfern ist“. Denn die Staatsferne ist eben nicht mehr gewährleistet gewesen. Da habe ich also ein grundsätzliches Problem mit dem staatlichen Umgang mit der NPD. Und es sind ja bis heute keine durchgreifenden Konsequenzen daraus gezogen worden. Es sind nach wie vor V-Leute auf allen Ebenen der NPD zugange, und zwar von Seiten des Bundes wie von etlichen Bundesländern, wenn auch nicht von allen. Einzelne Bundesländer, zumeist SPD-geführte, haben sich inzwischen entschieden, ihre V-Leute abzuziehen. Ob das wirklich schon gelaufen ist, weiß ich nicht. Aber zum jetzigen Zeitpunkt wäre es auf jeden Fall widersinnig, ein neues NPD-Verbotsverfahren anzuzetteln; es wäre viel zu riskant. Und mit dem, was jetzt der Bundesinnenminister versucht, nämlich mit Belastungsmaterial, das nicht von V-Leuten stammt,
ein NPD-Verbotsverfahren zu bestreiten, damit habe ich meine Probleme. Die NPD ist nach wie vor über V-Leute staatlich mitgeprägt, auch wenn man die V-Leute nicht als Zeugen braucht. Aber das Material oder die Gesinnung, all das, was in der NPD virulent ist, ist eben auch von V-Leuten geprägt.
So, zu Bodo Ramelow vielleicht noch ein Satz: Es wurde ja gesagt, dem sei nichts vorzuwerfen, das sage ja auch das Bundesverwaltungsgericht. Aber es ist schon befremdlich, wie das Bundesverwaltungsgericht begründet, warum Ramelow trotzdem beobachtet werden soll und kann. Da heißt es: Ebenso gefährlich wie Personen, die der FDGO feindlich gegenüberstehen oder sie beseitigen wollen, „können Personen sein, die selbst auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehen, jedoch bei objektiver Betrachtung durch ihre Tätigkeit verfassungsfeindliche Bestrebungen fördern, ohne dies zu erkennen (…). Eine derartige Person, die nicht merkt, wofür sie missbraucht wird, kann für den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung genauso gefährlich sein wie der Überzeugungstäter.“ Das ist die Figur des nützlichen Idioten, die dafür herhalten muss, dass jemand, dem man nichts vorwerfen kann, in einer solchen Partei eben auch beobachtet wird. Das ist hoffentlich nicht das letzte Wort – und wird jetzt hoffentlich vom Bundesverfassungsgericht revidiert.
Becker: Das wollte ich gerade sagen. Dieses Urteil ist überwiegend auch sehr kritisch rezipiert worden, jedenfalls zwei Anmerkungen sind mir bekannt. Und es wird sicherlich noch zum Bundesverfassungsgericht führen. Wir wollen jetzt sehr gerne noch Beiträge aus dem Auditorium haben.
Tabbert: Ich möchte nur noch ganz kurz klarstellen: Natürlich geht es mir nicht darum, welcher parteipolitische Hintergrund besteht. Mir geht es nur darum, dass man vielleicht eine Grenze ziehen muss: Wo wird nur Gesinnung überwacht? Das meine ich mit Gesinnungsschnüffelei. Ich lasse Frau Lötzsch gerne alleine vom Kommunismus träumen, ohne beobachtet zu sein. Da bin ich, glaube ich, auch nicht zu liberal. Aber wenn ich sehe, da gibt es Kontakte ins gewaltbereite Spektrum, dann ist es wieder etwas anderes. Also wenn man das z.B. an das Kriterium Gewaltbezug oder gewaltbezogener Extremismus knüpfen würde usw., dann geht es in der Tat nicht darum. Aber gestatten Sie mir die letzte Bemerkung: Frau Artus von der Linken wirkt auf mich z.B. friedlicher als Herr Apfel von der NPD. Deswegen hatte ich diesen Vergleich gewählt.
Becker: In Niedersachsen gab es tatsächlich eine Beschränkung der Ermittlungstätigkeiten auf Personen der Gruppen, die sich „aggressiv-kämpferisch“ gebärden, aber das ist mittlerweile wieder abgeschafft worden. Aber damit wollen wir jetzt dann wirklich ins Auditorium gehen. Ich würde vorschlagen, dass wir tatsächlich konkret die Leute ansprechen, also nicht sammeln, sondern dass Sie sich an einen bestimmten Diskutanten richten und dass wir das dann auch direkt beantworten lassen.
Zuschauer: Wenn ein Missstand auftritt, ob im Staat oder in der Wirtschaft, dann wird erst einmal geschrien: „Neue Regelungen, neue Gesetze!“ – „Jetzt haben wir wieder ein Papier“ – und dann schläft man wieder ruhig weiter. Es können aber nicht nur die technischen Maßnahmen und die organisatorischen Überlegungen das Schiff retten. Die Frage ist: Wer bewacht den Wächter? Wie – und von wem – werden die Personen ausgewählt, die unter Sachgesichtspunkten bei der Besetzung der Ämter qualifizierter Sachbearbeiter im Verfassungsschutz – also Abteilungsleiter oder auch Präsident – Entscheidungen treffen? Meine Befürchtung ist, dass hier viel zu oft politische Überlegungen und personelle Überlegungen eine Rolle spielen und nicht die Sachempfindlichkeit.
Schmidt-Jortzig: Wir bewegen uns in meiner Diskussion innerhalb des Verfassungsschutzes in einer Beamtenhierarchie, also im öffentlich-rechtlichen Bereich. Und da ist Aufsicht etwas, das nicht übertroffen werden kann, wenn es darum geht, die Richtigkeit, die Trefflichkeit und Leistungsfähigkeit des einzelnen Funktionswalters sicherzustellen. Da bleibe ich dabei, dass da immer die Krux viel eher angesiedelt ist als beim Fehlen irgendeiner normativen Vorschrift. Als Sie ansetzten und sagten „Dann beruhigt sich wieder alles, wenn wieder was Neues am schwarzen Brett steht!“. Das ist in der Politik ja auch immer so. Da wird sofort am Gesetzesrad gedreht und dann zeigt man der Öffentlichkeit, wie toll aktiv man geworden ist, und an der Realität hat sich damit überhaupt nichts geändert. Im Übrigen habe ich ganz andere Vorstellungen von V-Leuten, als es von Herrn Gössner gekommen ist. Dass die über die Stränge schlagen, hat nichts mit dem Institut „V-Leute“ zu tun, sondern mit ihrer nicht hinreichenden Kontrolle. Und alles, was darüber hinausgeht über die Grenzen, die da gesetzt sind, muss unterbunden werden, und wenn es nicht unterbunden wird, dann sind die zuständigen Beamten dafür verantwortlich, die diese V-Leute laufen lassen bzw. führen. Also bei der Personalauswahl ist bei den V-Leuten nicht viel Zusätzliches zu gewinnen, aber bei den Laufbahnbeamten natürlich. Und ob da wirklich die Ämterpatronage so stark schon ist, dass auch der einzelne Fachbeamte von Vornherein nicht hinreichend leistungsorientiert eingestellt wird, bezweifle ich nach wie vor. Tendenzen sind da möglicherweise. Beim Verfassungsschutz, ob nun beim Bundesamt oder beim Landesamt, werden die auch alle noch sicherheitsüberprüft. Na schön, da kann man wieder sagen: Wer überprüft die Überprüfer? Irgendwo ist da jedes System möglicherweise anfällig. Aber den Anfängen wehrt man meines Erachtens am besten, indem man wirklich die Aufsichtsführenden auch zur Verantwortung zieht. Bislang habe ich nichts gehört, das in irgendeinem Ministerium irgendjemand ernsthaft zur Verantwortung gezogen worden wird. Die sagen alle: „Wir wüssten von nichts, wir haben von nichts gewusst.“ Ja, dann haben sie ihre Aufsichtspflicht massiv verletzt, wenn sie von nichts gewusst haben. Das kann sie eigentlich nicht entbinden, sondern eher noch tiefer reinreiten.
Zuschauer: An Herrn Ahlhaus habe ich zwei Fragen. Die erste: Sie haben gesagt, dass der Verfassungsschutz sich bewährt habe, nannten dafür aber gar keine Kriterien? Und die zweite: Warum wird in Hamburg eine viel grössere Summe für den Verfassungsschutz aufgewendet als in anderen Bundesländern? Ist Hamburg so stark gefährdet?
Ahlhaus: Die letzte Frage kann ich ganz schnell beantworten: Das liegt daran, dass wir in Hamburg ein bisschen vielleicht schon von den in den letzten Jahren vorweggenommen haben, worüber jetzt auf Bundesebene und auch vorhin auf dem Podium diskutiert haben, nämlich die Zusammenarbeit der benachbarten Bundesländer. Das Landesamt für Verfassungsschutz in Hamburg arbeitet sehr eng mit den Landesämtern, vor allem nördlich und östlich, zusammen und nimmt auch manche Aufgaben in einer Art Auftragswahrnehmung
wahr und wird deswegen tätig für andere Länder, weil hier eben die Technik da ist und das Personal. Dafür gibt es allerdings einen finanziellen Ausgleich; möglicherweise bildet das diese Statistik nicht ab, auf die Sie anspielen.
Das andere war die Frage, warum ich glaube, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz sich insgesamt bewährt habe. Das sehen Sie daran, dass unsere Verfassung doch sehr stabil ist, auch im Vergleich zu anderen demokratischen, auch europäischen, Ländern und wir doch bei allen Schwierigkeiten, die es auch hier gibt, und bei allen Gefahren von rechts und von links, die auch dieser Rechtsstaat hier ausgesetzt ist, es mit einer ungeheuren Stabilität in diesem Land zu tun haben. Ich sage nicht, dass alles nur dem Verfassungsschutz zu verdanken ist. Aber ich glaube auch, dass der Verfassungsschutz, anders als Herr Gössner es meint, hier einen wertvollen Beitrag geleistet hat.
Zuschauer: Ich habe eine Frage an Herrn Gössner bezüglich der parlamentarischen Kontrollgremien: Herr Ahlhaus hat gesagt, es sei ihm ganz sympathisch, dass die NPD nicht drin ist. Das wäre für mich auch ein Problem, wenn NPD-Mitglieder in solchen Kontrollgremien wären. Was haben Sie da für einen Lösungsweg?
Gössner: Ich meine, wenn Abgeordnete vom Volke gewählt werden, dann haben sie auch die Rechte wie alle anderen Abgeordneten. Das wäre sonst Willkür, das kann man nicht machen, es sei denn, den Betreffenden wird tatsächlich individuell etwas Strafbares vorgeworfen. Dann sind sie entsprechend zu behandeln. Aber wenn es um Gesinnung geht, kann man sie nicht ausschließen. Was haben wir eigentlich für ein Demokratieverständnis, frage ich mich ohnehin bei der ganzen Diskussion, das sind alles Dinge, die weit in den Gesinnungsbereich gehen. Wenn man die Verfassungsschutzakten durchschaut, etwa meine eigene Personenakte, dann wird einem schwindelig. Das ist doch nicht mehr zu fassen, dass man so etwas verteidigt als Demokrat. Also wie gesagt: So schlimm auch immer die Auffassung von NPD-Leuten bzw. der gesamten NPD auch sein mag, menschenfeindlich bis sonst was: Sie sind nun mal gewählt und nicht verboten. Die Möglichkeit, Parteiverbote zu verhängen, war im Übrigen ohnehin lange ein Unikum in West-Europa –.ich habe da auch meine Probleme, denn das ist ja kein Allheilmittel. Wir kriegen die Phänomene und Probleme nicht durch Verbote beseitigt und gelöst, das muss man sich immer wieder klar machen.
Ahlhaus: Ich würde da gerne ein Satz ergänzen: Ich stimme Herrn Dr. Gössner da völlig zu und möchte da nicht missverstanden werden. Ich habe gesagt, ich finde es sympathisch, dass das Verteilungsverfahren in den Parlamenten so funktioniert. Aber, Herr Gössner hat völlig Recht, auch eine Partei, die mir nicht gefällt, ob rechts oder links oder sonst wie, kann nicht per se ausgeschlossen werden. Auch Abgeordnete nicht von der Teilhabe an dem, was parlamentarische Wirklichkeit ist. Und das ist der zweite Punkt, da gebe ich ihm auch Recht, gleiches gilt für diese Verbotsverfahren von Partien. Ich bin da wesentlich zurückhaltender als die gesamte öffentliche Wahrnehmung, auch da, völlig egal ob rechts oder links, aber eine Parteiverbot muss im demokratischen Rechtsstaat wirklich das allerletzte Schwert sein, zudem der Staat greifen kann, weil sonst die Gefahr besteht, dass irgendwann ein Staat sich die Parteien so zurecht legt, wie er sie gerne hätte. Deswegen, auch wenn es manche verwundern mag, in beiden Punkten möchte ich da Herrn Dr. Gössner völlig zustimmen.
Becker: Das ist für ein doch streitigeres Gespräch als man bei vier Personen hätte vermuten können, ein schöner, durch die Zeit gezogener Abschluss. Ich war überrascht, wie viel wir geschafft haben und hatte erst noch Zweifel, ob wir genug Themen haben, um die Gesprächszeit zu füllen. Man hätte aber noch lange weiterdiskutieren können. Ich möchte vielleicht abschliessend ein Zitat anbringen, das dann auch für alle Beteiligten, je nach eigener Interpretation, konsensfähig ist: Herr Professor Dr. Johannes Masing, Richter am Bundesverfassungsgericht, hat vor kurzem geschrieben: „Unsere Ordnung ist auf das Vertrauen der Kraft Freiheit gegründet. Das Grundgesetz mit seinen Freiheitsgarantien und den konsequent begrenzten und veräusserlichten Bestimmungen zur wehrhaften Demokratie, hat sich dazu mit grossem Mut bekannt. Ein solches Vertrauen müssen und dürfen wir auch heute noch haben. Verlieren wir dieses, verlieren wir was, wir zu retten versuchen und verlieren uns selbst.“
Die Redaktion des Bucerius Law Journal dankt den beteiligten Diskutanten, den Gästen im Auditorium sowie der Kanzlei Morgan, Lewis & Bockius LLP, die das Streitgespräch dankenswerterweise unterstützte.