by Gregor Gysi*
Der Fiskalvertrag als ein Element der autoritären europäischen Krisenpolitik lässt sich nicht nur politisch kritisieren, weil mit ihm Entdemokratisierung, Sozialabbau, Verarmung und Spaltung Europas weiter vorangetrieben werden. Der Fiskalvertrag ist auch verfassungsrechtlich angreifbar.
Der Fiskalvertrag beschneidet massiv die Budgethoheit des Parlamentes und verstößt gegen das Demokratieprinzip. Dies gilt insbesondere für Schuldenbremse und Schuldenabbauregelungen, sowie deren Durchsetzung und für die Unkündbarkeit des Fiskalvertrages. Gleichzeitig tangiert der Zwang zu einer dauerhaften Politik der Ausgabenkürzung mit ihren Auswirkungen auf die Menschen nicht nur in Südeuropa, sondern auch in Deutschland das Sozialstaatsprinzip.
I. Schuldenbremse und Schuldenabbauregel
1. Die geplanten Regelungen
Mit dem Fiskalvertrag verpflichten sich die Staaten, dauerhafte Schuldenbremsen, vorzugsweise mit Verfassungsrang, in ihre Rechtsordnung aufzunehmen (Art. 3 Abs. 2). Das jährliche strukturelle Defizit darf in Staaten, deren Schuldenstand nicht erheblich unter 60 % des BIP liegt, 0,5 % des BIP nicht überschreiten.
Zwar existiert im Grundgesetz für Bund und Länder bereits eine Schuldenbremse (Art. 109 Abs. 3 GG), nicht jedoch für Kommunen und Sozialversicherungsträger. Auch bestehen Unterschiede bei der Berechnung des strukturellen Defizits.1 Bisher musste das mittelfristige Haushaltsziel nicht in jedem einzelnen Jahr erreicht werden. Das würde sich nun ändern.2
Für die Umsetzung der deutschen Schuldenbremse ist für den Bund ein Übergangszeitraum bis 2016 und die Länder bis 2020 vorgesehen. Bis dahin sollen die vorgesehenen strukturellen Defizitgrenzen für den Bund (0,35 % BIP) bzw. die Länder (Abbau der der strukturellen Neuverschuldung auf Null) erreicht sein. Da der Fiskalpakt ab 1.1.2013 in Kraft treten und die Vertragsparteien innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten seine Ziele in nationales Recht umsetzen sollen3, ergibt sich hiermit ein klarer Widerspruch zu den Bund und Ländern grundgesetzlich garantierten Ermessens- und Gestaltungsspielräumen gemäß Art. 143d GG.
Zwischen der Schuldenbremse des Fiskalpaktes und der deutschen Schuldenbremse besteht ein weiterer bedeutsamer Unterschied. Die deutsche Schuldenbremse ermöglicht den Ländern eine Kreditaufnahme bereits bei einer von der „Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung“. Weiterhin verleiht Art. 109 GG den Ländern ausdrücklich die Kompetenz, diese „Konjunkturkomponente“ der Schuldenbremse selbst zu regeln. Die Schuldenbremse in der Variante des Fiskalpaktes ermöglicht das jedoch nur bei einem „schweren Konjunktureinbruch“ (Art. 3, Absatz 3 b) sowie bei außergewöhnlichen Ereignissen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und erhebliche Auswirkungen auf die Lage der öffentlichen Finanzen haben oder bei einem schweren Konjunkturabschwung, vorausgesetzt, die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen ist nicht gefährdet (Art. 3 Abs. 1 c, 3).
Die Schuldenabbauregel des Art. 4 sieht vor, dass Mitgliedstaaten, deren Schuldenstand mehr als 60 % des BIP beträgt ‑ d.h. auch die Bundesrepublik Deutschland ‑ die diesen Wert übersteigenden Schulden um 20 % pro Jahr abbauen müssen. Nach Berechnungen des DGB kämen auf die BRD danach zusätzliche Einsparungen i.H.v. 25 bis 30 Mrd. € pro Jahr zu.4
2. Verfassungsrechtliche Bedenken
Bereits gegen die Einführung der Schuldenbremse ins Grundgesetz 2009 wurden verfassungsrechtliche Bedenken vorgebracht.5 So wurde zu Recht kritisiert, dass die Schuldenbremse
* Der Verfasser ist Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE im Bundestag.
1 WD 4 – 3000 – 060/12, S. 3.
2 BMF, Neue Vorgaben des Fiskalvertrags, April 2012, S. 2.
3 BMF, Factsheet Fiskalvertrag und ESM, März 2012.
4 DGB, Fiskalpakt zementiert Sozialabbau, in: Klartext 09/2012, http://goo.gl/JsJdp.
5 Prof. Hans-Peter Schneider, Die Haushaltswirtschaft der Länder – Verfassungsrechtliche Grenzen einer „Schuldenbremse“; Hans-Joachim Jentsch, in: FAZ v. 08.02.2009; Professor Bardo Fassbender, NVwZ 2009, 737.
in die Haushaltsautonomie und die Eigenstaatlichkeit der Länder eingreife. Die Befürworter hingegen beriefen sich darauf, dass den Ländern insbesondere durch die Möglichkeit der Kreditaufnahme aus konjunkturellen Gründen ausreichend Spielraum bleibe.6 Dieser Spielraum wird jedoch mit dem Fiskalvertrag in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise eingeschränkt. Eine von der Normallage abweichende konjunkturelle Entwicklung soll danach nicht mehr ausreichen. Vielmehr muss ein schwerer Konjunkturabschwung vorliegen. Aber auch dann dürfen Kredite nur aufgenommen werden, wenn dies nicht die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen gefährdet (Art. 3 Abs. 3 b). Dies schränkt auch nach Auffassung der Bundesregierung die Möglichkeit und den Umfang vorübergehender Abweichungen deutlich ein.7 Damit wird zugleich auch die Finanzhoheit der Kommunen verletzt.
Die Umsetzungs- und Übergangsfristen des Fiskalvertrags stehen überdies im Widerspruch zu Art. 143d GG.
Gleichzeitig dürfte die Schuldenbremse des Fiskalvertrags gegen das Sozialstaatsprinzip verstoßen. Es stellt sich angesichts des immer kleiner werdenden Spielraums die Frage, ob die Mitgliedstaaten noch das Recht und die praktischen Handlungsmöglichkeiten haben, für soziale Sicherungssysteme und andere Maßnahmen der Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik konzeptionelle Entscheidungen in ihren demokratischen Primärräumen zu treffen (BVerfG, Urteil v. 30.06.2009, Rn. 399).
Höchst fragwürdig im Hinblick auf das Wesentlichkeitsprinzip und den Bestimmtheitsgrundsatz ist schließlich, dass der zeitliche Rahmen zur raschen Annäherung an das mittelfristige Ziel (Art. 3 I b) erst noch von der Kommission vorgeschlagen werden muss. Das Bundesverfassungsgericht geht in seinem Maastricht-Urteil davon aus, dass ein Gesetz, das die übertragenen Rechte und das beabsichtigte Integrationsprogramm nicht hinreichend bestimmbar festlegt, Art. 38 GG verletzt (Rn. 105 f.). Das dürfte auch für einen völkerrechtlichen Vertrag wie den Fiskalvertrag gelten.8
II. Durchsetzung der Schuldenbremse und Schuldenabbauregel
1. Die geplanten Regelungen
Die Vertragsstaaten verpflichten sich – ebenfalls dauerhaft und vorzugsweise mit Verfassungsrang –, einen automatischen Korrekturmechanismus einzurichten (Art. 3 Abs. 1 e). Dieser soll bei erheblichen Abweichungen vom mittelfristigen Ziel oder Anpassungspfad ausgelöst werden. Daneben soll auch eine unabhängige nationale Überwachungsinstitution eingerichtet werden (Art. 3 Abs. 2). Die Kommission erlässt hierzu gemeinsame Grundsätze.
Die Umsetzung der Schuldenbremse – inkl. automatischen Korrekturmechanismus – in nationales Recht wird vom EuGH überwacht und sanktioniert (Art. 8). Zwar wurde nach längerer Diskussion darauf verzichtet, der Kommission ein diesbezügliches Klagerecht einzuräumen. Die Staaten, die den Dreiervorsitz im Rat der Europäischen Union führen, sind jedoch verpflichtet zu klagen, wenn die Kommission in ihrem Bericht zu dem Schluss gelangt, dass ein Staat die Schuldenbremse und den automatischen Korrekturmechanismus nicht hinreichend umgesetzt hat (Protokoll über die Unterzeichnung des Fiskalvertrags).
Defizitverfahren können künftig leichter, nämlich quasi-automatisch, eingeleitet werden. Für die Feststellung, dass ein Defizit besteht, soll im Rat die umgekehrte qualifizierte Mehrheit gelten: Die Vertragsstaaten verpflichten sich diesbezügliche Vorschläge oder Empfehlungen der Kommission im Rat zu unterstützen, es sei denn eine qualifizierte Mehrheit stimmt dagegen (Art. 7). Staaten, gegen die ein Defizitverfahren läuft, sind verpflichtet, ihre Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramme der Kommission und dem Rat zur Genehmigung und Überwachung vorzulegen (Art. 5). Inhalt und Form der Programme müssen erst noch im Recht der EU festgelegt werden.
2. Verfassungsrechtliche Bedenken
Der automatische Korrekturmechanismus dürfte gegen das Budgetrecht verstoßen. Es ist nicht ersichtlich wie er uneingeschränkt die Vorrechte der nationalen Parlamente wahren soll – wie es in Art. 3 Abs. 2 des Fiskalvertrags heißt -, wenn er automatisch greift und die Staaten verpflichtet, innerhalb eines festgelegten Zeitraums Maßnahmen zur Korrektur der Abweichungen zu treffen. Hinzu kommt noch, dass die Kommission es in der Hand hat, Gemeinsame Grundsätze für die nationalen Korrekturmechanismen vorzulegen. Letzteres dürfte auch wieder gegen das Bestimmtheitsgebot und das Wesentlichkeitsprinzip verstoßen. Inzwischen liegt zwar immerhin ein erster Entwurf der Grundsätze vor. Die Abstimmungen im Wirtschafts- und Finanzausschuss der EU zur Ausgestaltung des Korrekturmechanismus dauern aber weiter an. Wann eine endgültige Fassung vorgelegt werden wird, ist nicht absehbar. Es ist durchaus möglich, dass der Bundestag über das Vertragsgesetz abstimmen wird, ohne zu wissen wie der Korrekturmechanismus aussehen wird.
Gleichzeitig dürfte der Korrekturmechanismus gegen die Haushaltsautonomie von Ländern und Kommunen und das Sozialstaatsprinzip verstoßen.
Bei der unabhängigen Überwachungskommission stellt sich die Frage nach der demokratischen Legitimation. Nach Auffas-
6 BT-Drs. 16/12410, S. 6.
7 Denkschrift zum Gesetz zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, S. 6.
8 Vgl. BVerfG, Urteil vom 7. September 2011, Rn. 98.
sung des Bundesfinanzministeriums soll sie aus Vertretern der Deutschen Bundesbank, des Sachverständigenrates, der an der Gemeinschaftsdiagnose beteiligten Forschungsinstituten und aus Sachverständigen, die von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden benannt werden, bestehen.
Bedenklich ist auch, dass dem EuGH die Kontrollbefugnis über die korrekte Umsetzung der Schuldenbremse in nationales Verfassungsrecht eingeräumt wird.
Am verfassungsrechtlich problematischsten dürfte die Genehmigungspflicht für Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramme sein. Es erschließt sich nicht, wie eine solche Vorschrift mit dem Budgetrecht des Parlamentes und dem Demokratieprinzip vereinbar sein soll. An dieser Stelle sei an die zentrale Bedeutung des Budgetrechts für die Demokratie erinnert.9 Hier werden die Weichenstellungen für das Leben in der Gesellschaft gelegt. Hier wird entschieden, wofür wie viel Geld ausgegeben wird. Das Bundesverfassungsgericht betont daher, dass der Bundestag die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen behalten müsse. Er müsse seine Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmung seitens der Organe und anderer Mitgliedstaaten der EU treffen können und dauerhaft Herr seiner Entschlüsse bleiben.10 Auch der Verfassungsrichter Ferdinand Kirchhof hält es politisch für eine finstere Vision, wenn ein Brüsseler Sparkommissar das letzte Wort über den Bundeshaushalt hätte. Verfassungsrechtlich bilde die Budgethoheit eine Kernkompetenz des Parlaments.11Das verletzt Art. 20 GG und auch Art. 79 Abs. 3 GG.
Schließlich ist auch die Stärkung der Kommission im Defizitverfahren durch die umgekehrt qualifizierte Mehrheit (Art. 7) im Hinblick auf das Demokratieprinzip bedenklich.
III. Unkündbarkeit des Fiskalpakts
Der Vertrag selbst enthält keine Beendigungsvorschriften. In solchen Fällen ist eine einseitige Kündigung nach der Wiener Vertragsrechtskonvention nur zulässig, wenn die Vertragsparteien beabsichtigten, eine Kündigung zuzulassen oder sich ein Kündigungsrecht aus der Natur des Vertrags herleiten lässt (Art. 56). Dies ist auch nach Auffassung der Bundesregierung nicht der Fall.12 Eine einseitige Beendigung kommt vorliegend auch nicht wegen Vertragsverletzung (Art. 60), Unmöglichkeit (Art. 61), grundlegender Änderung der Umstände (Art. 61) oder Entstehung entgegenstehenden ius cogens (Art. 64) in Betracht. Die Beendigung eines multilateralen Vertrags wegen einer erheblichen Vertragsverletzung ist nur einvernehmlich möglich. Unmöglichkeit liegt nur bei endgültigem Verschwinden oder Vernichtung eines zur Ausführung des Vertrags unerlässlichen Gegenstandes vor. Eine grundlegende Änderung der Umstände kann nur geltend gemacht werden, wenn sie nicht vorausgesehen und nicht selbst herbeigeführt wurde. Dass die Stabilitätspolitik aber auch fehlschlagen kann, wird durchaus in Betracht gezogen und wäre daher nicht unvorhersehbar13 und selbst bei einem Austritt aus der EU wäre der Wegfall der Geschäftsgrundlage selbst herbeigeführt. Schließlich ist auch die Entstehung einer neuen – dem Fiskalvertrag entgegenstehenden – zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts recht unwahrscheinlich.
Damit bindet sich die BRD völkerrechtlich, „keine Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes, insbesondere der Artikel 109, 115 und 143d des Grundgesetzes, die diesem Vertrag entgegenstehen würden, vorzunehmen“.14 Das ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. Es verstößt auch gegen Art. 79 GG, weil die Schuldenbremse nicht unter die Ewigkeitsgarantie fällt und es daher im Belieben des Gesetzgebers steht, sie jederzeit und autonom mit 2/3 Mehrheit wieder aus dem Grundgesetz zu streichen oder zu ändern.
Den Befürwortern des Fiskalvertrags ist zuzugeben, dass der Gesetzgeber sich über die völkerrechtliche Bindung hinwegsetzen und die Schuldenbremse wieder aus dem Grundgesetz streichen könnte. Diese Option des Vertragsbruchs dürfte aber den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügen. Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass Integrationsschritte prinzipiell widerruflich sein müssen.15 Wenn man aber wie die Bundesregierung davon ausgeht, dass der Fiskalvertrag eine der Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union vergleichbare Regelung darstellt (und deshalb entsprechend Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 2 GG der Zustimmung von 2/3 der MdB bedarf)16, muss auch der Grundsatz der Reversibilität entsprechend angewandt werden.17 Das besondere Schutzbedürfnis, das sich aufgrund des schon erreichten Integrationsstands der EU ergibt,18 besteht auch dann, wenn sich die EU-Staaten – wie hier – nicht auf eine Vertragsänderung nach Art. 48 EUV einigen können und deshalb die „Umgehung“ über einen völkerrechtlichen Vertrag wählen. Nebenbei bemerkt würde sich die BRD bei einem
9 In seinem Lissabon-Urteil vom 30.06.2009 zählt das BVerfG die Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme zu den wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung (Rn. 249). Die Hoheit über den Haushalt sei der Ort konzeptioneller politischer Entscheidungen über den Zusammenhang von wirtschaftlichen Belastungen und staatlich gewährten Vergünstigungen. (Rn. 256). In seiner 9er-Gremium-Entscheidung vom 28.02.2012 hebt das BVerfG erneut die zentrale Bedeutung des Budgetrechts für die demokratische Willensbildung hervor (Rn. 105).
10 BVerfG, Urteil vom 07.09.2011, Rn. 124, 127.
11 Die Welt v. 05.02.2012.
12 Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Steffen Kampeter auf die Nachfrage zur schriftlichen Frage Nr. 227 des MdB Alexander Ulrich.
13 Vgl. Prof. Ingolf Pernice, Ausschussdrucksache 17 (21)1038 – Anlage I, S. 7, wonach eine Berufung auf die „clausula rebus sic stantibus“ kaum möglich ist, weil die Risiken für Wachstum und sozialen Frieden bekannt sind, wenn sich die Ausgewogenheit des Haushalts überhaupt erreichen lässt.
14 Begründung zum Vertragsgesetz, BT-Drs. 17/9046.
15 BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08, Rn. 233.
16 BT-Drs. 17/9046, S. 4.
17 Vgl. auch BVerfG, Urteil v. 07.09.2009, Rn. 98.
18 Vgl. Prof. Ulrich Häde, Ausschussdrucksache 17 (21)1038 – Anlage 3, S. 2.
Vertragsbruch Sanktionszahlungen aussetzen. Es spricht auch nicht gerade für die Europa- und Völkerrechtsfreundlichkeit der Befürworter, noch bevor der Fiskalvertrag überhaupt ratifiziert ist, in Betracht zu ziehen, diesen gegebenenfalls nicht mehr anzuwenden und zur Not aus der EU auszutreten.19
IV. Parlamentsbeteiligung
Wieder einmal wurde das Europarecht mit seinen sowieso schon geringen demokratischen Anforderungen an eine Parlamentsbeteiligung umgangen – es wurden weder die Verträge gem. Art. 48 EUV im Konventverfahren geändert, noch das Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit gem. Art. 326 ff. AEUV gewählt – und auf das Völkerrecht ausgewichen.
Der Fiskalvertrag selbst sieht eine Beteiligung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente so gut wie nicht vor,20 insbesondere müssen sie nicht an der Ausgestaltung des automatischen Korrekturmechanismus beteiligt werden.21 Damit wird das demokratische Defizit bei der europäischen Wirtschaftspolitik weiter verstärkt.22
Dies könnte deshalb problematisch sein, weil insbesondere mit der Genehmigung der Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramme durch die Kommission aber auch mit den Ausgestaltungsmöglichkeiten des Korrekturmechanismus etc. durch die Kommission und der Kontrollbefugnis des EuGH der EU weitere Kompetenzen übertragen werden. Eine Verstärkung der Integration kann aber nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts verfassungswidrig sein, wenn das demokratische Legitimationsniveau mit dem Umfang und dem Gewicht supranationaler Herrschaftsmacht nicht Schritt hält.23 Es geht zwar davon aus, dass solange und soweit das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in einem Verbund souveräner Staaten gewahrt bleibe, grundsätzlich die über nationale Parlamente und Regierungen vermittelte Legitimation der Mitgliedstaaten ausreiche, die ergänzt und abgestützt werde durch das Europäische Parlament. Die Demokratie der Europäischen Union müsse nicht staatsanalog ausgestaltet sein, solange die europäische Zuständigkeitsordnung nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in kooperativ ausgestalteten Entscheidungsverfahren unter Wahrung der staatlichen Integrationsverantwortung bestehe und solange eine ausgewogene Balance der Unionszuständigkeiten und der staatlichen Zuständigkeiten erhalten bleibe.24
Es stellt sich aber die Frage, ob sich diese Balance mit dem Fiskalvertrag nicht zugunsten der EU verschiebt. Selbst wenn dem nicht gefolgt werden sollte, dürfte die Verstärkung der Integration problematisch sein, weil nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass sich die demokratische Legitimation der EU über die nationalen Parlamente vermitteln lässt, wenn diesen mit dem Budgetrecht die Kernkompetenz in beachtlichem Umfang genommen wird. Auch nach Kirchhof könnte ein Stück national bestimmter Demokratie in der Union wegbrechen, wenn ein europäischer Sparkommissar über nationale Haushalte entscheidet.25
B. Fazit
Vor diesem Hintergrund haben wir uns entschieden vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Fiskalvertrag zu klagen.
19 So Prof. Franz C. Mayer, 13 Thesen zu Fiskalvertrag und ESM, Deutscher Bundestag, Haushaltsausschuss, Protokoll Nr. 17/88, Anlage 4, Prof. Christoph Herrmann, Ausschussdrucksache 17 (21)1038 – Anlage 3, S. 10.
20 Der Vertrag bestimmt lediglich, dass der Präsident des Europäischen Parlaments zum Euro-Gipfel eingeladen werden kann, um gehört zu werden (Art. 12 Abs. 5) und dass das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente Konferenzen organisieren können (Art. 13).
21 Krit. auch Prof. Ingolf Pernice, Ausschussdrucksache 17 (21)1038 – Anlage I, S. 8.
22 So wird das Europäische Parlament im Defizitverfahren nur angehört (Art. 126 Abs. 14). Auch im Bereich der wirtschaftspolitischen Koordinierung spielt das EP eine marginale Rolle. Nach Art. 121 AEUV wird es über die Grundzüge der Wirtschaftspolitik vom Rat lediglich unterrichtet und über die multilaterale Überwachung wird ihm nur Bericht erstattet.
23 BVerfG, Urteil vom 30.06.2009, Rn. 262.
24 BVerfG, Urteil vom 30.06.2009, Rn. 272.
25 Die Welt v. 05.02.2012.