Vagheit im Recht – Recht und Sprache

by Philipp Lassahn*

A. Einleitung

Sprache ist die notwendige Form des Rechts. Auch wenn man nicht bis zu der Behauptung gehen muss, Recht sei nichts anderes als Sprache, ist dennoch klar, dass Recht als soziales Ordnungssystem maßgeblich auf Verhaltenskoordination, folglich auf Kommunikation und Sprache angewiesen ist. Auf einen ersten Blick scheint also eine möglichst präzise Sprache erstrebenswert, um Rechte und Pflichten möglichst unzweifelhaft darstellen und den Normadressaten in seinen Handlungen anleiten zu können.

Spätestens seit der Arbeit Wittgensteins aber hat sich eine allgemein skeptische Grundhaltung über die Grenzen der Verbindlichkeit und Exaktheit von Sprache etabliert; die Illusion einer semantisch präzise darstellbaren Welt ist – sollte sie je existiert haben – längst zerflossen.1 Sprache ist per se ungenau, Worte und Begriffe sind in aller Regel unbestimmt. Hierbei lässt sich Vagheit grob als die Grenzenlosigkeit von Begriffen skizzieren und stellt die regelmäßig problematischste Spielart sprachlicher Unbestimmtheit dar.2

In der Tat stellt die Erkenntnis solcher Unbestimmtheit den stets um einen präzisen Sprachgebrauch bemühten Juristen vor eine Herausforderung; der Umgang mit unklaren Begriffen ist nichts weniger als das tägliche Brot vieler (Revisions-)Gerichte und Rechtsstudenten.3 Gerade weil Sprache eine höchst prominente Stellung im Rechtssystem einnimmt, verlangt ihm die Erkenntnis ihrer Unbestimmtheit – und vornehmlich ihrer Vagheit – eine Antwort ab.

Daher soll im Folgenden eine Untersuchung der Implikationen von Vagheit im Recht unternommen werden. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung und Weite des Themas ist die Untersuchung in zwei Teilbeiträge gegliedert. Im ersten Teil soll ausgehend von Begriffsbestimmung und Kategorisierung (B) beschrieben werden, wie sich Vagheit im Recht auswirkt (C). Im zweiten Teil (BLJ 2/2012) werden außerrechtliche Ansätze zur Erklärung von Vagheit dargestellt und in ihrer Übertragbarkeit auf rechtliche Folgefragen diskutiert (D). Darauf aufbauend wird untersucht, wie sich der Umgang mit Vagheit im rechtlichen Entscheidungsprozess rechtsstaatlich legitimieren und schlüssig begreifen lässt (E). Im Anschluss wird eine Behandlung der Frage folgen, ob Vagheit im Recht ein eigenständiger Wert zukommt oder ob sie lediglich als ein in Kauf zu nehmendes Übel angesehen werden kann (F).

B. Vagheit als sprachliches Phänomen

Zunächst ist also zu präzisieren, welche sprachlichen Erscheinungen mit dem Begriff Vagheit beschrieben werden sollen und in welcher Weise sich diese Erscheinungen systematisieren lassen.

I. Begriffsbestimmung und Abgrenzung

Begriffe können in mehrerlei Hinsicht unbestimmt sein. Unbestimmtheit kann verstanden werden als die Eigenschaft eines Begriffes, eine exakte Bedeutung nicht oder nicht ohne weiteres – erst recht nicht anhand des nackten Sprachzeichens – preiszugeben.4 Sie lässt sich unterteilen in die Erscheinungsformen Generalität, Ambiguität, und Vagheit.

Generalität beschreibt die Eigenschaft eines Begriffes, als übergeordnete Kategorie fungieren zu können, sich mithin auf eine Vielzahl von Sacharten oder Situationen anwenden zu lassen. So kann etwa der Begriff „Buch“ Sachbücher, Romane, Kinderbücher usw. erfassen.5

Ambiguität meint dagegen die Eigenschaft eines Begriffes, verschiedene Bedeutungsvarianten in sich zu tragen, wobei die adäquate bzw. vom Sprecher intendierte Bedeutung sich


* Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.

1 So entbehren selbst auf binär strukturierten Vorstellungen beruhende Konzepte wie etwa der Tod eines Menschen konsensfähiger Definitionen, s. etwa Quante, Zeitschrift für Philosophische Forschung 1995, 167 ff.

2 Vgl. Pinkal, Vagheit und Ambiguität, S. 250, 264 ff.; Solan, Vagueness and Ambiguity, S. 73, 79 ff.

3 Poscher, Ambiguity and Vagueness, S. 2.

4 S. auch Pinkal, Vagheit und Ambiguität, S. 250, 251 f.

5 Vgl. Poscher, Ambiguity and Vagueness, S. 6; Sennet, Ambiguity.

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eine regelmäßig aus dem semantischen oder auch situativen Kontext ergibt.6 So gibt bspw. für den Satz „Der Hahn ist in schlechter Verfassung“ erst die konkrete Sprechsituation Aufschluss darüber, ob vom Zustand eines männlichen Haushuhns, einer sanitären Armatur, oder gar der Auslösevorrichtung einer Schusswaffe die Rede ist.

Zur Bestimmung schließlich, wann ein Begriff als vage zu bezeichnen ist, finden sich unterschiedliche Formulierungen. So wird ein Begriff bisweilen dann als vage bezeichnet, wenn seine Extension ungenau ist, er also neben einem Kernbereich, der alle unzweifelhaften Anwendungen umfasst7 , eine zwielichtige Struktur im Außenbereich aufweist.8 Man könnte auch sagen, dass die Grenzen seiner Bedeutung unscharf sind. So lassen sich mit dem Begriff „heiß“ gewisse Erscheinungen unzweifelhaft beschreiben (etwa das aus einem ausbrechenden Vulkan austretende Magma) und unterfallen damit seinem Bedeutungskern; ebenso lassen sich Erscheinungen ersinnen, für welche die Subsumtion nicht ohne weiteres erfolgen kann (etwa in der Frage, ob der in einer Tasse enthaltene, nicht unmittelbar frisch aufgegossene, aber eben auch noch nicht merklich abgekühlte Tee „heiß“ sei). Diese Beschreibung dient freilich mehr als Illustration denn als handhabbares Kriterium und bedarf ihrerseits der Präzisierung.

Daher wird nach verbreiteter Ansicht ein Begriff dann als vage bezeichnet, wenn sich in seiner Anwendung absolute Grenzfälle ergeben können.9 Grenzfälle sind Zweifelsfälle, in denen sich nicht abschließend feststellen lässt, ob ein Objekt dem Begriff zu subsumieren ist oder nicht.10 „Grenzfall“ beschreibt also die Eigenschaft eines Objektes, nicht eindeutig dies- oder jenseits einer Bedeutungsgrenze zu liegen. In Betracht kommen hierbei allein absolute Grenzfälle, d.h. solche, in denen der Zweifel nicht auf einem Mangel an Informationen beruht11 (andernfalls kann der Zweifel durch zusätzliche Recherche oder Reflexion behoben werden; es wird dann von lediglich relativen Grenzfällen gesprochen12 ). So kann eine bestimmte Flüssigkeit eine bestimmte Temperatur gerade in einem solchen Bereich haben, dass wir nicht in der Lage sind, die Flüssigkeit eindeutig als „heiß“ zu bezeichnen. Können auch alle zusätzlichen Informationen (etwa Temperaturangabe in naturwissenschaftlicher Maßeinheit, Siedepunkt der Flüssigkeit etc.) den Zweifel nicht beseitigen, so stellt die fragliche Flüssigkeitsmenge einen Grenzfall des Begriffes „heiß“ dar, ist mithin Symbol für dessen Vagheit.

Eine logische Darstellung des Grenzfallpotentials lässt sich über die Anfälligkeit eines Begriffes für das so genannte Sorites-Paradoxon13 erreichen. Dieses Paradoxon nimmt eine beliebige unzweifelhaft wahre Prädikation als erste Prämisse (bspw. in der Aussage „Wasser mit einer Temperatur von 15°C ist nicht heiß“). Als zweite Prämisse bzw. Induktionsschritt wird sodann das linguistische Toleranzgebot herangezogen, mithin die Aussage getroffen, dass eine hinsichtlich der für die Prädikation relevanten Eigenschaften des Subjekts14 minimale Abweichung nichts an der Wahrheit der Prädikation ändert („Wenn Wasser, das nicht heiß ist, um 0,1°C erwärmt wird, ist es nicht heiß“). Aus beiden – als unzweifelhaft wahr empfundenen – Prämissen ergibt sich bei Anwendung von Modus ponendo ponens bzw. Schnittregel („Wasser mit einer Temperatur von 15,1°C ist nicht heiß“ usw.) nach einiger Wiederholung des Syllogismus eine zweifellos falsche Aussage als Konklusion der Schlussfigur (im Beispiel ergäbe sich bei Fortsetzung etwa die eindeutig unzutreffende Behauptung, dass auch auf 90°C erwärmtes Wasser nicht heiß sei). Entsprechend dem Toleranzprinzip lässt sich das Paradoxon nicht einfach auflösen, indem der Induktionsschritt unter die Bedingung des Nichtüberschreitens einer bestimmten Grenze gestellt wird (etwa „Wenn Wasser, das nicht heiß ist, um 0,1°C erwärmt wird, ist es nicht heiß – es sei denn, eine Temperatur von n °C wird überschritten“). Auch das Sorites-Paradoxon beruht damit auf der Unmöglichkeit, der Bedeutung eines Begriffes exakte Grenzen zu ziehen.15

Zusammenfassend lässt sich ein Begriff unter Heranziehung der soeben erläuterten drei Indikatoren dann als vage bezeichnen, wenn er einen klaren Bedeutungskern und einen unklaren Außenbereich hat, wenn sich in seiner Anwendung absolute Grenzfälle ergeben, oder wenn er anfällig für das Sorites-Paradoxon ist. Freilich beruhen alle Indikatoren auf der Unbestimmbarkeit scharfer Grenzen und lassen sich daher als lediglich unterschiedliche Darstellungen eines einheitlichen Kriteriums begreifen. Demnach ist Vagheit die Unbestimmbarkeit scharfer Grenzen für die Anwendung eines Begriffes.16

II. Kategorisierung

Vagheit lässt sich anhand verschiedener Kriterien kategorisieren. So kann erstens danach gefragt werden, ob die konkret


6 ] Pinkal, Vagheit und Ambiguität, S. 250 (263 f.); es lassen sich lexikalische und syntaktische Ambiguität unterscheiden (s. Solan, Vagueness and Ambiguity, S. 73 [73 f.]) und auch darüber hinaus weitere Kategorisierungen vornehmen (phonologische, orthographische, pragmatische Ambiguität usw.)

7 Die Existenz eines solchen Kernbereiches muss freilich (erst recht in einer juristischen Untersuchung) vorausgesetzt werden.

8 Im anglo-amerikanischen Raum hat sich hierfür der Begriff „penumbra“ etabliert, vgl. Cardozo, Judicial Process, S. 130; Hart, The Concept of Law, S. 131; vgl. auch Pinkal, Vagheit und Ambiguität, S. 250 (262).

9 ] Poscher, Ambiguity and Vagueness, S. 3; Weatherson, Vagueness as Indeterminacy, S. 1 ff.; s. auch Hart, The Concept of Law, S. 123.

10 0] Pinkal, Vagheit und Ambiguität, S. 250 (251).

11 Solche Grenzfälle sind m.a.W. nachforschungsresistent, vgl. Sorensen, Vagueness.

12 2] Poscher, Ambiguity and Vagueness, S. 3; Sorensen, Legal Theory 7, 387 (393 f.).

13 Das Paradoxon hat seinen Namen von σωρείτης (sōreitēs), da es traditionell anhand eines Sandhaufens illustriert wird; die Entwicklung wird Eubulides von Milet zugeschrieben, s. Hyde, Sorites Paradox; s. auch Pinkal, Vagheit und Ambiguität, S. 250 (266 ff.).

14 Das Begriffspaar Subjekt/ Objekt wird im Folgenden nicht konsistent bzw. gegensätzlich verwendet.

15 Vgl. Sorensen, Legal Theory 7, 387 (393 f.) mit dem Hinweis, dass relative Grenzfälle freilich nicht Sorites-anfällig sind.

16 Hierin kann freilich keine präzise Definition, sondern vielmehr seinerseits lediglich eine Abstraktion der einzelnen Indikatoren gesehen werden. Als maßgebliches Kriterium scheint jedenfalls das Grenzfallpotential anerkannt zu sein (vgl. etwa Endicott, Vagueness in Law, S. 8, 31; Poscher, Ambiguity and Vagueness, S. 3; Soames, Vagueness and The Law, S. 3 f.; Sorensen, Vagueness). Zumeist ausgehend von der Erkenntnis, dass Vagheit in der Semantik ubiquitär ist, werden abweichende „Definitionen“ angeboten, die sich vornehmlich gegen das „klassische“ Kriterium des Grenzfallpotentials richten (s. etwa Smith, Vagueness and Degrees of Truth, S. 145 ff., der Vagheit dann annehmen will, wenn sich zum fraglichen Begriff zwei Aussagen finden lassen, die bei minimaler Änderung der relevanten Parameter einen „ähnlichen“ Wahrheitswert haben). Bei Weatherson, Vagueness as Indeterminacy, finden sich meines Erachtens überzeugende Argumente für die Ablehnung alternativer Ansätze (für eine Ablehnung des Vorschlags von Smith unter Verweis auf „Wahrheitssprünge“ vgl. Weatherson, a.a.O., S. 11 f.; zu beachten ist , dass Smith selbst anmerkt, seine „Definition“ erfasse nicht alle klassischen Fälle von Vagheit, s. Vagueness and Degrees of Truth, S. 158).

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auftretende Vagheit die Frage der begrifflichen Extension oder der gegenständlichen Bezugnahme betrifft. Zweitens lässt sich nach den die Vagheit konkret bedingenden bzw. begründenden Faktoren fragen. Drittens schließlich ist zu überlegen, ob sich verschiedene Ebenen oder Ordnungen von Vagheit auseinanderhalten lassen.17

1. Klassifikatorische und individuatorische Vagheit

Vagheit kann einerseits auftreten, wenn es um das Zutreffen von Prädikationen geht (klassifikatorische Vagheit). Sie lässt sich dann in graduelle (oder quantitative) und kombinatorische (oder qualitative) Vagheit untergliedern. 18 Erstere wird angenommen, wenn der fragliche Begriff die Qualität eines Objekts derart beschreibt, dass das Zutreffen der Aussage an ein isoliertes Kriterium gebunden ist und sich dieses gleichsam auf einer kontinuierlichen Skala darstellen lässt.19 Kombinatorische Vagheit hingegen ergibt sich immer dann, wenn nicht geklärt ist, welche Qualitäten für die Prädikation relevant sind bzw. wie genau sich die diesbezüglichen Wechselbeziehungen unterschiedlicher Qualitäten auf das Zutreffen der Aussage auswirken. 20 So mag für die Prädikation „ist groß“ in erster Linie das Volumen des Objekts maßgeblich sein; es lässt sich allerdings nicht mit Bestimmtheit sagen, welche Relevanz die Form, das Wechselspiel unterschiedlicher Ausdehnungsrichtungen etc. hat. Kombinatorische Vagheit wird vor allem bei der Einordnung von Objekten in Sachkategorien akut (etwa bei der Frage, ob ein Pinguin auch umgangssprachlich als Vogel zu bezeichnen ist) und spielt wegen der Vielschichtigkeit der meisten semantischen Konzepte wohl eine größere Rolle als graduelle Vagheit.

Andererseits kann sich Vagheit auch als Problem der körperlichen Abgrenzung von Sachen darstellen, zwischen denen sich eine scharfe Grenze nicht ausmachen lässt (individuatorische Vagheit). 21 So stellt sich in der Aussage „Das Wasser ist heiß“ auch das Problem der klaren Bestimmung des Subjekts. Wenn innerhalb einer großen Wassermasse nur eine Teilmenge eine Temperatur von 90°C hat, so ist die auf die Teilmenge bezogene Prädikation unzweifelhaft wahr und hinsichtlich der begrifflichen Extension ergibt sich im konkreten Fall kein Problem. Fraglich kann allerdings die Individuation der bezeichneten Teilmenge sein, d.h. bspw. die Abgrenzung von der umliegenden, kälteren Menge. In diesem Fall zeigt sich die Vagheit des Begriffes „das“ („diese Teilmenge des Wassers“). Freilich ist individuatorische Vagheit theoretisch ubiquitär und unbegrenzbar, da sich die Teilchenforschung längst außerhalb menschlich wahrnehmbarer und damit semantisch erfassbarer Größenordnungen bewegt. Die Heisenberg‘sche Unschärferelation und die Zergliederung der Welt in Quarks oder gar noch kleinere Einheiten legen daher grundsätzlich den Schluss nahe, dass Vagheit bereits im Sein verwurzelt ist; allerdings muss sich bei zielorientierter Herangehensweise daraus jedenfalls der Schluss ergeben, dass individuatorische Vagheit nur im Rahmen relevanter, d.h. wahrnehmbarer Maßstäbe, gleichsam in ihrer Makroebene, tauglichen Gegenstand der Untersuchung bilden kann.

2. Semantische und pragmatische Vagheit

Vagheit lässt sich zudem anhand der sie jeweils bedingenden Faktoren kategorisieren; es lässt sich mit anderen Worten nach den Quellen von Vagheit fragen. Einerseits kann sich Vagheit aus einem intrinsischen Mangel an Präzision des Wortbedeutungskonzepts ergeben (semantische Vagheit). Andererseits kann sich die Vagheit auch erst aus den konkreten Umständen einer Aussage ergeben (pragmatische Vagheit).22 Ein solcher Aussagekontext kann zwar ggf. zur Auflösung von Vagheit beitragen. So mag bei abstrakter Betrachtung unklar sein, ob ein Fernsehgerät als „Wertsache“ zu bezeichnen ist; in der Aussage „Wir müssen vor der Abreise unsere Wertsachen im Banksafe verstauen“ stellt das Gerät hingegen einen eindeutig nicht erfassten Fall dar. Ebenso können Kontextimplikationen auch zur Infragestellung einer vormals eindeutigen Zuordnung führen. So ist ein Geldschein abstrakt eindeutig als Wertsache zu bezeichnen; im Kontext des soeben präsentierten Beispiels allerdings sollen wohl kaum sämtliche Geldscheine vor der Urlaubsreise im Banksafe verstaut werden.

Die Kategorisierung als semantische oder pragmatische Vagheit steckt zugleich den möglichen Rahmen der die Vagheit konkret bedingenden Faktoren ab; diese sind entweder semantischen oder pragmatischen Ursprungs. Eine Überschneidung wird freilich der Regelfall sein. So ist die Frage nach dem Zutreffen einer Prädikation zumeist größtenteils kontextabhängig23 ; gleichwohl spielt auch in solchen Fällen eine der konkreten lexikalischen Semantik inhärente Unbestimmtheit eine Rolle (bspw. hängt das Zutreffen der Bezeichnung einer Hundehütte als „groß“ überwiegend – aber eben nicht allein! – von der Relation zur räumlichen Ausdehnung und sonstigen Eigenschaften des Hundes ab). Zudem befördert Kontext in seiner Eigenschaft als weitere Quelle der Unbestimmtheit die grundsätzliche sprachliche Ubiquität von Vagheit.

3. Vagheit höherer Ordnung

Schließlich ist Vagheit nicht allein auf die Unbestimmtheit einiger weniger Begriffe beschränkt. Vagheit ist ubiquitär und damit auch selbst kein Konzept von perfekter Präzision.24 So lassen sich Grenzfälle von Grenzfällen erdenken, in denen nicht zu bestimmen ist, ob das Objekt noch einen Grenzfall der Begriffsanwendung darstellt oder bereits einen klaren Fall


17 Für eine Kategorisierung von durch Vagheit betroffenen Begriffen s. Pinkal, Vagheit und Ambiguität, S. 250 (262 ff.); neben den oben angeführten Kategorisierungen lässt sich außerdem eine Unterteilung in intensionale und extensionale Vagheit vornehmen (vgl. Pinkal, a.a.O., S. 250 (263)), die allerdings im hier interessierenden Kontext nicht weiter beleuchtet werden soll.

18 8] Pinkal, Vagheit und Ambiguität, S. 250 (262); Poscher, Ambiguity and Vagueness, S. 8 f.; Sorensen, Legal Theory 7, 387 (394).

19 9] Poscher nennt verschiedene Farbtöne als Beispiel (Ambiguity and Vagueness, S. 8). Ob sich hierbei tatsächlich von in engem Sinne gradueller bzw. rein quantitativer Vagheit sprechen lässt, kann indes nicht ohne Zweifel bleiben, da die bloß technische Darstellbarkeit als Kontinuum keine zwingenden Schlüsse auf die Struktur von Bedeutungszuschreibung erlaubt; so kann etwa – in Parallele zu Weathersons Gedanken der „Wahrheitssprünge“ (Weatherson, Vagueness as Indeterminacy, S. 12) – das Maß der Auswirkung eines Temperaturunterschiedes von 1°C auf die Wahrheit der Prädikation „ist heiß“ davon abhängen, an welcher Stelle der Skala er einsetzt (m.a.W. lässt sich nicht ausschließen, dass der prädikationsrelevante Unterschied zwischen 15°C und 16°C anders bewertet wird, als jener zwischen 38°C und 39°C).

20 0] Poscher, Ambiguity and Vagueness, S. 8.

21 1] Poscher, Ambiguity and Vagueness, S. 7 f.

22 2] Endicott, Vagueness in Law, S. 50 ff.; Poscher, Ambiguity and Vagueness, S. 12 f.

23 3] Pinkal, Vagheit und Ambiguität, S. 250 (251); grundsätzlich zum Verhältnis von semantischer und pragmatischer Vagheit s. auch Endicott, Vagueness in Law, S. 51.

24 4] Solan, Vagueness and Ambiguity, S. 73 (83).

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(auch der Begriff „klar“ ist in diesem Sinne vage). Eine solche Selbstanwendung der Grenzfallprobe lässt sich gedanklich ad infinitum fortführen, so dass Vagheit beliebig hoher Ordnungen denkbar scheint.25

C. Rechtliche Implikationen von Vagheit

Recht hat den Zweck, eine Ordnung zu schaffen und das Verhalten der Normadressaten dementsprechend zu steuern, ihm zumindest einen Rahmen zu setzen. 26 Zur Verwirklichung dieser Steuerungsfunktion müssen Rechtsinhalte den Mitgliedern des zu ordnenden Sozialgefüges kommuniziert werden. Wie bereits angedeutet, stellt Sprache daher die notwendige Form und das zentrale Instrument des Rechts dar. Auf Grund der sprachlichen Ubiquität von Vagheit bricht diese notwendig in das Rechtssystem ein.

Freilich können auch im Rechtskontext allein absolute Grenzfälle für das eigentliche Vagheitsproblem relevant werden. Auslegungsschwierigkeiten, in denen nach einiger Diskussion oder Recherche Klarheit und Konsens herzustellen ist, bleiben außer Betracht. 27 Eine gute Illustration für den Kern der Problematik bietet der fiktive Fall, in dem ein Richter zu entscheiden hat, welche aus einer Reihe von einer Million rechtsgeschäftlichen Annahmeerklärungen, die jeweils im Abstand von einer Millisekunde auf einen rechtsgeschäftlichen Antrag unter Anwesenden, vgl. §§ 145 ff. BGB, folgen, noch als „sofort“ im Sinne von § 147 I 1 BGB anzusehen sind und damit einen Vertragsschluss zur Folge haben, und welche nicht. Es stellt sich also die Frage nach der exakten Grenzziehung im Ungewissen (denn ab einer ganz bestimmten Millisekundenzahl muss der Richter den Vertragsschluss verneinen). 28

I. Auftreten von Vagheit im Recht

Die Vagheit der im Recht verwendeten Begriffe macht sich immer dann in besonderem Maße bemerkbar, wenn – wie so häufig – über die „Auslegung“ eines Gesetzes bzw. bestimmter darin enthaltener Begriffe gestritten wird. Das Herausarbeiten spezifisch juristischer Begriffsdefinitionen, die einen erheblichen Teil der Rechtsarbeit ausmacht, ist vornehmlich auf die grundsätzliche Ungeklärtheit semantischer Konzepte zurückzuführen. In der näheren Betrachtung kann zunächst danach gefragt werden, in welchen Spielarten Vagheit im Recht anzutreffen ist.

So spielt individuatorische Vagheit in Rechtsstreitigkeiten eine eher untergeordnete Rolle; gleichwohl ist es durchaus denkbar, dass einmal die Schwierigkeit der konkreten räumlichen Abgrenzung zweier Sachen im Mittelpunkt eines juristischen Disputs steht (so etwa bei der Frage, ob Überhang bereits auf das Nachbargrundstück reicht, s. § 910 I BGB). Häufiger hingegen stellen sich im Recht Probleme, die auf klassifikatorischer Vagheit beruhen, da im Zentrum der Rechtsanwendung regelmäßig die Qualifizierung konkreter Umstände durch rechtliche Begriffe steht. In erster Linie sind dies auf Grund der Vielschichtigkeit der meisten semantischen Konzepte Fragen kombinatorischer Vagheit (etwa bei der Klassifizierung eines Bleistift als gefährliches Werkzeug im Sinne von § 224 I Nr. 2 Var. 2 StGB29 oder der Prüfung einer Verletzung des Verunstaltungsverbots nach § 12 I HBauO). Graduelle Vagheit wird wohl allenfalls im Rahmen von Folgefragen bei der Bearbeitung kombinatorischer Vagheit relevant (wenn etwa danach zu fragen ist, wie intensiv die Verletzungen sein sollen, die der Einsatz eines gefährlichen Werkzeugs hervorrufen können muss).

An dieser Stelle drängt sich sodann die Frage auf, wie sich semantische und pragmatische Vagheit im Rechtskontext zueinander verhalten. Zunächst scheint offensichtlich, dass Recht als Ordnungs- und Steuerungsinstrument zuvorderst auf die Kommunikation von Intentionen angewiesen ist, die sprachliche Darstellung einer Rechtsnorm also in erster Linie lediglich als Vehikel für den zu transportierenden Inhalt fungiert. Diese Einsicht legt es für die Rechtsanwendung nahe, sich auf die Erforschung des von der Norm erlassenden Entität konkret intendierten Aussageinhalts zu fokussieren und lässt damit auf den ersten Blick Pragmatik als im Recht maßgebliche Quelle für Vagheit erscheinen. In der Tat ist es ein bei der Auslegung von Gesetzen durchaus üblicher Vorgang, dass dann, wenn Telos und Wortlaut einer Norm unterschiedliche Begriffsextensionen nahe legen, dem „Willen des Gesetzgebers“ der Vorrang eingeräumt wird. Daraus kann allerdings nicht gefolgert werden, dass semantische Vagheit im Recht keine Rolle spielt. Dies lässt sich damit belegen, dass selbst in Fällen, in denen der Telos einer Norm – bisweilen gar das adäquate Ergebnis – offenkundig ist, kein Konsens zwischen den Rechtsanwendern herrschen muss, sondern nichtsdestotrotz Streit über die Auslegung der Begriffe bestehen bleiben kann.30 Diese Beobachtung ist zurückzuführen auf den Umstand, dass die Verwirklichung von Steuerungs- und Ordnungsfunktion neben der faktischen Durchsetzung der kommunizierten Inhalte vor allem auf Verständlichkeit der Normdarstellung und Vorhersehbarkeit der Normanwendung angewiesen ist. Aus diesem Grunde hat die Klarheit semantischer Strukturen im Recht Eigenwert. Sowohl Normadressat als auch Rechtsanwender können von Normen nur dann effizient angeleitet werden, wenn sie bei der Rezeption der Normdarstellung auf ein gefestigtes Dekodierungsrepertoire zurückgreifen können. Dieses Bedürfnis zeigt sich etwa dann plastisch, wenn im Rahmen von Wortlautargumenten auf den „natürlichen Sprachgebrauch“ als Auslegungshilfe zurückgegriffen wird.31 Damit speist sich Vagheit im Recht sowohl aus pragmatischer als auch semantischer Quelle; sie stehen dabei in einem komplexen Geflecht wechselseitiger Beziehungen zueinander.

Ebenso kann sich Vagheit in Auslegungsstreitigkeiten bisweilen auch als Vagheit höherer Ordnung zeigen, wenn etwa darüber gestritten wird, ob eine bestimmte Konstellation überhaupt einen Grenzfall des anzuwendenden Rechtsbegriffes ausmacht.


25 Hierin sieht etwa Sorensen (in Legal Theory 7, 387 (413)) einen Beleg dafür, dass Vagheit sich nicht (auch nicht als extreme) Ambiguität begreifen lasse, da letztere nicht in höherer Ordnung denkbar sei.

26 6] Endicott, The Value of Vagueness, S. 27 (36); vgl. auch Hayek, Arten der Ordnung, S. 15 (26 f.); ders., Rechtsordnung als Handelnsordnung, S. 35, (35 ff.).

27 Vgl. Poscher, Ambiguity and Vagueness, S. 6 f.

28 Der Fall ist dem „case of the million raves“ nachgebildet, s. Endicott, Vagueness in Law, S. 57 f.

29 Vgl. etwa BGH NJW 2008, 2861 (2862 ff.); BGH NStZ 2002, 594 (594).

30 Vgl. etwa die zivilrechtliche Diskussion um die bereicherungsrechtliche Behandlung von Wucherdarlehen. Während dort Einigkeit darüber herrscht, dass die Darlehenssumme wieder an den Wucherer zurückfließen soll, bemüht sich die Rechtspraxis zugleich nach Kräften darum, dieses Ergebnis dem Begriff „Leistung“ in § 817 S. 2 BGB zu subsumieren, s. BGH, NJW-RR 1994, 291 (293).

31 Exemplarisch OLG Koblenz NStZ 1981, 445 (446); grundsätzlich zum Verhältnis von Telos und Wortlaut unter dem Aspekt von Vagheit vgl. Solan, Vagueness and Ambiguity, S. 73 (76 ff.).

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Vagheit tritt also auch im Rechtskontext in all ihren Spielarten auf. Sie macht sich zunächst als Subsumtionsschwierigkeit bemerkbar, induziert auf diese Weise eine Infragestellung von Definitionen, und zeigt letztlich die grundsätzliche Undefinierbarkeit (im Sinne von Unbegrenzbarkeit) von Begriffen auf.

II. Vagheit als Quelle von Rechtsproblemen

Vagheit stellt sich prima vista vor allem als Problem für die Rechtssicherheit dar: Wenn sich einem Begriff keine feste Grenze ziehen lässt, so wird seine Anwendung ungewiss und unvorhersehbar. Mangelnde Präzision scheint geeignet, die Steuerungsfunktion des Rechts zu beeinträchtigen. Wenn der Rechtsunterworfene nicht weiß, ob sein Verhalten einer gewissen Regelung unterfällt oder nicht, wie soll er dann seine Handlungen danach ausrichten? 32

Im Einzelnen zeigen sich hierbei die problematisch erscheinenden Auswirkungen von Vagheit eindringlich erstens im Umgang mit dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot, welches das BVerfG Art. 20 III GG entnimmt33 und die Nichtigerklärung solcher Rechtsnormen zur Folge hat, die zu „unbestimmt“, zumeist also zu vage sind. Es drängt sich eingedenk der Ubiquität von Vagheit freilich die – später noch zu behandelnde – Frage auf, wie vage eine Normdarstellung sein muss, um das rechtsstaatliche Gebot der Normenklarheit zu verletzen. 34

Zweitens scheint Vagheit vor allem im Strafrecht eine große Rolle zu spielen, da Verurteilungen im Strafprozess nur auf Grundlage der lex certa et scripta zulässig sind, s. § 1 StGB, Art. 103 II GG, Art. 7 EMRK (nullum crimen, nulla poena sine lege35 ). Wie unter dem Brennglas müssen sich die rechtlichen Implikationen von Vagheit immer dann zeigen, wenn die Verurteilung von der Begriffsanwendung im Grenzfall abhängt. Im strafrechtlichen Kontext spielt auf Grundlage der verfassungsrechtlichen Wortlautgrenze freilich die semantische Vagheit eine übergeordnete Rolle, ganz im Gegensatz etwa zum Zivilrecht. 36

Drittens impliziert die Grenzziehung im Ungewissen stets eine Gleichheitsproblematik. Wenn im Beispiel der Millionen Annahmen irgendeine Annahmeerklärungen als nicht mehr „sofort“ im Sinne von § 147 I 1 BGB angesehen wird, so lässt sich die Ungleichbehandlung mit der nur eine Millisekunde zuvor zugehenden Erklärung scheinbar nicht rechtfertigen, da eine Millisekunde keinen rechtsrelevanten Unterschied ausmachen kann.37 Vagheit erfordert also auch vor dem Hintergrund von Art. 3 I GG eine Stellungnahme.

Viertens stellt sich die Frage, ob Vagheit zum Problem für die Gewaltenteilung werden könnte. Wenn schließlich der Gesetzgeber vage Begriffe verwendet, so delegiert er die Entscheidung an die auslegenden Gerichte. Im Lichte der sog. Wesentlichkeitstheorie38 erscheint dies jedenfalls dann problematisch, wenn es um für die Grundrechtsverwirklichung wesentliche Fragen geht.

Fünftens lässt sich überlegen, ob die Bindung der öffentlichen Gewalt an Recht und Gesetz, Art. 20 III GG, nicht durch Vagheit in Zweifel zu ziehen ist. Wenn die Normdarstellung nicht mit absoluter Präzision möglich ist und sich Grenzfälle nicht vermeiden lassen, woran soll der Rechtsakteur dann im Grenzfall gebunden sein? Die Überlegung ließe sich noch weiter führen, indem die Frage gestellt wird, ob vielleicht nicht nur Normdarstellungen, sondern auch Normvorstellungen als solche von Vagheit betroffen sind. Da schließlich auch der Normgeber einen Grenzfall weder sprachlich noch pragmatisch in zwingender Weise auflösen kann, ließe sich insofern von der Vagheit der Ideen als Vorstufe zur Vagheit der Sprache sprechen.39

Freilich wird der Rechtsanwender in den weitaus meisten Entscheidungssituationen nicht mit einem absoluten Grenzfall konfrontiert sein.40 In aller Regel bewegt sich der Jurist vielmehr im Kernbereich von Begriffsbedeutungen. Neben dieser beruhigenden Einsicht birgt Recht allerdings auch ein ihm eigentümliches, in der Konfrontation mit Vagheit problematisches Moment. Wenn nämlich doch einmal ein Grenzfall zu qualifizieren ist, scheinen Justizgewährungsanspruch, vgl. Art. 19 IV GG41 , und daraus folgender Entscheidungszwang unausweichlich ins Dilemma zu führen.42 Während Linguisten und Philosophen Vagheit gelassen gegenüberstehen und sie nötigenfalls als bloßes Forschungsobjekt ansehen können, kann der Jurist mit dem semantischen Ernstfall auch im Tatsächlichen konfrontiert werden und ist daher auf praktisch brauchbare Überlegungen zur Verarbeitung von Vagheit angewiesen.

Die Überlegungen zu Normenklarheit, Wortlautgrenze, Gleichheit, Gewaltenteilung und Gesetzesbindung zeigen, dass sich Vagheit als ein der Rechtssicherheit scheinbar abträgliches Phänomen und – zumindest bei abstrakter Betrachtung – als Konzept erweist, das die Fähigkeit des Rechts zur Erfüllung der sein Wesen ausmachenden Ordnungsaufgabe in Frage stellt. Auch ist ein soziales System, das die Steuerung menschlichen Handelns zum Ziel hat, stets in der Pflicht, sich der theoretischen Grundlagen seiner Formen und Instrumente zu vergewissern. Der Hinweis darauf, dass der Zwang zur konkreten Entscheidung im Grenzfall eine Rarität darstellen wird, kann nicht von der theoretischen Auseinandersetzung mit Vagheit als rechtlichem Strukturproblem entbinden. Die Konfrontation mit Vagheit verlangt dem Rechtssystem damit in jedem Falle eine Antwort ab.

III. Rechtsimmanente Instrumente zur Bewältigung von Vagheit

1. Auslegungsregeln

Die gewöhnliche Reaktion eines Juristen, der mit einem unbestimmten Begriff konfrontiert wird, besteht in der Anwendung der tradierten Auslegungsmethoden. Es liegt also der


32 Vgl. Solan, Vagueness and Ambiguity, S. 73 (82).

33 BVerfGE 100, 313 (359 f., 372); im anglo-amerikanischen Rechtskreis firmiert dieses Prinzip als „void-for-vaguenss-doctrine“, wobei „vagueness“ in diesem Sinne freilich alle Arten von Unbestimmtheit umfasst, s. Poscher, Ambiguity and Vagueness, S. 2; Sorensen, Legal Theory 7, 387 (408).

34 S. Solan, Vagueness and Ambiguity, S. 73 (83).

35 S. hierzu Lackner/Kühl, § 1 Rn. 1.

36 Vgl. Solan, Vagueness and Ambiguity, S. 73 (86).

37 Vgl. Endicott, Vagueness in Law, S. 58, 129, 162 ff.

38 Vgl. etwa BVerfGE 33, 303, (303, 345 f.); BVerfGE 34, 165, (165, 192 f.).

39 Ähnlich Sorensen, Legal Theory 7, 387 (413).

40 0] Solan, Vagueness and Ambiguity, S. 73 (81 f.); relative Grenzfälle, die eine Subsumtion erst nach eingehender Reflexion und ggf. Recherche ermöglichen, treten hingegen freilich nicht selten auf.

41 S. auch BVerfGE 54, 277 (291).

42 S. Sorensen, Legal Theory 7, 387 (391, 400 f.); vgl. auch den Ausdruck „Präzisierungsverbot“ bei Pinkal, Vagheit und Ambiguität, S. 250 (265).

Lassahn, Vagheit im Recht – Recht und Sprache (BLJ 2012, 14)19

Gedanke nahe, dass diese dogmatischen Instrumente das nötige Rüstzeug an die Hand geben, um semantische Schluchten zu überwinden.

Indes ist es gerade eine definitorische Eigenschaft von Vagheit, dass sie sich nicht durch Auslegung beseitigen lässt. So ist auch gar keine Auslegungsregel denkbar, die zwingend zu einer rechtlich unterschiedlichen Bewertung zweier minimal abweichender Annahmeerklärungen führen könnte. Die Anwendung von Auslegungsmethoden kann vielmehr, wie jede Interpretation von Begriffen, zu mehr Unklarheit und damit zu mehr Vagheit führen.43 Dies erhellt erst recht, wenn man an pragmatische Vagheit denkt. So lässt sich ggf. selbst der Wille des Gesetzgebers lediglich in vagen Begriffen formulieren oder ist nicht zu präzisieren, weil etwa der konkrete Fall nicht bedacht wurde. Wenngleich dieser Umstand den meisten Rechtsanwendern wohl kaum bewusst ist bzw. sich nicht in ihrer Argumentation bemerkbar macht44 , so muss festgestellt werden, dass Vagheit schon begrifflich nicht im Wege der Auslegung beseitigt werden kann.

Das gleiche trifft auf nicht rein interpretative Entscheidungshilfen, wie etwa Folgenbetrachtungen45 (bspw. in Form ökonomischer Analyse oder kriminalpolitischer Erwägungen) zu. Schließlich gilt für alle rechtlich zulässigen Instrumente, dass sie – sofern sie ein eindeutiges Ergebnis präjudizieren – das Vorliegen eines Grenzfalles per definitionem ausschließen.46

2. Beweislastregeln

Wenn Auslegungsregeln keine Abhilfe verschaffen, so könnte man eine entsprechende Anwendung von Beweislastvorschriften auf die Subsumtion erwägen. In einem Grenzfall könnte die rechtsrelevante Aussage stets dann als unwahr angesehen werden, wenn dies denjenigen benachteiligt, der hinsichtlich des vagen Tatbestandsmerkmals die Beweislast trägt. Ist also der Grenzfall einer „sofortigen“ Annahme im Sinne von § 147 I 1 BGB zu entscheiden, so könnte die Frage nach dem Vertragsschluss ganz einfach zu Ungunsten des sich hierauf berufenden Klägers entschieden werden.47 In Konsequenz führte dieser Ansatz jedoch dazu, dass die für den Kläger günstige Entscheidung nur noch in absolut klaren Fällen möglich wäre. In Situationen von Vagheit höherer Ordnung nämlich, wenn also keine eindeutig als klarer oder als Grenzfall identifizierte Entscheidungssituation vorliegt, versagt der Mechanismus48 . Selbst im Strafrecht kann der Grundsatz in dubio pro reo nicht dazu führen, dass lediglich in absolut klaren Fällen eine Verurteilung erfolgt.49 Eine solche Herangehensweise würde richterliche Freiheit und damit den Richter selbst überflüssig machen. Das sich ergebende starre, unerträglich unflexible System – Gesetzespositivismus ad absurdum – würde Einzelfallgerechtigkeit versperren und den Gesetzgeber vor eine unmögliche Aufgabe stellen.50 Das Rechtssystem würde auf bloße Reaktion beschränkt. Aus diesem Grund stellen auch Beweislastregeln keine für eine befriedigende Bewältigung von Vagheit geeigneten Instrumente bereit.

Es fehlt damit an geeigneten rechtsimmanenten Abhilfen für die Probleme, welche Vagheit im Recht hervorruft.

D. Ausblick

Dieser Befund kann natürlich nicht das Ende, sondern nur Zwischenergebnis der Untersuchung sein. Im weiteren Vorgehen bietet es sich zunächst an, solche Erklärungsansätze zu Rate zu ziehen, die außerhalb der Rechtswissenschaft zu einem besseren Verständnis von Vagheit entwickelt wurden. Schließlich beschäftigt das Phänomen Disziplinen wie Logik und Linguistik schon seit längerer Zeit. Einige ausgewählte Ansätze aus diesen Bereichen sollen im Folgenden vorgestellt und auf ihre Fruchtbarkeit für die Bewältigung rechtsspezifischer Vagheitsprobleme untersucht werden. Dies bildet den Gegenstand des zweiten Teils dieses Beitrags, der darüber hinaus noch der Frage nachgehen wird, ob sich der Umgang mit Vagheit rechtsstaatlich legitimieren lässt und ob der Vagheit im Recht vielleicht sogar ein eigenständiger Wert zukommt. Er erscheint in der folgenden Ausgabe (BLJ 2/2012).


43 3] Endicott, Vagueness in Law, S. 181 f.; ders., The Value of Vagueness, S. 27 (29); ein ähnlicher Gedanke findet sich bereits bei Hart, The Concept of Law, S. 123.

44 Vgl. bspw. den zumeist nonchalanten Umgang mit § 242 BGB, etwa BGH, NJW 2011, 1499 (1500).

45 S. hierzu und zu weiteren Entscheidungsfaktoren etwa Hoffmann-Riem, Methoden, S. 9 (31 ff., 38 ff.).

46 Vgl. Sorensen, Legal Theory 7, 387 (393, 401); umgekehrt folgt hieraus, dass systemfremde Entscheidungshilfen (im Recht außerhalb bestimmter Vergabefragen etwa der Losentscheid) Vagheit schon definitorisch nicht beseitigen können, da ansonsten Grenzfälle gar nicht erst aufträten (der Zufall kann schließlich immer eine Entscheidung herbeiführen).

47 Dass dies, wie Endicott meint (Vagueness in Law, S. 58 f.), zu zufälligen Ergebnissen führte, weil dann die Entscheidung davon abhinge, welche Vertragspartei sich in der Situation befindet, Klage erheben zu müssen, trifft jedenfalls im deutschen Recht nicht zu, da sich dieses Problem unabhängig von Vagheit stellt.

48 Ähnlich Sorensen, Legal Theory 7, 387 (404).

49 Der Grundsatz findet keine Anwendung auf Rechtsfragen, s. Wessels/Beulke, Rn. 804).

50 Für die Notwendigkeit einer grundsätzlich flexiblen Handhabung auch BVerfG, NJW 1988, 477; vgl. auch die Klassifizierung eines Turnschuhs als gefährliches Werkzeug in BGH NStZ 1999, 616; zur anglo-amerikanischen „rule of lenity“ vgl. Solan, Vagueness and Ambiguity, S. 73 (77, 83 ff.).