Die Lex Mercatoria in der europäischen Rechtsgeschichte

by Max Hocke*

A. Einleitung

„Geisterbegriff (…) sich in Nichts auflösend, wenn man ihn genauer betrachten will“1 oder „eine der bedeutsamsten Entwicklungen der Nachkriegszeit“2 , was ist die lex mercatoria? Anstatt der gegenwärtigen lex mercatoria auf den Grund zu gehen,3 sollen in dieser Arbeit ihre Ursprünge aus einer historischen Perspektive untersucht werden: Existierte eine lex mercatoria in der europäischen Rechtsgeschichte als Geisterbegriff oder als bedeutsame Entwicklung? Und in welcher Weise ist dies für die gegenwärtige lex mercatoria von Bedeutung? Diese Fragen sollen in der folgenden Darstellung in drei Schritten beantwortet werden: Zunächst sollen Begriff und zu untersuchender Zeitraum der Darstellung abgegrenzt werden (B.). Daraufhin soll der Inhalt der historischen lex mercatoria anhand verschiedener sach- und prozessrechtlicher Institute erläutert werden (C.). Schließlich soll ihre Ablösung durch staatliches Recht beschrieben und dabei gefragt werden, ob die Existenz einer historischen lex mercatoria ein Argument für die Akzeptanz einer modernen sein kann (D.).

B. Gegenstand der Darstellung

I. Begriff der lex mercatoria

Die lex mercatoria – auch ius mercatorum4 oder Law Merchant5 – beschreibt Rechtsvereinheitlichung im internationalen Handelsverkehr.6 Dies geschieht auf zwei Arten: Erstens, durch vertragliche Abreden, Klauseln, Bräuche, Grundsätze und Gepflogenheiten7 , die entweder Vorrang vor dispositivem Gesetzesrecht8 haben oder, beispielsweise durch Art. 7 UN-Kaufrecht, der Auslegung von staatlichem Recht dienen.

Zweitens, durch internationale Übereinkommen, Modellgesetze und nationale Gesetze; z.B. das UN-Kaufrecht oder die UNIDROIT Principles of Commercial Contracts.9 Während die Kaufleute die Regelungen der ersten Art unmittelbar selbst gestalten können, geschieht dies bei der zweiten Art durch staatliche und nicht-staatliche Institutionen. Jedoch hat der Handelsstand auf diese einen bedeutenden Einfluss.10 Vielfach entspringen kodifizierte Regelungen sogar vorhergehenden Gepflogenheiten des Handelsstandes. Dieses Verhältnis soll im Mittelpunkt der folgenden Darstellung stehen.

C. Die historische lex mercatoria

I. Der Handelsstand in der europäischen Rechtsgeschichte

Ein Verständnis für seine Sonderregeln bedarf zunächst eines Verständnisses für die Situation des Handelsstandes. Dieser war bis in das 19. Jahrhundert hinein von den privatrechtlichen Rahmenbedingungen (1.), der Handelsentwicklung allgemein (2.) und wichtigen Institutionen, wie Stadtrechten, Märkten und Gilden (3.), bestimmt.

1. Privatrechtliche Rahmenbedingungen

Im Mittelalter gab es in Mitteleuropa auf weltlichem Gebiet mündlich überliefertes, durch Dokumente lediglich abgebildetes Gewohnheitsrecht.11 Während man diese Gewohnheiten in Nordfrankreich côutumes nannte,12 wirkten in Südfrankreich und Italien die römischen Rechtstraditionen in stärkerem Maße fort.13

In England hat sich schon seit dem Hochmittelalter ein zentralisiertes System von Präzedenzfällen, das common law, entwickelt.14 Zusätzlich wurde römisches Recht an den Universitäten Oxford und Cambridge unterrichtet.15

Dieser Unterricht geht auf die, seit dem 12. Jahrhundert von Bologna ausgehende, Rezeption des römischen Rechts in ganz Europa zurück. Glossatoren setzten sich mit den Digesten auseinander und erschlossen ein System des römischen Privatrechts.16 In der mitteleuropäischen Rechtsprechung fand das römische Recht spätestens in der frühen Neuzeit Beachtung.17 Die Rezeption führte schließlich zum Kodifikationsgedanken für das Privatrecht.18 Dieser Kodifikationsgedanke wurde in Europa seit dem 15. Jahrhundert auch durch die systematische Erschließung des Gewohnheitsrechts, z.B. in Frankreich,19 den Niederlanden20 und Schweden21 verfolgt.

2. Entwicklung des Handels

Normalerweise führte im Mittelalter einzig der Erwerb von Geldvermögen zum Aufstieg in die gesellschaftliche Oberschicht.22 Deshalb bildete sich im Hoch- und Spätmittelalter


* Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.

1 Herber, Internationales Handelsrecht (IHR) 2003, 1, 5.

2 Schmitthoff, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht (RabelsZ) 1946, 47-77.

3 Wie bereits vielfach erfolgt, vgl. K. Schmidt in: Münchener Kommentar zum HGB³ (MüKoHGB), Vorbem. zu § 1, Rn. 36 m.w.N.

4 Bernard in: Cipolla/Borchardt (Hrsg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte, Band I, 1983, S. 117, 202.

5 Siehe für weitere fremdsprachliche Begriffe Stein, Lex mercatoria – Realität und Theorie, S. 2.

6 Horn in: FS K. Schmidt, 2009, S. 705, 708.

7 Hellwegein: Basedow/Hopt/Zimmermann(Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Band II, 2009, S. 1020 – 1025.

8 Siehe zu den Grenzen des Vorrangs vertraglicher Abreden Cziupka, Dispositives Vertragsrecht – Funktionsweise und Qualitätsmerkmale, 2010, S. 34 ff.

9 Siehe dazu, ob dieses vom Begriff erfasst ist Horn in: Berger (Hrsg.), The Practice of Transnational Law, 2001, 67, 68.

10 So auch Zumbansen, RabelsZ, 2003, 637, 644 m.w.N.

11 Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 2004, Rn. 58.

12 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung³, S. 76.

13 Siehe zur russischen Rechtsgeschichte des Mittelalters Küpper, Einführung in die Rechtsgeschichte Osteuropas, 2005, S. 120 ff.

14 Keenan, Smith & Keenan’s English Law13, S. 5 f.

15 Zimmermann, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht (ZeuP), 1993, 4, 10 f. m.w.N.

16 Kaser, Römische Rechtsgeschichte², 1993, S. 275.

17 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit², 1967, S. 176.

18 Auch für das Handelsrecht fand wohl eine solche Rezeption des römischen Rechts statt. Siehe Eisenhardt in: FS Raisch, 1995, S. 51 ff. m.w.N. A.A. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte Band II, S. 342. Differenzierend Krause, Juristische Schulung (JuS) 1970, 313, 321.

19 Zweigert/Kötz (Fn. 12), S. 76.

20 Dies geschah vor allem durch Hugo Grotius, vgl. Lesaffer, European Legal History, 2009, S. 361 f.

21 In Schweden galt seit dem 14. Jahrhundert sogar ein, dem Gewohnheitsrecht entsprungenes, einheitliches Land- und Stadtrecht, siehe Zweigert/Kötz (Fn. 12), S.272.

22 Bader/Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte, 1999, S. 493 f.

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ein eigener Stand von Kaufleuten heraus, der Handelsstand.23 Wichtige Entwicklungen, wie die Verbesserung der Schifffahrt und der Infrastruktur, eine weiter verbreitete Alphabetisierung, der Wechselbrief24 und die doppelte Buchführung beschleunigten die Entwicklung des Handelsstandes, vor allem in Norditalien.25

Die Entdeckung Amerikas führte im 16. Jahrhundert zu einer Verlagerung der Handelszentren vom Mittelmeer an den Atlantik. Italien trat im Welthandel in den Hintergrund.26 Private Kaufleute verloren in der beginnenden Neuzeit an Einfluss. Stattdessen führte der Aufstieg des Territorialstaats zur Schaffung staatlicher Handelskompagnien, welche den Überseehandel bis in das 19. Jahrhundert kontrollierten.27 Der innereuropäische und der asiatisch-europäische Handel wurden hingegen auch in der beginnenden Neuzeit von privaten Kaufleuten durchgeführt.

3. Städte, Märkte, Gilden und die Hanse

Alleine konnte ein Kaufmann keinen Handel betreiben. Nur durch die Plattform der Stadt konnte der Handel effektiv gestaltet werden. Städte boten den Kaufleuten mit ihren Messen und Märkten die Plattform für ihren Handel und beherbergten die Zusammenschlüsse von Kaufleuten, die Gilden. Stadt- und Marktrechte, sowie Gildensatzungen waren die Regeln, in die kaufmännisches Gewohnheitsrecht inkorporiert wurde. Deshalb sollen diese Institutionen erläutert werden.

Stadtrecht war das allgemeine, von ihr gesetzte Recht einer Stadt.28 Die Fähigkeit zur autonomen Rechtssetzung der Stadt gründete sich auf das königliche Interesse am Schutz von Kaufleuten und Märkten.29 Stadtrechte enthielten deshalb viele handelsrechtliche Regelungen, das sogenannte kaufmännische Stadtrecht.30 Nun waren Stadtrechte nicht paralegal, sondern hoheitlich. Nichtsdestotrotz wurden die Stadtrechte erheblich vom Handelsstand beeinflusst,31 die kaufmännischen Stadtrechte von „(…) seinen Bedürfnissen und seinen Überzeugungen (…) geschaffen.“32 Erst durch die national-staatlichen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts verloren die Stadtrechte schließlich ihre Bedeutung.33

In den Städten wurden die gewerblich erzeugten Waren auf Märkten und Messen vertrieben.34 Dieser Warenvertrieb war ein wichtiger Anlass für die Herausbildung des Sonderrechts der Kaufleute.35 Aus dem Bedürfnis heraus, dass sich die Kaufleute nicht auf jeder Messe auf neue Regeln einstellen wollten, erwuchs eine gewohnheitsrechtliche Einheit der Geschäftsabwicklung.36 Doch reglementierte die Obrigkeit Märkte und Messen auch; z.B. hinsichtlich Öffnungszeiten, Zollabgaben und dem vorgeschriebenen Einsatz von Maklern.37

Um der Obrigkeit gegenüber ihre Interessen wirksam zu vertreten, schlossen sich Kaufleute zu Gilden38 zusammen.39 Diese waren durch ihre Gildestatute organisiert, welche auch besondere Streitschlichtungsmechanismen beinhalteten.40 In den Gilden bündelte sich der erhebliche Einfluss, welcher den Kaufleuten in den spätmittelalterlichen Städten durch ihren Reichtum zuteil wurde.41 Deshalb wurden die Gilden oft an der Verwaltung der Stadt beteiligt.42 Durch den Einfluss der Gilden konnten die Kaufleute ihren Gewohnheitsregeln mehr Geltung verleihen.43 In der Neuzeit verringerte sich schließlich die Bedeutung der Gilden, bis sie verschwanden. Ihre Ausläufer finden sich heutzutage aber noch in mitteleuropäischen Genossenschaften, Sterbekassen und gesellschaftlichen Vereinigungen.44

Der bekannteste Zusammenschluss von Kaufleuten des Mittelalters war die Hanse. Sie regelte den Handel über große Teile des Nord- und Ostseeraums vom 12. Jahrhundert bis in die Neuzeit. Wichtige Hafenstädte, wie Bremen, Danzig, Hamburg, Lübeck, Riga, Stockholm und Visby, sowie Binnenstädte wie Braunschweig oder Köln waren Mitglieder. Als Handelsgemeinschaft konzipiert, wurde das Recht zum Bindeglied zwischen den Hansestädten.45 Gewohnheitsrechte der Kaufleute wurden in vielen Hansestädten parallel rezipiert. Zusätzlich wurden auf den Hanserezessen, den Versammlungen der Hansestädte, seit 1365 gemeinsame seerechtliche Normen verabschiedet,46 welche schließlich im Hansischen Seerecht von 1614 mündeten. Diese Normen entsprangen den Gewohnheiten des hanseatischen Handelsstandes, denn Rezessenteilnehmer waren nicht Adelige, sondern einflussreiche hanseatische Kaufleute und Reeder.47

II. Sachrechtliche historische Sonderregeln des Handelsstandes

Obwohl sie europaweit Handel betrieben, bestanden für die Kaufleute seit dem Mittelalter, je nach Sachgebiet, entweder eine hohe Anzahl verschiedener, oder gar keine Regelungen.


23 Meyer, Bonafides und lex mercatoria in der europäischen Rechtstradition, 1994, S. 57.

24 Siehe für ein Beispiel eines historischen Wechselbriefs Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte³, 1999, Rn. 812.

25 Kellenbenz, Albers et al. (Hrsg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft – Dritter Band, 1981, S. 762, 763 f.

26 Rehme in: Ehrenberg (Hrsg.), Handbuch des gesamten Handelsrecht – Erster Band, 1913, S. 28, 178.

27 Kellenbenz (Fn. 25), S. 762, 772 ff. Nur einzelnen autonom agierenden italienischen und oberdeutschen Kaufleuten gelang es, sich in das transatlantische Geschäft einzuschalten.

28 Thier in: Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (Fn. 7), S. 1434.

29 Thier (Fn. 28), S. 1435 f.

30 Eisenhardt (Fn. 11), Rn. 79.

31 Eichler, Lex Mercatoria – das englische Marktrecht des Mittelalters, 2008, S. 20.

32 Mitchell, An Essay on the Early History of the Law Merchant, New York 1904 (zitiert nach Trakman, Journal of Maritime Law and Commerce (JMLC), 12 (1980), 1, 5 f.).

33 Thier (Fn. 28), S. 1434, 1437.

34 Siehe für einen historischen Abriss der Entstehung von Märkten Irsigler in: Dölmeyer/Mohnhaupt (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich – Band 2, 1999, S. 189, 191 ff.

35 Braudel, Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, 1986, S. 79.

36 Kappus, „Lex mercatoria“ in Europa und Wiener UN-Kaufrechtskonvention 1980, 1990, S. 35.

37 Bader/Dilcher (Fn. 22), S. 533 f.

38 Siehe für eine andere, übergreifende Verwendung dieses Begriffs für Handwerk, Gewerbe und Handel Oexle, Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, 1979, S. 203 ff.

39 Bader/Dilcher (Fn. 22), S. 507.

40 Stradal in: Erler et al. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte – I. Band, 1971, S. 1687, 1690.

41 Eisenhardt (Fn. 11), Rn. 31.

42 Stradal (Fn. 40), S. 1687, 1691. Siehe zur Mitgliedschaft von Kaufleuten in der württembergischen Kommerziendeputation von 1775 Walz in: Das Privileg im europäischen Vergleich – Band 1 (Fn. 34), S. 419, 425.

43 Santarelli, Mercanti e societàtra mercanti², 1992, S. 47.

44 Stradal (Fn. 40), S. 1687, 1690.

45 Liebrecht in: Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (Fn. 7), S. 812.

46 Landwehr, Das Seerecht der Hanse, 2003, S. 16 ff.

47 Wolf in: Coing (Hrsg.), Handbuch der europäischen Privatrechtsgeschichte – Erster Band, 1973, S. 517, 543.

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Dies war die ideale Ausgangsvoraussetzung dafür, dass der Handelsstand seine eigenen, überregional gültigen Regelungen entwarf und ihnen Geltung verschaffte.48 So prägten sich seit dem Mittelalter auf Betreiben des Handelsstands hin die Handelsrechtsinstitute der Buchführung, der Marke, der Firma und des Handelsmaklers aus.49

Nachdem diese Arbeit die gestalterische Autonomie der Kaufleute in der europäischen Rechtsgeschichte aufgezeigt hat, sollen im Folgenden die Entwicklungen einzelner, durch den Handelsstand bestimmter Sachgebiete dargestellt werden.50

1. Handelskauf

Die wichtigste Regel im Handelsgeschäftsverkehr war seit dem Spätmittelalter das Verhalten nach Treu und Glauben.51 Um zu gewährleisten, dass die hohen Gefahren und Ressourcenaufwendungen des überregionalen Handels nicht vergebens waren, musste Vertrauen zwischen den Kaufleuten gewährleistet werden. Begründet auf dem römischen Prinzip der bonafides, stellte Vertrauen deshalb eine gesamteuropäische Rechtstradition dar.52

Dieses Vertrauen fand einen noch stärkeren Ausdruck im Prinzip der Vertragserfüllung. Während das römische Recht einen durchsetzbaren Anspruch auf Vertragserfüllung nicht in allen Fällen gewährte,53 waren Vereinbarungen unter Kaufleuten traditionell bindend. Kaufleute bestanden untereinander vielfach auf Vertragserfüllung, auch wenn staatliches Recht ihre Geltendmachung nicht zuließ.54

Den kaufmännischen Verkäufer trafen darüber hinaus nach Stadtrecht und Gildensatzungen Gewährleistungspflichten für seine Waren. Im Gegenzug hatte er das Recht zum Selbsthilfeverkauf im Falle des Annahmeverzugs. Schließlich trafen kaufmännische Käufer Rügeobliegenheiten.55

Andere etablierte, vom römischen Recht abweichende Regeln unter Kaufleuten umfassten den Gutglaubensschutz auch bei gestohlenen Gütern, den Eintritt von Rechtsnachfolgern beim Tod eines Geschäftspartners sowie das Recht des Verkäufers, im Transport befindliche Güter des Käufers nach dessen Pflichtverletzung aufzuhalten.56

2. Wechsel

Der Wechsel wird vielfach als universelles Rechtsinstitut bezeichnet.57 Aufgekommen ist der Wechsel als Eigenwechsel in der Mitte des 12. Jahrhunderts als gestaltete Notariatsurkunde in Italien.58 Der Wechsel hatte zum Inhalt, dass der Aussteller dem Versprechensempfänger versprach, ihm oder einem Dritten eine bestimmte Summe auszuzahlen. Diese Praxis erweiterte sich bis zum Ende des 16. Jahrhunderts durch die Praxis der Kaufleute dahingehend, dass der Aussteller in seinem Wechsel – “Tratte“ genannt – eine vierte Person anwies, die Summe auszuzahlen. Zahlte der Vierte nicht, so konnte beim Aussteller Regress genommen werden.59 Der Wechsel breitet sich nach ganz Mitteleuropa aus.60

Ab dem 17. Jahrhundert entstand die Übertragbarkeit des Wechsels.61 In der Form der girata wurde dem Versprechensempfänger in Italien die Übertragbarkeit an Order erlaubt.62 Aus Angst vor „Missbrauch bei welchem man den Wechselbrief als solchen zum Zahlungsmittel erhebt“,63 wurde diese Gestaltungspraxis 1607 im Königreich Neapel durch notarielle Beurkundung des Indossaments und die unbedingte Haftung des Indossierenden stark eingeschränkt.64

Parallel dazu entwickelte sich in Frankreich die ähnlich gestaltete Übertragbarkeit von Wechseln durch endossement. Auch diese Praxis, insbesondere die Annahme von indossierten Wechseln und die Haftung des Indossierenden, wurden von Städten und vom Königreich zügig reglementiert.65

Ohne dass ein Einfluss des einen Wertpapiers auf das andere nachgewiesen ist, glichen girata und endossement sich in Form, Rechtsfolgen und ökonomischem Zweck der Erleichterung des Zahlungsverkehrs.66 Ihre gemeinsame Gestaltungsart breitete sich nach Deutschland und England aus, wo dieses Rechtsinstitut ebenfalls reglementiert wurde.67

3. Seetransport

Das Seerecht gilt als ältestes Sonderrecht eines Verkehrsmittels.68 Auf das antike Seerecht von Rhodos folgend,69 bildeten sich seit dem Mittelalter gewohnheitsrechtliche Partikularrechte heraus, welche in Stadtrechten und den Satzungen von Seehandelsgilden festgehalten wurden.70 Während in England der Court of Admiralty das kaufmännische Seegewohnheitsrecht anwendete,71 erlangten auf dem europäischen Kontinent drei Gewohnheitsrechtsammlungen besondere Bedeutung: Der consulato del mare der Stadt Barcelona von 1340, die Rôled’Oléron72 und das Seerecht von Visby.73


48 Trakman, JMLC 12 (1980), 1, 6. Siehe bzgl. Osteuropa Küpper (Fn. 13), S. 122.

49 Rehme (Fn. 26), S. 28, 98 f.

50 Man sollte jedoch beachten, dass der Handelsstand diese Sachgebiete mit einem praktischen, keinem systematischen Anspruch wie die Privatrechtswissenschaft, regelte. Denn privatrechtliches Denken ist im akademischen Unterricht verankert, hat eine autonome Terminologie für einen sozial-theoretischen Ordnungsplan und versteht sich deshalb nicht von sich selbst, sondern muss gelernt und eingeübt werden, siehe Liebrecht (Fn. 45), S. 1245, 1246. Ein solches Denken war dem Handelsstand fremd.

51 Powell, Current Legal Problems (Curr. Leg. Prob.)38 (1956), 16, 17.

52 Meyer (Fn. 23), S. 69.

53 Vgl. Zimmermann, The Law of Obligations, 1996, S. 770 ff.

54 Trakman, JMLC 12 (1980), 1, 7.

55 Goldschmidt, Universalgeschichte des Handelsrechts³, 1891 (Neudruck von 1971), 316 f. m.w.N.

56 Berman/Kaufman, HILJ 19 (1978), 221, 226.

57 So Rehme (Fn. 26), S. 28, 94 f.

58 Zum Verhältnis von Wechsel und Seedarlehen siehe Goldschmidt (Fn. 55), S. 415.

59 Schaps, Zur Geschichte des Wechselindossaments, 1892, S. 9.

60 de Roover/Laubenberger, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte – V. Band, 1179, 1180.

61 Diese Übertragbarkeit sei „(…) ein „Zeugnis (…) der lebendigen Kraft des Gewohnheitsrechts, (…) Institute zu schaffen, (…) bis die Gesetzgebung sich veranlasst sieht die Regelung der Materie in die Hand zu nehmen (…),“ Schaps (Fn. 59), S. 87.

62 Schaps (Fn. 59), S. 97.

63 „E perchè col medesimo abuso si sogliono fare molte lettere di cambiopagabili al tale (…)“, Pragmatica III de litteriscambii vom 8. November 1607 Nr. 14, zitiert in: Schaps (Fn. 59), S. 88.

64 Schaps (Fn. 59), S. 89.

65 Schaps (Fn. 59), S. 123 ff.

66 Schaps (Fn. 59), S. 86.

67 Schaps (Fn. 59), S.145 f., 178 ff.

68 Schaps/Abraham, Seerecht – Seehandelsrecht Erster Teil4, 1978, S. 5.

69 Siehe dazu Malynes, Consuetudo, vel Lex Mercatoria – or the Ancient Law Merchant, 1622 (Nachdruck 1997), S. 120.

70 Rabe, Seehandelsrecht – Fünftes Buch des Handelsgesetzbuches mit Nebenvorschriften und Internationalen Übereinkommen4, 2000, Einl. Rn. 25.

71 Zimmermann, ZEuP 1993, 4, 31 f.

72 Dazu allgemein Shephard in: Vito (Hrsg.), From Lex Mercatoria to Commercial Law, 2005, S. 207 ff.

73 Trakman, JMLC 12 (1980), 1, 4.

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Im europäischen Mittelmeerraum verdrängte der consulato del mare durch seine praktische Geltung seit 1370 viele der uneinheitlichen partikularen Stadtseerechte.74 Eine ähnliche Geltung erlangte das Seerecht von Oléron im nordeuropäischen Küstenraum. Dieses fasste 24 Seegerichtsurteile zusammen, in denen Kaufleute mitentschieden.75 Es bildete sogleich die Basis für das 1407 vom Hanse-Tag in Lübeck verabschiedete Seerecht von Visby, welches das geltende Seegewohnheitsrecht im Ostseeraum zusammenfasste.76 Diesem folgte 1614 das Seerecht der Hanse nach.

Die Regelungswerke enthielten für zentrale seerechtliche Institute ähnliche Regelungsergebnisse. Für verschuldete Schiffskollisionen findet sich in den romanischen Gebieten das wichtige Ergebnis der Haftung des Reeders für alle in Ausführung der Dienstverrichtung begangenen Schäden.77 Dasselbe gilt nach dem Seerecht der Hanse von 1614. Dieses beinhaltete aber auch den Grundsatz, dass bei unverschuldeten Kollisionen beide Reeder den Schaden zu gleichen Teilen zu tragen hatten.78

Die große Haverie – der in einer Gefahrenlage auf Anordnung des Kapitäns zur Rettung von Schiff und Ladung diesen zugefügte Schaden79 – stellt einen weiteren Regelungsschwerpunkt dar. Als universelles Prinzip hat es sich im deutschen Mittelalter durchgesetzt, dass solche Schäden auf alle betroffenen Kaufleute und Reeder aufzuteilen waren.80 Dieselbe Regelung traf das auf dem Gesetz von Oléron aufbauende erste französische Seegesetz, die ordonnance de la marine von 1681 in Titel 7 Art. 2 f. Die exakte Haftungsverteilung konnte jedoch je nach Regelungsgebiet schwanken.81

4. Versicherungen

Die moderne Prämienversicherung ist als Seeversicherung für den Warentransport mit Beginn des 14. Jahrhunderts in Italien entstanden.82 Ihr Ursprung war kaufmännischer Erfindungsgeist.83 Ihr Gedanke des Risikogeschäfts geht auf das Seedarlehen zurück.84 Beim Seedarlehen gewährte der Darlehensgeber jemandem ein Darlehen, welches nur im Falle der erfolgreichen Seereise zurückzuzahlen war.

Auf die vertragsgestaltende Praxis der Kaufleute hin mussten sich staatliche Institutionen mit dem Aufkommen der Versicherung befassen: In Venedig wurde für Seeversicherungssachen die erste Zuständigkeit eines, aus Kaufleuten zusammengesetzten, Handelsmagistrats eingeführt.85 Im 16. Jahrhundert wurden in Spanien von Seekonsulen Versicherungsregeln erlassen.86 Erst 1588 wurde der erste Versicherungsvertrag in Hamburg mit 29 Versicherern nachgewiesen.87 Als Versicherungsregeln galten in Hamburg die Bedingungen der Antwerpener Assekuranzbörse,88 wiederum einer kaufmännischen Institution. Die Beschlüsse der vereinigten Versicherer Hamburgs ergänzten diese.89 Erst ab dem 17. Jahrhundert gab es aufgrund der hohen finanziellen Risiken bei Versicherungen Regulierungsansätze deutscher und niederländischer Städte.90 Somit waren in Norditalien, Spanien, den Niederlanden und Deutschland zunächst die von den Kaufleuten selbst geschaffenen Regeln maßgeblich.

5. Ein kohärentes System?

Nach der Darstellung einzelner Rechtsinstitute stellt sich die Frage, ob sie über ganz Europa hinweg wirklich denselben Inhalt aufwiesen. Der vorsitzende Richter der King’s Bench Division, Lord Mansfield, bejahte dies 1758 in Bezug auf den Seehandel.91 Ein genauer Vergleich der verschiedenen Regeln seit dem europäischen Spätmittelalter erscheint indes schwierig. So fehlen hinsichtlich der Detailgestaltungen genügend Quellen, um eine abschließende Bewertung der Kohärenz der historischen lex mercatoria vorzunehmen. Vielfach wird davon ausgegangen, dass sich die Regeln für den Handelsstand über sprachliche und staatliche Grenzen hinweg glichen.92 Aus den vorhergehenden Beschreibungen erscheint dies möglich. So finden sich in ganz Europa einheitliche Prinzipien, wie das Handeln nach Treu und Glauben,93 die Gestaltung von Wechseln94 und die Risikoverteilung bei Seetransporten.95 Diese Prinzipien wurden vom Handelsstand geschaffen und vielfach von staatlichen Institutionen übernommen.

Diese Annahme wird durch Folgendes unterstützt: Der Handelsstand wies in Europa überall dasselbe Hauptinteresse auf – gewinnbringende Geschäftsabläufe. Wenn sich Interessen in einem Kulturkreis, als welcher das abendländische Europa an dieser Stelle gelten soll, gleichen, dann erscheint auch eine kohärente Regelungsausgestaltung wahrscheinlich.

III. Verfahrensrechtliche historische Sonderregeln des Handelsstandes

1. Besondere Gewährleistungen im staatlichen Gerichtsverfahren

Ascanio Baldasseroni schrieb 1814, dass für den Handel zu jeder Zeit Gerichte mit besonderer Handelskenntnis eingerichtet wurden.96 Das umfassendste historische Beispiel dafür enthält wohl das Little Red Book der englischen Stadt Bristol unter der Überschrift Incipit lex mercatoria, que, quande, vbiinterquos et des quibussit. Dieses Traktat enthält Eintragungen zu kaufmännischen stadtrechtlichen Regelungen von 1344 bis 1422.97 Es soll seinem Sinn nach Markt-


74 Goldschmidt (Fn. 55), S. 335 ff.

75 Pohlmann in: Coing (Hrsg.), Handbuch der europäischen Privatrechtsgeschichte – Erster Band, 1973, S. 801, 808.

76 Pohlmann (Fn. 75), S. 809.

77 Goldschmidt (Fn. 55), S. 337 f.

78 Landwehr (Fn. 46), S. 137.

79 Azuni, Dizionario della giurisprudenza mercantile, 1834, S. 190.

80 Landwehr, Die Haverei in den mittelalterlichen deutschen Seerechtsquellen, 1985, S. 24.

81 Cordes in: From Lex Mercatoria to Commercial Law (Fn. 72), S. 53, 65.

82 Goldschmidt, (Fn. 55), 358 f.

83 Nehlsen-von Stryk, Die venezianische Seeversicherung im 15. Jahrhundert, 1986, S. 6.

84 Goldschmidt, (Fn. 55), S. 362.

85 Nehlsen-von Stryk (Fn. 83), S. 30.

86 Bewes, The Romance of the Law Merchant, 1923, S. 66 f.

87 Kiesselbach, Die Entwicklung der Seeversicherung in Hamburg, 1901, S. 15.

88 Kiesselbach (Fn. 87), S. 15.

89 Kiesselbach (Fn. 87), S. 124.

90 Kiesselbach (Fn. 87), S. 131.

91 Luke etl. al. v. Lyde (1759) 2 Burr. 882, 887 ff.

92 Als Grund wird teilweise die gemeinsame Grundlage des Handelsrechts, das römische Recht, angeführt, siehe Rehme (Fn 26.), S. 28, 91. Dabei sollte jedoch beachtet werden, dass sich Institute, wie das Wertpapier oder die Versicherung erst im Mittelalter herausbildeten, es dafür also keine gemeinsame römische Grundlage geben kann.

93 Siehe oben, C.II.1.

94 Siehe oben, C.II.2.

95 Siehe oben, C.II.3 sowie C.II.4.

96 Baldasseroni, Diziona rioragionato di giurisprudenza marittima ed di commercio, 1814, S. 340.

97 Eingehend zum Ganzen mit übersetztem Abdruck des Traktats Eichler (Fn. 31), S. 11 f.

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recht sein. An seinem Beispiel sollen besondere Gewährleistungen für Kaufleute im spätmittelalterlichen Gerichtsverfahren dargestellt werden.

Zunächst sollte nach Kapitel XII jedes Urteil von den Kaufleuten des Marktes selbst gefunden werden. Dies war nicht unüblich in Europa. So erlaubten viele italienische Städte ihren Kaufleuten, ihre Richter selbst zu wählen, erstmals Mailand 1154.98

Das dann gewählte Verfahren sollte gemäß Kapitel II vor allem schneller als das eines normalen Gerichts sein. Dieser Grundsatz schien sich in ganz England auszubreiten, wurden den Kaufleuten doch schnellere und weitgehend mündliche Verfahren mit leichterer Beweisaufnahme garantiert.99 Auch im Bozner Meßgerichtsprivileg von 1635 war der Beschleunigungsgrundsatz das wichtigste Verfahrensziel.100

Ferner galt nach Kapitel II der absolute Grundsatz der Klägerbeweislast. Überkommene Traditionen, wie Reinigungseide und Gottesurteile, wurden in den Stadtrechten in ganz Europa durch die Kaufleute abgelegt.101

Im Fokus des Bristol-Traktats stand schließlich die Vollstreckung. „Sogleich“ nach ihrer Verkündung sollte die Vollstreckung von Urteilen gemäß Kapitel XIII stattfinden. Der Marktherr sollte die Vollstreckung auch mit Gewalt durchführen und dabei durch zwölf Kaufleute begleitet werden können.

Kaufleuten wurde im Mittelalter damit zweierlei garantiert: Erstens erhielten sie grundsätzlich die Möglichkeit einer eigenen Gerichtsbarkeit mit Richtern aus den eigenen Reihen. Dadurch konnten die Kaufleute ihr Gewohnheitsrecht untereinander relativ selbstständig von adeligen, kirchlichen und munizipalen Institutionen ausüben.102 Zweitens wurde den Kaufleuten Effektivität in Prozess und Vollstreckung garantiert.

2. Schiedsverfahren

Handelsschiedsverfahren heutiger Art haben ihren Ursprung in mittelalterlichen Marktgerichten sowie den Kaufmannsgilden.103 Sie waren seit dem Mittelalter eine gängige Art der Streitbeilegung in England104 und Frankreich.105 Dies rührte daher, dass in vielen Gilden die Streitbeilegung durch Schiedsverfahren nicht nur gewährleistet, sondern sogar vorgeschrieben war. Strafzahlungen bei Verstößen gegen den Vorrang des Schiedsverfahrens waren üblich und wurden von Gerichten für wirksam erklärt.106 Wie Beweise für Schiedsverfahren seit dem 13. Jahrhundert in Bayern bestätigen,107 gab es auch im deutschsprachigen Raum seit dem Spätmittelalter eine Schiedsverfahrenspraxis.108

Inwiefern das für die Schiedsgerichtbarkeit heutzutage fundamentale Konzept der Parteiautonomie109 schon im Mittelalter verwurzelt war, ist ungeklärt. Jedoch lässt sich von der Existenz der Schiedsgerichtsbarkeit darauf schließen, dass Kaufleute viele wichtige Streitigkeiten eigenständig lösen konnten. So konnten die kaufmännischen Parteien ihre Schiedsrichter aus ihren Reihen selbst wählen.110 Die eigenständige Rechtsentwicklung des Handelsstandes in Europa wurde also durch die Schiedsgerichtsbarkeit unterstützt.

D. Das Ende der historischen lex mercatoria

Das Ende der lex mercatoria des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit wurde dadurch eingeleitet, dass sie zunächst von der sich etablierenden Handelsrechtswissenschaft systematisiert wurde (I.). Diese Handelsrechtswissenschaft legte den Grundstein für die Kodifizierung des erschlossenen Handelsrechts und damit auch für die Kodifizierung der lex mercatoria(II.). Schließlich soll darauf eingegangen werden, ob die Existenz von Sonderregeln des Handelsstandes in der Vergangenheit ein Argument für die Akzeptanz einer gegenwärtigen lex mercatoria sein kann (III.).

I. Erfassung der lex mercatoria durch die Handelsrechtswissenschaft

Ausgehend von Benevenutu Straccas Werk „Tractatus de mercatura seu mercatora“ (1553), entwickelte sich die Handelsrechtswissenschaft zu einer eigenständigen Disziplin.111 Werke in Frankreich, Italien, Portugal und Spanien folgten seit dem 16. Jahrhundert.112 In England veröffentlichte Gerard Malynes 1622 die erste englische Gesamtdarstellung des Handelsrechts, „Consuetudo, Vel Lex Mercatoria – or the Ancient Law Merchant“.

Dieser Titel bringt hervorragend zum Ausdruck, was die Handelsrechtswissenschaft als ihre Aufgabe sah: Nicht die Behandlung des Handelsstandes durch staatliche Institutionen sollte dargestellt werden, sondern insbesondere seine Behandlung durch sich selbst. Die Handelsrechtswissenschaft systematisierte damit Gestaltungen, Regelungsmechanismen und Institute, welche der Handelsstand, auch in Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen, selbst geschaffen hatte.113 Sie erfasste die lex mercatoria.

II. Integrierende Ablösung durch Kodifikationen

Gleichzeitig entwickelte sich seit Beginn der Neuzeit der Nationalstaat. Staaten wie Frankreich oder Spanien entwickelten nun eine starke Zentralmacht. Die Unabhängigkeit von Städten und Kaufmannsgilden ging erheblich zurück.114 Dadurch entstand ein bisher unbekannter Rahmen für die Rechtsvereinheitlichung.

In England wurden seit dem 16. Jahrhundert durch die starke Zentralgewalt spezielle Handelsgesetze erlassen und die meisten Handelsstreitigkeiten den ordentlichen englischen Gerichten zugeteilt.115 Dadurch verlor die lex mercatoria ihre


98 Berman, Law and Revolution – The Formation of the Western Legal Tradition, 1983, S. 346.

99 Zimmermann, ZEuP 1993, 4, 29 f. m.w.N.

100 00] Kappus (Fn. 36), S. 38.

101 Thier (Fn. 28), S. 1434, 1436.

102 Berman (Fn. 98), S. 348.

103 Wolaver, University of Pennsylvania Law Review (U. Pa. L. Rev) 83 (1934-1935), 132, 133.

104 Siehe dazu im besonderen Malynes (Fn 69), S. 447.

105 Born, International Commercial Arbitration, 2009, S. 28 f.

106 Vgl. Vynior v. Wilde (1609) 8 Co. Rep. 80.

107 Kobler, Das Schiedsgerichtswesen nach bayerischen Quellen des Mittelalters, 1967, S. 107 f.

108 Siehe zur gesamten Geschichte der Schiedsgerichtsbarkeit in Deutschland Krause, Die geschichtliche Entwicklung des Schiedsgerichtswesens in Deutschland, 1930.

109 Mertens in: Teubner (Hrsg.), Global Law Without a State, 1997, S. 31, 32.

110 Malynes, (Fn 69), S. 447.

111 Siehe für eine allgemeine Darstellung der handelsrechtlichen Literatur dieser Zeit Scherner in: Coing (Hrsg.), Handbuch der europäischen Privatrechtsgeschichte – Zweiter Band Erster Teilband, 1977, S. 797, 826 ff.

112 Rehme (Fn. 26), S. 28, 180 f.

113 Berman (Fn. 98), S. 348 ff.

114 Rehme (Fn. 26), S. 28, 179.

115 Zimmermann, ZEuP 1993, 4, 32.

Hocke, Die Lex Mercatoria in der europäischen Rechtsgeschichte (BLJ 2012, 3)8

besondere Stellung und wurde dem common law einverleibt.116 Auch auf dem Kontinent wurde die lex mercatoria in das staatliche Recht eingeordnet: In Spanien durch die überregional gültige Handelsordnung von Bilbao von 1560,117 in Frankreich durch die ordonnance du commerce von 1673 und in Deutschland durch umfassende Gesetze von Fürstentümern und Städten seit dem 17. Jahrhundert.118 Schließlich hat sich mit dem Aufkommen des gelehrten Richtertums auf dem europäischen Kontinent ebenfalls durchgesetzt, dass Handelsgerichte auch mit juristisch ausgebildeten Richtern besetzt sein mussten.119

Die Gründe für den umfangreichen Erlass handelsrechtlicher Vorschriften in der Neuzeit sind wohl in Möglichkeit und Notwendigkeit des Eingreifens staatlicher Institutionen zu suchen: Möglich wurden den National- und Territorialstaaten die Rechtsvereinheitlichung durch ihre zunehmende Autorität. Durch die darüber hinausgehende Fortentwicklung der Rechtswissenschaft konnte man außerdem das Wissen für solche Vereinheitlichungen bündeln. Notwendig schienen Regelungen aus dem Bedürfnis heraus geworden, dass stets steigende Warenumschlagszahlen zu mehr potentiellen Konflikten führten. Schließlich passte auch die Kodifikation handelsrechtlicher Gebiete zur in ganz Europa einsetzenden120 Kodifikationsbewegung.

Die resultierenden handelsrechtlichen Kodifikationen erfanden die Regelungen für den Handel aber nicht gänzlich neu, sondern integrierten vielmehr das Sonderrecht der Kaufleute.121 Sie bauten entweder auf der Handelsrechts-wissenschaft oder den Partikularrechten, welche durch den Handelsstand zustande kamen, auf.122 Ein Beispiel für die Integration der lex mercatoria durch letzteres Verfahren ist die französische ordonnance de la marine von 1681, welche maßgeblich das Seegesetz von Oléron zum Vorbild hatte.123

III. Schlussfolgerungen für die Diskussion um eine gegenwärtige lex mercatoria

Ob es eine lex mercatoria in der Gegenwart gibt, ist äußerst umstritten.124 Sie könnte Schiedsverfahrensregeln, internationale Übereinkommen, Modellgesetze und Handelsbräuche umfassen. Die Existenz der lex mercatoria in der Vergangenheit wird als Argument dafür herangezogen, dass man auch heutzutage von ihrer Existenz ausgehen sollte. Vor dem Hintergrund der vorhergehenden Beschreibungen soll die Validität dieses Arguments untersucht werden.

Möchte man argumentieren, dass auch heutzutage die lex mercatoria als autonome, kohärente Rechtsordnung akzeptiert werden sollte, weil es in der Vergangenheit ebenso war, so müsste man davon ausgehen, dass die Voraussetzungen ähnlich seien. Doch ist dem nicht so: Während sich die lex mercatoria heute bewusst von staatlichem Recht absetzt,125 ist sie im Spätmittelalter im Wesentlichen entstanden, weil es kaum betreffendes staatliches Recht gab126 und die Rechtsquellenlehre des Mittelalters pluralistisch war.127 Die fehlende Anwendbarkeit staatlichen Rechts war damals also Grund und ist heute Ziel der lex mercatoria.

Auch war der Handelsstand in der europäische Rechtsgeschichte keinesfalls gänzlich autonom. Erstens standen auch in der Rechtsgeschichte seine Regeln nicht alleine dar. Ihnen wurde vielfach erst durch Stadtrecht und Gerichtsurteile durchsetzbare Geltung verschafft.128 Zweitens wurde, sobald Institute als besonders gefährlich erschienen, zügig zu staatlichen Regelungen gegriffen, so z.B. beim Wechselindossament.129

Schließlich muss beachtet werden, dass die Kaufleute ihr eigenes Recht seit dem Mittelalter vor allem deswegen entwickeln konnten, weil sie und ihre Gilden130 Standesprivilegien genossen,131 insbesondere bei staatlichen Gerichtsverfahren.132 Solche Privilegien sind der modernen, gleichbehandelnden Gesellschaft fremd.133

Die Rahmenumstände der historischen und der gegenwärtigen lex mercatoria sind also grundverschieden: Auf der historischen Seite eine partikulare Gesellschaft, sowohl hinsichtlich Ständen als auch hinsichtlich Territorialzersplitterung; auf der gegenwärtigen Seite eine globalisierte Gesellschaft starker Nationalstaaten, gewachsenen internationalen Transaktionsrisiken und der Anschauung, dass Ungleichbehandlungen verschiedener Gruppen vermieden werden sollten.

E. Zusammenfassung

Seit dem Mittelalter existierte eine historische lex mercatoria. Diese zeichnete sich durch vom Handelsstand selbst geschaffene Regeln und verfahrensrechtliche Sondergewährleistungen aus. Sie fand ihr Ende in den Kodifikationen der erstarkten Nationalstaaten. Diese sahen seit der Neuzeit die Möglichkeit und die Notwendigkeit einheitlicher Handelsregelungen. Zusätzlich hat sich die gesellschaftliche Struktur im Laufe der Geschichte stark verändert. Somit unterscheiden sich die Rahmenbedingungen von historischer und gegenwärtiger lex mercatoria signifikant. Ein Argumentationsnutzen für eine gegenwärtige lex mercatoria erscheint daher begrenzt.

Der konzeptionelle Unterschied zwischen historischer und gegenwärtiger lex mercatoria wird besonders deutlich, wenn man die Darstellung der historischen lex mercatoria im Ganzen betrachtet: Sie ist nicht nur eine Darstellung des Begriffs der lex mercatoria, sondern des Handelsrechts überhaupt. Die historischen Ursprünge des Handelsrechts sind vom Begriff der lex mercatoria nicht zu trennen. Die historische lex mercatoria mündete in das Handelsrecht.


116 Rehme (Fn. 26), S. 28, 189, f.

117 Siehe zur Rezeption der lex mercatoria im Spanischen Handelsrecht de Benito, El derecho mercantil espanol en elsiglo XVII, 1934.

118 Rehme (Fn. 26), S. 28, 181 ff., 198.

119 Rosenberg in: Ehrenberg (Hrsg.), Handbuch des gesamten Handelsrecht – Erster Band, 1913, S. 449, 451.

120 Schlesinger, Comparative Law6, 1998, S. 260 f.

121 Schmitthoff, RabelsZ 1964, 47, 49.

122 Schmitthoff, Commercial Law in a Changing Economic Climate², 1981, S. 4 ff.

123 Schaps/Abraham (Fn. 68), S. 6.

124 K. Schmidt in: MüKoHGB, Vorbem zu § 1, Rn. 36 m.w.N.

125 Schmitthoff, RabelsZ 1946, 47, 59.

126 Berman (Fn. 98), S. 340; Santarelli (Fn. 43), S. 47.

127 Hellwege (Fn. 7), S. 1020, 1021.

128 So auch Donahue in: Vito (Hrsg.), From Lex Mercatoria to Commercial Law, 2005, S. 69, 114.

129 Dazu C.II.2.

130 Dazu C.I.3.

131 Hellwege (Fn. 7), S. 1020, 1021.

132 Dazu C.III.1.

133 von Hein in: Rauscher, Art. 3 Rom I-VO Rn. 50.