Editorial: Datenschutz ist Bürgerschutz

by Dr. Dr. h.c. Burkhard Hirsch*

„Eines Tages“, schrieb Kurt Tucholsky 1930 der vor den grölenden Horden verdämmernden Republik ins Stammbuch,

„wird einer kommen, der wird eine geradezu donnernde Entdeckung machen: er wird den Einzelmenschen entdecken. Er wird sagen: auf den kommt es an. Und ob der glücklich ist, das ist die Frage. Daß der frei ist, das ist das Ziel. Gruppen sind etwas Sekundäres. Es kommt nicht darauf an, daß der Staat lebe – es kommt darauf an, daß der Mensch lebe.“

Freilich, es dauerte, bis auch in der Bundesrepublik begriffen wurde, daß Datenschutz nicht „Täterschutz“ ist, sondern die Forderung, die wesentlichen Elemente der Privatheit auch im Zeitalter der elektronischen Kommunikation zu erhalten und gegen die Begehrlichkeiten des Staates und ökonomischer Interessenten zu sichern. Es blieb selbst nach einem fast 10-jährigen erbitterten Kampf um das erste Bundesdatenschutzgesetz, selbst bis zu den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zur Volkszählung, zum Lauschangriff, zum Luftsicherheitsgesetz und zur Online-Durchsuchung privater PCs umstritten, ob die Bürgerrechte des Einzelnen zur Disposition gestellt werden dürfen, wenn der Staat meint, daß sie ihn stören, und ob die Regierung das Recht haben müsse, nach ihrem Ermessen, also opportunistisch sogar über das Leben der Bürger zu verfügen, sie zu opfern, wenn sie meint, es sei für alle besser so.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner denkwürdigen Entscheidung zum Volkszählungsgesetz den Gedanken eines „Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung“ zu einem auf der Menschenwürde und auf dem Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit beruhenden Grundrecht gemacht. Wer damals gehofft haben sollte, es handele sich um eine alsbald revidierte Einzelentscheidung, der täuschte sich gründlich. Das Urteil war die konsequente Fortsetzung seiner ständigen Rechtsprechung, die der Menschenwürde, der Privatheit und der Selbstbestimmung den Vorrang vor Effektivität und Perfektionismus gab. In den letzten vier Jahren hat das Bundesverfassungsgericht sie in elf Entscheidungen fortgesetzt, in denen Gesetze des Bundes ganz oder teilweise für verfassungswidrig und nichtig erklärt wurden – eine beispiellose, den Gesetzgeber beschämende Serie.

In seiner Volkszählungsentscheidung von 1983 warnt das Bundesverfassungsgericht davor, den Einzelnen durch staatliche Überwachung, durch die Möglichkeiten der modernen Informationstechnologie und durch zunehmende Kontrolle unter wachsenden Anpassungsdruck zu setzen. Dabei fußte das Gericht nicht nur auf dem geistigen Erbe von John Locke, Wilhelm v. Humboldt und John Stuart Mill, sondern auch auf der berühmten privacy-Rechtsprechung der Richter Brandeis, Warren und Cooley. Sie entwickelten die Begriffe „privacy“ und das „right to be let alone“ – das Recht, in Ruhe gelassen zu werden – und vertraten schon Ende des 19. Jahrhunderts die Auffassung, daß das Common Law jedem Individuum das Recht einräume, regelmäßig selbst zu bestimmen, in wieweit seine Gedanken, Meinungen und Gefühle anderen mitgeteilt werden sollen.

Auch der Begriff „informationelles Selbstbestimmungsrecht“ war nicht neu, sondern von Steinmüller, Podlech, Denninger und anderen in die wissenschaftliche Literatur eingeführt und sogar schon einmal in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts verwendet worden.

Das informationelle Selbstbestimmungsrecht als eine Art Grundrecht und das Verständnis des Kernbereichs der privaten Lebensführung als eines Wertes, der vor jeder Abwägung geschützt ist und allen Interessen der Allgemeinheit vorgeht, sind mutige Vorgaben. Sie sind nicht ohne Kritik geblieben, obwohl das Gericht ihre Bedeutung durch die ständige Berufung auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzt hat. Es sind insbesondere die Minderheitsvoten gewesen, die eine eindeutige Absage an die gesetzgeberische Tendenz forder-


* Der Autor ist Rechtsanwalt in Düsseldorf.

Hirsch, Datenschutz ist Bürgerschutz (BLJ 2008, 49)50

ten, das allmähliche Abgleiten der Bundesrepublik in einen Präventionsoder Überwachungsstaat aufzuhalten.

Jahrelang schienen drei Entwicklungen dem Datenschutz und dem Wunsch nach Privatheit immer mehr den Boden zu entziehen und ihn unmodern zu machen.

Da ist der Siegeszug der modernen Elektronik, die rasante Verbreitung der PCs, der Payback-Karten, der Mobiles, des Internets, der SMS, des Chattens und der Emails, die das persönliche Gespräch und den Brief ersetzt haben und jede menschliche Kommunikation, jeden Einkauf, jeden Aufenthaltsort des stand-by-geschalteten Handys, jeden dem PC anvertrauten Gedanken zu einer unbegrenzt speicherbaren elektronischen Spur gerinnen lassen, die ausgeforscht, übermittelt und überwacht werden kann.

Da ist die Leichtfertigkeit, mit der Handy-Benutzer ganze ICE-Großraumabteile akustisch vermüllen, mit der andere Zeitgenossen im TV oder Internet ihre Intimdaten herumstreuen wie Pusteblumen, aus Dummheit, Angeberei oder sozialem Autismus.

Da ist schließlich und nicht erst nach dem l1.09.2001 das nahezu unersättliche Sicherheitsbedürfnis einer Gesellschaft, die sich nur zu gern mehr persönliche Sicherheit von staatlichem „Durchgreifen“ versprechen lässt und dabei stillschweigend davon ausgeht, daß sie selbst von diesen Maßnahmen schon nicht betroffen sein werden. Man ist ja schließlich kein Ganove und behauptet, man habe auch nichts zu verbergen. Man will den Zuwachs an eigener Sicherheit mit der Freiheit der anderen bezahlen – politische Zechprellerei, als ob wir aus der eigenen Geschichte nicht wüßten, daß es keine persönliche Freiheit ohne gesellschaftliche Freiheit geben kann.

Dieser Glaube, man sei selbst nicht betroffen, ist schon einmal bei der Volkszählung durch die Unersättlichkeit staatlicher Wünsche und privater Bedenkenlosigkeit massiv ins Wanken geraten. Bei der Telefonüberwachung sind wir unter den demokratischen Staaten Weltmeister. Man schätzt, daß jährlich etwa 500.000 Personen bei Telefonaten im Inland oder ins Ausland inhaltlich erfaßt werden. Bei der Rasterfahndung nach „islamistischen Schläfern“ wurden über 6 Millionen Personen gerastert, davon etwa 200.000 unter Mitwirkung amerikanischer Beamter herausgefiltert, ohne jedes bekannt gegebene und ohne jedes forensische Ergebnis. Ein besonderes Verdachtsmerkmal war die bisherige Unbescholtenheit der Verdächtigen. Das vom Verfassungsgericht verworfene NRW-Verfassungsschutzgesetz sollte die heimliche Verwanzung eines PCs mit dem Ziel ermöglichen, nicht nur Telefonate vor ihrer Verschlüsselung zu erfassen, sondern den gesamten Inhalt der Festplatte auslesen und jede weitere Nutzung des PCs inhaltlich dem Verfassungsschutz übermitteln zu können. Das Gericht entwickelte ein Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit elektronischer Informationssysteme, um die staatliche Neugier auf extreme Notfälle zu beschränken. Im Entwurf eines Bundeskriminalamtgesetzes unternimmt der Staat nun einen neuen Versuch. Aber auch das genügt ihm nicht. Durch die „Vorratsdatenspeicherung“ auf mehr als dubioser europarechtlicher Grundlage läßt der Staat seit Jahresanfang alle elektronischen Kommunikationsspuren von jedermann auf 6 Monate speichern, ohne jede konkrete Veranlassung, eben nur mal so. Die dabei vorgesehenen Zugriffsberechtigungen gehen weit über die Richtlinie hinaus, für Strafverfolgung, Gefahrenabwehr in Bund und Ländern, und für jeden denkbaren nachrichtendienstlichen Zweck. Damit hat die Bundesrepublik die Grenze zum Überwachungsstaat überschritten. Daß die gespeicherten Verbindungsdaten kein Spiel sind, hat die Telekom eindrucksvoll gezeigt. Man kann mit ihnen jeden vertraulichen Kontakt durchbrechen und umfassende Persönlichkeitsprofile aufstellen, über jedermann, über den man etwas wissen will.

Weit über dreitausend Personen, darunter eine ganze Fraktion des Bundestages und zahlreiche Einzelpersonen, haben Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie sind bei beiden Senaten des Bundesverfassungsgerichtes anhängig, ein einmaliger Vorgang. Die Bundesregierung hat sich eine Schriftsatzfrist bis Ende Oktober 2008 erbeten, obwohl sie alle Ressourcen zur Verfügung hat und man denken könnte, daß sie die verfassungsrechtlichen Probleme schon bei der Gesetzgebung geprüft hat. Die Absicht der Verschleppung ist offensichtlich.

Die Bundesrepublik ist dabei, das Vertrauen der Bürger zu verspielen. Wenn der Staat sie wie potentielle Straftäter behandelt, warum sollten sie dann dem Staat mehr vertrauen, als er ihnen? Das Grundgesetz als eine Rechtsordnung, die sich potentielle Straftäter gegeben haben, das ist eine Vorstellung, die ich nicht nachvollziehen kann und will. Ein Staat, der sich nicht mehr auf den Respekt, die Anerkennung, die Bereitschaft seiner Bürger zur Mitarbeit und zur Übernahme von Verantwortung stützen kann, der wird sich auf Dauer auch durch seine „Sicherheitsorgane“ nicht erhalten können. Dafür gibt es genug historische Beispiele. Wir sollten es nicht noch einmal erleben müssen, daß der Staat uns durch ständig fortschreitende Überwachung, Gängelung, Beobachtung, wohlmeinende Entmündigung, in bester Absicht also, zu Untertanen macht, die sich schließlich resigniert ins Private zurückziehen und ihr Schicksal ihm, aber auch ihn seinem Schicksal überlassen.