Editorial: Kinderrechte ins Grundgesetz!

Warum wir eine Ergänzung der Verfassung brauchen!

by Brigitte Zypries*

Unser Grundgesetz wird 60 Jahre alt und wir feiern dieses Jubiläum zu Recht. Der Geburtstag unserer Verfassung darf sich aber nicht in staatstragenden Reden und Nostalgie erschöpfen. Wir müssen dieses Jubiläum auch zum Anlass nehmen, um zu prüfen, ob unsere Verfassung noch auf der Höhe der Zeit ist. Wir sollten daher nicht nur zurückblicken und uns an den Parlamentarischen Rat erinnern, sondern auch nach vorne schauen und fragen, was wir dafür tun müssen, damit unser Grundgesetz den Herausforderungen der Zukunft gerecht wird.

Die Zukunft unserer Gesellschaft, das sind vor allem die nachwachsenden Generationen, die Kinder. Sie sind aber zugleich auch das schwächste Glied unserer Gemeinschaft. Sie brauchen deshalb unseren Schutz und unsere Fürsorge ganz besonders. Viele spektakuläre Einzelfälle haben dies gezeigt. Einzelfälle, in denen Kleinkinder durch ihre Eltern misshandelt oder vernachlässigt worden sind. Die Diskussion darüber, wie wir den Kinderschutz verbessern können, spannt einen weiten Bogen: Von Maßnahmen der Früherkennung und der Gesundheitsfürsorge, über Aktivitäten der Familiengerichte und der Jugendämter, über die Zusammenarbeit und Vernetzung der im Kinderschutz tätigen Berufsgruppen bis eben hin zu einer Verankerung von Kinderrechten in der Verfassung.

Die Rechtspolitik hat in der Vergangenheit bereits eine Menge getan, um die Situation von Kindern zu verbessern: Im Jahr 2000 wurde Gewalt als Mittel der Erziehung geächtet (§ 1631 II BGB). Umfragen zeigen, dass heute immer weniger Eltern Schläge für ein Erziehungsmittel halten. 2002 trat das Gewaltschutzgesetz in Kraft (BGBl 2001 I S. 3513). Mit ihm kann bei häuslicher Gewalt der Schläger aus der Wohnung verwiesen werden. Das hilft nicht nur Frauen, sondern auch gefährdeten Kindern. 2008 haben wir schließlich die Eingriffsmöglichkeiten der Familiengerichte bei der Gefährdung des Kindeswohls verbessert; jetzt können die Gerichte schneller, umfassender und nachhaltiger handeln (§ 1666 BGB, BGBl. 2008 I S. 1188).

Solche Verbesserungen des einfachen Gesetzesrechts und auch die Optimierung seiner Anwendung müssen der erste Schritt sein, wenn es darum geht, Kinder besser zu schützen. Trotzdem bleibt eine Ergänzung des Grundgesetzes wichtig.

Die breite Diskussion darüber ist zunächst ein gutes Zeichen dafür, welch hohen Stellenwert unser Grundgesetz in der öffentlichen Wahrnehmung besitzt. Sie zeigt, welche große Bedeutung und Steuerungskraft ihm zugetraut wird. Die Forderung, Kindergrundrechte ausdrücklich ins Grundgesetz aufzunehmen, macht ja nur dann Sinn, wenn man dem Grundgesetz auch die Kraft zutraut, konkrete Lebenssituationen von Menschen unmittelbar zu verbessern. Dass es 60 Jahre nach In-Kraft-Treten des Grundgesetzes ein so großes Vertrauen in die Kraft unserer Verfassung gibt, freut mich als Verfassungsministerin ganz besonders. Auch ich bin davon überzeugt, dass die Bestimmungen unserer Verfassung – namentlich die Grundrechte – nicht nur dem staatlichen Handeln Schranken setzen. Sie haben auch die Kraft, staatliches Handeln im Interesse des Kinderschutzes zu verbessern.

Tatsache ist: Es gibt Eltern, die mit der Aufgabe, die ihnen unsere Verfassung zuweist – nämlich der Pflege und Erziehung ihrer Kinder – oft heillos überfordert sind. Aktuellen Schätzungen von Unicef zufolge werden etwa 5 bis 10 % aller Kinder unter 6 Jahren in Deutschland von ihren Eltern vernachlässigt. Die Ursachen hierfür sind vielfältig: Alkoholoder Drogenabhängigkeit, Arbeitslosigkeit oder Verarmung – es gibt viele Gründe, warum der Staat eingreifen muss, um Eltern zu unterstützen und Kinder zu schützen. Unser Grundgesetz gibt dafür dem Staat auch heute bereits den nötigen


* Die Autorin ist Bundesministerin der Justiz und Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Darmstadt-Dieburg.

Zypries, Kinderrechte ins Grundgesetz (BLJ 2009, 1)2

Handlungsspielraum. Artikel 6 gibt dem Staat ein Wächteramt, daher ist es letztlich der Staat, der das Wohl eines Kindes zu garantieren hat. Er ist verpflichtet, sich der Entwicklung des Kindes immer dann anzunehmen und es vor Gefährdungen zu schützen, wenn die Eltern ihre Verantwortung nicht oder nur unzureichend wahrnehmen. Wir haben also beides: Die Pflicht des Staates, in solchen Fällen einzugreifen, und dementsprechend den Anspruch der Kinder auf staatlichen Schutz. Gerade in letzter Zeit hat das Bundesverfassungsgericht wieder eines sehr deutlich gemacht: Kinder sind kein Objekt von Staat oder Eltern, Kinder haben eigene Rechte (BVerfG NJW 2008, 1287). Eine Ergänzung des Grundgesetzes, die dies deutlich benennt, kann auf längere Sicht das Rechtsbewusstsein all derer positiv prägen, die Verantwortung tragen, wenn es um das Wohl von Kindern und deren Schutz geht. Ich habe deshalb vorgeschlagen, Artikel 6 Grundgesetz wie folgt zu ergänzen:

„JedesKindhatein Recht auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und auf den besonderen Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung. Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte des Kindes und trägt Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen.“

Ein solcher Text könnte aus meiner Sicht vor allem vier Dinge leisten:

– Erstens wird dadurch die Stellung des Kindes als Subjekt, sein Anspruch auf Achtung seiner Persönlichkeit und seine zunehmende Einsichtsfähigkeit ausdrücklich anerkannt. Ohne das Primat der Elternverantwortung und das staatliche Wächteramt zu beeinträchtigen, wird damit klargestellt, dass sowohl die Eltern als auch der Staat ihre Entscheidungen, die die Kinder betreffen, stets am Kindeswohl ausrichten müssen.

– Zweitens würde dadurch erstmals in der Verfassung näher bestimmt, was das Kindeswohl eigentlich ist. Das würden wir dadurch erreichen, indem wir die gewaltfreie Erziehung sowie den Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung ausdrücklich im Grundgesetz verankern.

– Drittens würde damit der besondere Schutzund Förderauftrag des Staates gegenüber Kindern bekräftigt. Damit würde auch die Verwaltung an eine konkrete verfassungsrechtliche Vorgabe gebunden.

– Viertens schließlich hätte eine ausdrückliche Festschreibung der Kinderrechte auch Auswirkungen bei Interessenabwägungen. Das gälte etwa für den Gesetzgeber und die Verwaltung, wenn sie über die Finanzierung, den

Bau oder die Ausstattung von Kindergärten, Spielplätzen oder sonstigen öffentlichen Einrichtungen zu entscheiden haben. Das gälte aber genauso für die Gerichte. Bei allen Abwägungen wäre das Wohl des Kindes dann ein Faktor, der besonders ins Gewicht fiele, weil er im Grundgesetz ausdrücklich verankert wäre. Eine Ergänzung von Artikel 6 könnte also längerfristig erhebliche Auswirkungen auf alle Entscheidungen haben, die staatliche Organe in Bund und Ländern fällen und die in der einen oder anderen Form Kinder betreffen.

Der Schutz der Kinder vor Vernachlässigung oder Misshandlung fordert Engagement in vielen Politikbereichen, auch in der Rechtspolitik. Eine Ergänzung des Grundgesetzes würde aber weit über das Verfassungsrecht hinaus wirken. Sie wäre ein großer Gewinn für die Kinder. Deshalb ist sie so wichtig und deshalb setze ich mich dafür ein.