by Johannes Gerberding
Gewisse Ideen haben sich aus der US-amerikanischen law school in die deutsche Universität verpflanzen lassen, ohne dass sie eingegangen sind, andere haben die Reise über den Atlantik nur schwer angeschlagen überlebt oder gar nicht. Die law-and-economics-Bewegung hat in Deutschland Wurzeln schlagen können, obwohl die Funktion dieses Ansatzes im amerikanischen Diskurs – als Substitut für inexistente Rechtsdogmatik – in der deutschen Rechtswissenschaft keine Rolle spielt. Die critical legal studies, die farbenfrohen Abkömmlinge des amerikanischen Rechtsrealismus, sind in Deutschland dagegen nie richtig heimisch geworden. Dabei ist ihr thematischer Fokus, die Kritik der juristischen Form als Herrschaftskritik, keine amerikanische Spezialität. Eine institutionelle Verfestigung blieb hierzulande jedoch aus. Gesichter, Zeitschriften, Sammelbände, die für diesen Ansatz stehen – Fehlanzeige.
Einen Einblick in intellektuelle Grundlagen und Arbeitsweise der CLS erhält der Leser des Nachzüglerwerks „The Myth of Choice“ des Rechtswissenschaftlers Kent Greenfield. Gut gelaunt und ausgerüstet mit zahllosen Beispielen rückt der Autor der Vorstellung des autonomen Individuums zuleibe. Zwar stellt Greenfield die im Titel angekündigte „choice“ in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Stimmiger – und anschlussfähiger für die hiesige juristische Diskussion – wird das Buch durch eine leichte Akzentverschiebung bei der Lektüre: Nicht ein heterogenes Bündel an „Entscheidungen“ bildet seinen Gegenstand, sondern der Gedanke der Autonomie. In dem Kompositum Privatautonomie ist er der größte
Totempfahl der Vertragsrechtler, in seinen Facetten Vorsatz und der Schuld begegnen wir ihm im Straf- und Deliktsrecht. Damit sind die Rechtsgebiete genannt, zu denen Greenfield sein Arsenal an Beispielen und Fallstudien in Beziehung setzt.
Der deutsche Leser kann zunächst staunend zur Kenntnis nehmen, welcher Gloriolenschein die „choice“ in der politischen und der Alltagskultur der USA umgibt – der Glanz der deutschen „Selbstbestimmung“ wirkt deutlich schwächer dagegen. In dem sich anschließenden ersten Hauptteil des Buches („Limits and Influences“) attackiert der Autor unsere Autonomievorstellung unter vier Bannern: Gehirn, Kultur, Fügsamkeit und Markt. Jede dieser Quellen von Autonomiedefiziten erhält ihr eigenes Kapitel. Es ist offensichtlich, dass diese Aufzählung unterschiedliche Kategorien vermengt. Negativ auffallen wird das aber nur demjenigen, der von Greenfields Buch eine Abhandlung über die Ursachen von Autonomiedefiziten in systematischer Absicht erwartet. Aber hierauf ist das Buch nicht angelegt. Für die Erschöpfung des Themas um den Preis der Erschöpfung des Lesers ist Greenfield nicht zu haben. Der Autor ist nicht bloß Juraprofessor am Boston College, sondern daneben Kolumnist und Aktivist; man wird ihm nicht Unrecht tun mit der Vermutung, dass er keiner Podiumsdiskussion ausweichen würde. Greenfield stellt sich entschieden in die Mitte seines Laienpublikums. Der sprichwörtliche Elfenbeinturm zeichnet sich hier nur noch winzig am Horizont ab. Die vier von Greenfield aufgeführten Kategorien dienen also eher als nützliche Schubladen, in die die von ihm herangezogenen Beispiele einsortiert werden können, als topoi. Unter den Beispielen finden sich einige alte, an anderen Stellen breiter diskutierte Bekannte (das Milgram’sche Elektroschock-Experiment etwa, die Wirkung sexueller Reize in der Werbung, die Freiheit auf den Märkten für Nieren und Babys oder die Freiheit zu und vor religiös motivierter Kleidung). Viele der vom Autor gefundenen Fallstudien aber sind verblüffend, prägnant, mitunter sogar unterhaltsam. Die Lektüre ist leichtgängig. Dieser Umstand täuscht ein wenig darüber hinweg, wie zahlreich jene Nachbarwissenschaften zur Rechtswissenschaft sind, in die Greenfield seiner Leserschaft Einblicke gewährt.
Gleichwohl erscheint das Buch durch die juristische Brille gelesen als eine Art bloße Vorstudie. Plausible Konsequenzen des präsentierten Befundes für den Bereich des Normativen zeigt das Werk nur oberflächlich auf. Die von Greenfield angeführten Beispiele lassen das Bild des frei entscheidenden Individuums zweifellos rissig werden. Aber was soll daraus folgen? Der zweite Hauptteil des Buches (vielversprechend „What to Do“ betitelt) erschöpft sich im Wesentlichen in der Ermahnung, Komplexität anzuerkennen, nicht voreilig von Schuld und Verantwortlichkeit zu sprechen und eine freie Entscheidung nicht unbedacht zu unterstellen. So richtig diese Warnungen sind: Sinnvoll ist sie nur, wenn man vor einem Verständnishintergrund argumentiert, wonach die gute, sachangemessene und richtige autonome Entscheidung irgendwie als solche zu erkennen ist. Greenfield tut dies, aber die Kriterien, welche die autonome Handlung auszeichnen sollen, bleiben unerörtert. Ist eine Entscheidung notwendiger- oder normalerweise von biologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten beeinflusst – und dies ist die These, für die Greenfield Beispiel um Beispiel anführt – dann erscheint es kaum sinnvoll, zur Bestimmung der autonomen Entscheidung von diesen Umständen völlig abzusehen. Das Buch stellt aber weder alternative, interdisziplinär informierte Autonomie- und Zurechnungskriterien vor noch tritt der Autor dafür ein, die zugrunde liegenden Rechtsfiguren gegen nachbarwissenschaftlichen Irritation abzuschirmen mit dem Hinweis auf die unüberbrückbare Kluft zwischen Sein und Sollen.
Trotz dieser Einwände bleibt Greenfields Buch lesenswert. Es liefert dem Juristen argumentativen Werkstoff für jene Bereiche, die aus dem Blickfeld zu geraten drohen zwischen der Großthematik von Willensfreiheit tout court einerseits und etwa der Kommentierung der §§ 119, 123 BGB andererseits.
Kent Greenfield: The Myth of Choice. Personal Responsibility in a World of Limits. Erschienen in New Haven, Connecticut, USA, bei Yale University Press. Gebunden, 244 Seiten, ca. 22,00 EUR.