by Peter-Jan Solka*
A. Einführung
“Manchmal ist die Phantasie des Steuerzahlers größer als die Regelungskraft des Gesetzgebers.”1 Dieses Zitat von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zeigt eines der großen Probleme des Steuerrechts zutreffend auf. Es existieren mannigfaltig legale Wege, die persönliche Steuerlast zu verringern. Allerdings werden diese Wege auch vielfach verlassen.2 Damit begibt sich der Handelnde in den Anwendungsbereich der Steuerhinterziehung. Ob dies nun wissentlich oder unwissentlich geschieht ist oft schwer zu klären. Nun werden sich aber sowohl der findige „Steuerbetrüger“ als auch der tatsächlich Unwissende regelmäßig darauf berufen, über die steuerliche Relevanz ihres Handelns in Unkenntnis gewesen zu sein. Welche Anforderungen müssen also an den subjektiven Tatbestand des § 370 AO gestellt werden? Insbesondere durch die Parteispendenaffäre in den 80er Jahren3 und aktuell durch die Beteiligung an Umsatzsteuerkarussellen4 ist diese Frage wieder zum Gegenstand von gesteigertem Interesse in Praxis und Wissenschaft geworden.
Diese Arbeit beschäftigt sich deswegen mit der Frage, welche Anforderungen an den Vorsatz im Rahmen der Steuerhinterziehung zu stellen sind. Hierfür soll insbesondere geklärt werden, in welchen Fällen Irrtümer relevant werden und was von der Beweiserhebung im steuerstrafrechtlichen Verfahren zu fordern ist.
Diese Arbeit wird insbesondere zeigen, dass die Steueranspruchslehre, wenn auch auf dogmatisch fragwürdige Weise, zum richtigen Ergebnis führt. Die zumindest laienhaft
wertende Kenntnis um den Steueranspruch ist zwingende Voraussetzung für die Strafbarkeit aus vorsätzlicher Begehung des § 370 AO, ein diesbezüglicher Irrtum muss vorsatzausschließend wirken. Dieses Ergebnis kann auch dogmatisch schlüssig durch eine Abkehr von der pauschalen Einordnung der Steuerhinterziehung als Blankettstrafgesetz erreicht werden.
B. Begriffsbestimmung und Problemdarstellung
§ 15 Alt. 1 StGB, der über § 369 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AO auch auf die Steuerhinterziehung anwendbar ist, statuiert die Regel, dass Strafbarkeit nur im Falle vorsätzlichen Handelns gegeben sein kann, solange nicht die fahrlässige Begehung im Gesetz ausdrücklich mit Strafe bedroht ist. § 370 AO kennt keine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit. Bestraft wird nur vorsätzliches Handeln. Verbreitet wird Vorsatz als „das Wissen und Wollen um die Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes“ definiert. 5 Diese Definition wird dieser Arbeit zugrunde gelegt. Mindestens wird im Rahmen des so genannten dolus
* Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.
1 Wolfgang Schäuble, Bundesfinanzminister, http://www.focus.de/politik/deutschland/titel-tricksen-sie-bei-der-steuer_aid_683697.html, zuletzt aufgerufen am 13.08.2012.
2 Siehe zur ansteigenden Tendenz bei der Steuerhinterziehung: Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 6.
3 BGH, NJW 1987, 1273 (1279).
4 BGH, wistra 2011, 465 (467); vgl. darstellend Bilsdorfer, NJW 2012, 1413 (1415); Jäger, NStZ 2007, 688 (689).
5 Siehe: BGH, NStZ 1988, 175 (175); Jäger, in: Klein, AO, § 370 Rn. 170; Joecks, in: MüKo StGB, § 16 Rn. 12 f.
eventualis gefordert, dass der Handelnde „die Tatbestandsverwirklichung für möglich hält und sich mit ihr abfindet“.6 Dieser bedingte Vorsatz genügt nun bei allen Straftatbeständen, die „nicht Absicht im Sinne zielgerichteten Handelns oder ein Verhalten wider besseren Wissens“7 verlangen.8 Folglich genügt er auch bei der Steuerhinterziehung.9
I. Die verschiedenen Irrtümer
Im Rahmen der für den Vorsatz relevanten Vorstellungen kennt das Gesetz zwei verschiedene Arten von Irrtümern; zu unterscheiden ist zwischen dem so genannten Tatumstandsirrtum in § 16 StGB und dem Verbotsirrtum in § 17 StGB.
Ein Tatumstandsirrtum ist gegeben, wenn der Handelnde über Umstände des gesetzlichen Tatbestandes irrt. Er darf dafür nicht einmal die Möglichkeit der Verwirklichung des Merkmals in seine Vorstellungen aufgenommen haben.10 In einem solchen Fall entfällt der Vorsatz gemäß § 16 StGB, es ist höchstens eine Bestrafung wegen fahrlässiger Begehung möglich.
Dagegen irrt der Handelnde beim Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB darüber, dass sein Handeln verboten ist. Er weiß, was er tut, unterliegt aber einem Subsumtionsirrtum. Er irrt nur über die Definition eines Tatbestandmerkmals, nicht über die Umstände der Tat. Ein Verbotsirrtum schließt den Vorsatz nicht aus.11 War er allerdings für den Handelnden unvermeidbar, so entfällt gemäß § 17 StGB die Schuld.
II. Vorsatz- und Irrtumsproblematik bei der Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO
1. Tatbestandsmerkmale
Gemäß § 17 StGB, der ebenfalls im Steuerstrafrecht Anwendung findet, müssen Gegenstand des Vorsatzes nur die Merkmale des objektiven Tatbestands sein. Nun sind aber mehrere Arten von Tatbestandsmerkmalen vorstellbar, bei denen eine Gleichbehandlung fehlgeht. Ist beispielsweise leicht zu erkennen, ob man gerade einen Menschen getötet hat, so kann die Beurteilung, ob eine Sache fremd ist, bisweilen kompliziert sein. Deswegen soll nicht bei jedem Tatbestandsmerkmal die bloße Kenntnis der tatsächlichen Umstände genügen. Vielmehr ist zwischen verschiedenen Merkmalsarten zu differenzieren. Überwiegend wird eine Unterscheidung zwischen deskriptiven, normativen12 und besonderen Tatbestandsmerkmalen, wie beispielsweise Blankett-merkmalen, vorgenommen.13
Im Rahmen der Steuerhinterziehung relevant sind vor allem die normativen Tatbestandsmerkmale, die „überhaupt nur unter logischer Voraussetzung einer Norm vorgestellt oder gedacht werden können und eine ‚hinzutretende’ Wertung beinhalten, sei sie rechtlicher Art, sei sie vorrechtlicher Art“.14 Sie können – vereinfacht dargestellt – nur durch eine Bewertung festgestellt werden, sie sind nicht sinnlich wahrnehmbar. Als Beispiel wird regelmäßig das Merkmal „fremd“ des § 242 StGB genannt.15
Davon abzugrenzen sind die Blankettmerkmale. Dabei handelt es sich um Merkmale, die „lediglich auf die Tatbestände anderer Gesetze verweisen“.16 Besonders problematisch macht diese Abgrenzung die Struktur des § 370 AO. Dieser enthält mehrere Rechtsverweisungen als Tatbestandsmerkmale, was nahezu einzigartige Abgrenzungsschwierigkeiten begründet.
2. Die doppelte Abgrenzungsproblematik bei der Steuerhinterziehung
Im Rahmen dieser schwierigen Abgrenzung wird die Steuerhinterziehung von der noch herrschenden Ansicht als „Blanketttatbestand“ qualifiziert.17 Gleichzeitig vertreten viele der Verfechter dieser Einordnung auch die „Steueranspruchstheorie“, nach der eine vorsätzliche Steuerhinterziehung immer die Kenntnis des Steueranspruchs voraussetzen soll.18 Im Hinblick auf die Anforderungen an den Vorsatz bei Blankettmerkmalen erscheint dies problematisch. Bedarf es doch bei diesen, anders als bei normativen Merkmalen, nach herrschender Auffassung gerade keinerlei Wertung, sondern nur der Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die den Tatbestand erfüllen.19 Auch wurde diese Theorie in einem aktuellen Urteil vom BGH andeutungsweise in Frage gestellt.20
C. Der Vorsatz bei der Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO
I. Die Steueranspruchslehre
Nach der herrschenden Meinung muss der Handelnde, wenn es sich bei den Merkmalen des § 370 AO um normative Tatbestandsmerkmale handelt, eine Parallelwertung in der Laiensphäre vornehmen.21 Er müsste zwar beispielsweise nicht wissen, aus welchem rechtlichen Grund sich eine „steuerlich erhebliche Tatsache“ ergibt, jedoch müsste er zumindest in seiner laienhaften Wertung der vorliegenden Umstände zu einer solchen Annahme kommen. Handelte es sich allerdings um einen Blankettverweis, so müsste der Handelnde nur um die Umstände wissen, die eine Tatsache nach einer entsprechenden steuerrechtlichen Norm erheblich machen. Vorsätzlich würde also handeln, wer entsprechend folgendem Fall vorginge:
„A ist als selbstständiger Rechtsanwalt tätig. Er hält im Betriebsvermögen seiner Kanzlei einen PKW, den er zu mehr als 50% beruflich nutzt. Die Privatnutzung wird in seinen Steuererklärungen ordnungsgemäß über die sog. „1%-Regelung“ erfasst. Im Rahmen der Privatnutzung fährt auch seine Ehefrau, die als Lehrerin tätig ist, hin und wieder mit dem PKW, beispielsweise zum Einkaufen. Gelegentlich, unge-
6 Siehe: BGH, NStZ 2012, 384 (385); vgl. BGH, NStZ 2002, 314 (314); Kühl, in: Lackner/Kühl, § 15 Rn. 24.
7 Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, § 15 Rn. 88.
8 Kühl (Fn. 6) § 15 Rn. 28; Sternberg-Lieben (Fn. 7) § 15 Rn. 88.
9 Statt vieler siehe: Gaede, JA 2008, 88 (91).
10 Roxin, StR AT I, § 12 Rn. 95.
11 Roxin (Fn. 10) § 12 Rn. 101.
12 Vgl. statt vieler: Fischer, § 16 Rn. 4; Kühl (Fn. 6) § 15 Rn. 5.
13 Vgl. Höll, Steuerhinterziehung, S. 47; zu den Merkmalsarten siehe auch: Höll (Fn. 13) S. 11 ff.
14 Siehe: Vogel, in: LK StGB, § 16 Rn. 25.
15 Roxin (Fn. 10) § 12 Rn. 100.
16 Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Vorbemerkungen zu §§ 13 ff. Rn. 26.
17 Siehe: BVerfG, wistra 1991, 175 (175); BGH, wistra 1991, 29 (29); Bilsdorfer, NJW 2012, 1413 (1414).
18 Siehe: BGH, wistra 1989, 263 (263); Ransiek, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rn. 619.
19 Vgl. statt vieler BGH, NStZ 1993, 594 (595); Joecks (Fn. 5) § 16 Rn. 74.
20 BGH, wistra 2011, 465 (467); der BGH nahm in seinen Ausführungen Bezug auf die Darstellungen von Allgayer, in: Graf/Jäger/Wittig, § 369 AO Rn. 27 f.
21 Siehe: BGHSt 24, 38 (38); BGH, NJW 1953, 113 (113); Roxin (Fn. 10) § 12 Rn. 101.
fähr drei Tage im Monat, benutzt sie das Auto auch, um zur Schule zu fahren.“22
Nun ordnet die herrschende Meinung den Tatbestand der Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO seit 195323 allgemein als Blankettstrafgesetz ein. Demzufolge müsste sie die Tatbestandsmerkmale der „Steuerverkürzung“, der „steuerlich erheblichen Tatsachen“ und der „Pflichtwidrigkeit“ nach obigen Grundsätzen bewerten. Sie dürfte also für die Annahme von Vorsatz keinerlei Kenntnis der Existenz einer die Steuerpflicht begründenden Vorschrift oder der Steuerpflicht selbst fordern, sondern lediglich voraussetzen, dass der Handelnde das Vorliegen von Umständen, die den Tatbestand der Ausfüllungsnorm erfüllen, für möglich gehalten hat. Wie an dem soeben verwendeten Beispiel zu erkennen ist, wäre eine solch geringe Strafbarkeitsschwelle aber vor allem im Steuerrecht nicht nur rechtspolitisch höchst bedenklich.
Deswegen galt seit der Regelung der Steuerhinterziehung, wenn auch zunächst nur in den Ländergesetzen, die Unkenntnis über den Steueranspruch als tatbestandsausschließend.24 Dieser Ansicht weiterhin konsequent folgend übernahm die herrschende Meinung die auf Welzel25 zurückgehende „Steueranspruchslehre“ oder „Steueranspruchstheorie“, die sie bis heute anwendet.26 Als Gegenstand der Steuerverkürzungshandlung wird nicht die Steuereinnahme des Staates, sondern dessen Steueranspruch gesehen. Auch auf diesen muss sich daher der Vorsatz erstrecken. Denn eine Verkürzung der Einnahme des „Fiskus“ könne allenfalls in Form der Unterschlagung durch den Kassenbeamten des Finanzamts geschehen, der Steuerpflichtige hingegen könne nur den entsprechenden Steueranspruch verkürzen. Dieser stellt somit das Tatobjekt der Steuerhinterziehung und damit als Tatumstand des gesetzlichen Tatbestandes einen Bezugspunkt für den Vorsatz dar.27 Der Handelnde muss also mittels einer Parallelwertung in der Laiensphäre den Steueranspruch erkennen.28 Irrtümer über den Steueranspruch wirken sich demnach gemäß § 16 StGB vorsatzausschließend aus. Dafür wird nicht zwischen einem Irrtum über die tatsächlichen Umstände und einem Irrtum über Inhalt und Reichweite der steuerlichen Normen differenziert.29
Für obigen Fall würde dies bedeuten, dass A nicht vorsätzlich gehandelt hätte. Er kannte den entsprechenden Steueranspruch, der sich daraus ergab, dass seine Frau den Dienstwagen privat nutzte, gerade nicht. Dieses Ergebnis erscheint zunächst zutreffend und insbesondere der Unübersichtlichkeit des deutschen Steuerrechts geschuldet. Strafrechtsdogmatisch allerdings ist diese rechtliche Konstruktion in höchstem Maße fragwürdig. Schon systematisch erscheint es schwer verständlich, in § 370 AO ein Blankettstrafgesetz zu sehen und gleichzeitig dessen Merkmale ähnlich denen eines Tatbestandes mit normativen Merkmalen zu behandeln.30 Deswegen soll, bevor die Steueranspruchslehre beurteilt wird, herausgestellt werden, welcher Deliktscharakter der Steuerhinterziehung innewohnt.
II. Tatbestandsqualität / Deliktscharakter
1. Blankettstrafgesetz
Wie bereits aufgezeigt, sieht die herrschende Meinung in § 370 AO ein Blankettstrafgesetz. Leider lässt sich äußerst selten eine Begründung für diese Einordnung finden.31 In einer Entscheidung zur Problematik um den Vorgängerparagraphen der heutigen Steuerhinterziehung, § 396 RAbgO, hat der BGH jedoch Stellung bezogen:
„§ 396 AbgO ist ein Blankett-Gesetz […] zu dessen Anwendung es der Ausfüllung durch steuergesetzliche Tatbestände bedarf.“32
Auch das Bundesverfassungsgericht sieht in § 370 AO ein Blankettgesetz. So wurde zunächst ebenfalls zu obiger Vorgängervorschrift entschieden:
„Die Strafbestimmung […] setzt eine Steuerschuld voraus. Ob eine solche Steuerschuld vorliegt, bestimmt sich nach den Vorschriften des materiellen Steuerrechts, auf die […] zur Ergänzung des Straftatbestandes verweist; insoweit handelt es sich um ein Blankettstrafgesetz.“33
Diese Rechtsprechung wurde auch für § 370 AO fortgeführt.34
Für die Annahme einer Blankettnorm wird also ins Feld geführt, dass die Ergänzung der Merkmale der Steuerhinterziehung durch steuerrechtliche Vorschriften notwendig sei, um das Gesetz anwenden zu können.35 Der tatbestandliche Erfolg, also die Steuerverkürzung oder die Erlangung nicht gerechtfertigter steuerlicher Vorteile, sei ohne die Hinzuziehung der steuerrechtlichen Vorschriften nicht bestimmbar. Deren Sinn ergebe sich erst unter Zuhilfenahme bestimmter Steuerpflichten.36 Diese Überlegungen entsprechen weitestgehend den Ausführungen von Warda, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen.
Warda beschäftigte sich bereits 1955 mit der Problematik um die Abgrenzung der Blankettstrafgesetze von Tatbeständen mit normativen Merkmalen. Er stellt seinen Ausführungen voran, dass ein den Blanketttatbestand ausfüllendes Merkmal nur eine Rechtsquelle sein kann. Dieser müsse „die tatbestandliche Umschreibung des unter Strafe gestellten Verhaltens überlassen sein“.37 Dieses Kriterium sieht Warda als erfüllt an, wenn die Ausfüllungsnorm die Ge- oder Verbote der Blankettvorschrift aufstellt oder ausgestaltet. Der Tatbestand müsse stets ergänzt werden. Dies sei beispielsweise bei Tatbeständen wie § 242 StGB und dem generellen Merkmal des „rechtswidrigen Handelns“ nicht der Fall. Dagegen wird diese Voraussetzung eines Blanketttatbestandes für den Vorgänger des § 370 AO, § 396 RAO, bejaht. Er verweise zwar nicht
22 Fall nach Wulf, StbG 2012, 19 (22). Da mit der Versteuerung der Privatnutzung nach der 1%-Regelung nur die Nutzungsentnahme des Steuerpflichtigen selbst abgedeckt ist, wäre die Nutzung durch die Frau des A eine steuerlich erhebliche Tatsache im Sinne des § 370 AO.
23 BGHSt 5, 90 (91), zu diesem Zeitpunkt noch bezogen auf § 395 RAbgO.
24 RGSt 11, 426 (435 f.); RGSt 19, 302 (307); RGSt 22, 427 (428).
25 Welzel, NJW 1953, 486 (486 f.).
26 Siehe oben, Fn. 18.
27 Vgl. darstellend Meyer, NStZ 1986, 443 (443); Müller, Vorsatz und Erklärungspflicht, S. 109 ff.
28 BFH, DStR 1997, 154 (156); Jäger (Fn. 5) § 370 Rn. 172.
29 Darstellend: Meyberg, PStR 2011, 308 (309).
30 Vgl. Bachmann, Vorsatz und Rechtsirrtum, S. 160 f.; Meyer (Fn. 27) 443 (444).
31 Höll (Fn. 13) S. 9.
32 BGHSt 20, 217 (218).
33 BVerfGE 37, 201 (208 ff.).
34 BVerfG, NJW 1992, 35 (35).
35 Müller (Fn. 27) S. 27.
36 Siehe: Thomas, NStZ 1987, 260 (261).
37 Warda, Blankettstrafgesetze, S. 6.
wörtlich auf die einzelnen Steuergesetze, setze aber konkludent eine Verweisung voraus.38 Eine solche allgemeine Verweisung genüge, da im Einzelfall die Ergänzung durch eine konkrete Norm erfolgen würde.39
Diese Abgrenzung behält ihre Bedeutung bei und wird immer noch von einigen herangezogen.40
2. Tatbestand mit normativen Merkmalen / Mischtatbestand
Allerdings regt sich stärker werdender Widerspruch gegen die Klassifikation der herrschenden Meinung.41 Hierfür beziehen sich die Autoren auf verschiedene Abgrenzungskriterien, die im Folgenden dargestellt werden sollen.
a) Abgrenzung nach Beschreibung von Rechtsgut- oder Pflichtverletzung
Backes stellt darauf ab, ob die Verweisung für das jeweilige Gebot bzw. Verbot konstitutiv ist.42 Bei normativen Merkmalen soll nicht das Strafgesetz konstituiert, sondern dessen Inhalt beschrieben werden. Dagegen konstituierten Blankettmerkmale das Strafgesetz, weshalb sie auch in dieses hineinzulesen seien. Zur Konkretisierung des Kriteriums „konstitutiv“ sollen unter Bezug auf Warda nur materielle Kriterien die Abgrenzung bewirken können.43 Bedingt dadurch, dass sich die Natur des Irrtums danach richte, welchen Charakter das jeweilige Merkmal habe, könne diese Form nur nach den Kriterien bestimmt werden, nach denen sich die Natur des Irrtums richtet.44 Da nun der Tatbestand der Bezugspunkt für den Vorsatz sei, müsse er einen solchen auch für die Abgrenzung darstellen. Dieser beschreibt nach Backes Rechtsguts- und Pflichtverletzungen. Die Abgrenzung soll daher anhand der Frage vorgenommen werden, ob die Ausfüllungsnormen zur Ausfüllung der Verletzungen erforderlich sind. Umstände, die erforderlich sind, um diese Verletzungen auszufüllen, zählten zu den Tatbestandsmerkmalen und seien somit normativ. Blankettmerkmale lägen dagegen vor, wenn die Ausfüllungsnorm nicht zur Verletzungsbeschreibung erforderlich sei und damit zur Strafnorm selbst gehöre.45
b) Abgrenzung nach der Schutzrichtung
Dieser Ansatz geht von der Technik des Zusammenlesens bei Blankettmerkmalen46 aus und kommt so zu der Aussage, durch das Zusammenlesen von Verweisungs- und Ausfüllungsnorm könne nur dann ein einheitlicher Tatbestand sinnvoll entstehen, wenn sich die jeweiligen Regelungszwecke entsprechen.47 Daraus wird gefolgert, dass das Strafgesetz das Gebot oder Verbot, das in der Ausfüllungsnorm enthalten ist, durchsetzen, also die gleiche Schutzrichtung aufweisen muss.48 Anhand dieser „Korrespondenzprüfung“ sei also die Abgrenzung zwischen normativen Tatbestandsmerkmalen und Blankettmerkmalen vorzunehmen.49
c) Abgrenzung nach der Bestimmungsnorm
Ähnlich wie Backes liegt dieser Ansicht die Absicht zugrunde, ein von der verfassungsrechtlichen Beurteilung im Rahmen des Art. 103 Abs. 2 GG losgelöstes Abgrenzungskriterium zu schaffen.50 Dafür greift Bachmann auf den Begriff der „Bestimmungsnorm“ zurück.51 Dies soll die Verhaltensregel sein, die der Tatbestand beinhaltet. Die Charakteristik eines Blankettgesetzes soll darin liegen, dass in der Verweisungsnorm keine eigene Verhaltensnorm aufgestellt, sondern auf eine externe Verhaltensnorm verwiesen wird.52 Blankettgesetze sind dieser Abgrenzung nach also alle Strafgesetze, die „nicht selbst die strafbewehrte Verhaltensnorm enthalten“ und somit unvollständig sind. Mit anderen Worten kann die Bestimmungsnorm bei Blankettgesetzen ohne eine Ergänzung der Ausfüllungsnorm nicht formuliert werden.53
Die Tatbestandsqualität wird folglich in einer zweistufigen Prüfung ermittelt. Der erste Schritt ist die Erarbeitung der Bestimmungsnorm des Strafgesetzes. Beispielsweise kann eine solche für den Diebstahl gemäß § 242 StGB lauten: „Du sollst nicht in der Absicht rechtswidriger Zueignung Sachen wegnehmen, die nicht dir allein gehören“.54 Im zweiten Schritt ist zu fragen, aus welcher Regelung sich die Bestimmungsnorm ergibt. Ergibt sie sich aus dem Strafgesetz, wie es beispielsweise bei § 242 StGB der Fall sei, so liegt ein Tatbestand mit normativen Merkmalen vor. Ist aber die Bestimmungsnorm nicht im Strafgesetz enthalten, ist ein Blankettgesetz gegeben.
d) Abgrenzung nach konkreter Nennung der Ausfüllungsnorm
Auch Höll sieht grundsätzlich die Frage, ob die Ausfüllungsnorm konstitutiv für das Handlungsgebot bzw. -verbot des Strafgesetzes ist, als Abgrenzungskriterium. Zu ihrer Lösung wandelt er die conditio-sine-qua-non-Formel wie folgt ab:
„Ein Tatbestand ist dann Blanketttatbestand, wenn die ausfüllende Norm nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass die Beschreibung des vorwerfbaren Verhaltens (teilweise) entfiele.“55
Konstitutiv wäre demnach nur eine solche Norm, bei deren Aufhebung die Ursprungsnorm nicht durch die richterliche Rechtsfortbildung oder Auslegung ausgefüllt werden könnte. Dies könne dann angenommen werden, wenn die Ausfüllungsnorm konkret im Tatbestand der Ursprungsnorm genannt sei, denn nur in solchen Fällen sei eine sonstige Ausfüllung ausgeschlossen. Daraus ergibt sich für Höll also die Formel:
„Ein Blanketttatbestand liegt jedenfalls dann vor, wenn die Bezugsnorm in der Ausfüllungsnorm konkret genannt ist.“56
38 Warda (Fn. 37) S. 47.
39 Warda (Fn. 37) S. 20.
40 Vgl. Joecks (Fn. 2) Einleitung Rn. 5; Thomas (Fn. 36) 260 (261 f.).
41 Siehe: Bachmann (Fn. 30) S. 173; Tiedemann/Otto, ZStW 1995, 597 (643).
42 Backes, Abgrenzung, S. 113.
43 Backes nimmt dafür Bezug auf die Kritik an der formalen Abgrenzung durch Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 388.
44 Backes (Fn. 42) S. 119.
45 Backes (Fn. 42) S. 142 f.
46 Zur Technik des Zusammenlesens erstmals: Warda (Fn. 37) S. 38; darstellend zur Bedeutung: Lauer, Irrtum über Blankettstrafgesetze, S. 64 ff.
47 v.d. Heide, Tatbestands- und Vorsatzprobleme, S. 175.
48 v.d. Heide (Fn. 47) S. 176.
49 v.d. Heide (Fn. 47) S. 198.
50 Vgl. BVerfGE 78, 205 (213); zur Kritik an dieser „gefühlmäßigen Wertung“ Walter, in: FS Tiedemann 2008, 969 (974); die verfassungsrechtliche Abgrenzung darstellend Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 179.
51 Bachmann (Fn. 30) S. 32; unter Bezug auf Puppe, GA 1990, 145 (162).
52 Wulf, wistra 2001, 41 (44).
53 Bachmann (Fn. 30) S. 32; so auch Puppe (Fn. 51) 145 (162 f.); Schmitz/Wulf, in: MüKo StGB, § 370 AO Rn. 326.
54 Bachmann (Fn. 30) S. 33; vgl. Wulf (Fn. 52) 41 (44).
55 Höll (Fn. 13) S. 34.
56 Höll (Fn. 13) S. 33.
3. Stellungnahme
Zunächst ist die Grundthese von Warda zu thematisieren. Diese Abgrenzung, auf die vielfach Bezug genommen wird, kann nicht die erforderliche Unterscheidung leisten. Was genau die „tatbestandliche Umschreibung“ charakterisieren und sie somit von einer sonstigen Umschreibung abgrenzen soll, wird nicht deutlich. Deswegen scheitert die vorgeschlagene Abgrenzung an schwer zu beurteilenden Tatbeständen wie der Steuerhinterziehung. So sei Gegenstand der Steuerverkürzung, „was die Steuer nach den bestehenden Bestimmungen einnehmen soll.“57 Wie nun allerdings die Abgrenzung zwischen der Beschreibung des Tatobjekts, wie bei dem normativen Merkmal „fremd“ des § 242 StGB, und der Beschreibung des verbotenen Verhaltens, wie bei einem Blankettmerkmal, vorgenommen werden soll, wird nicht deutlich.58 Die Abgrenzung nach Warda hilft also vorliegend nicht weiter.
Ähnliches ist über die These von Höll zu sagen, der danach unterscheiden will, ob die Ausfüllungsnorm konkret in der Verweisungsnorm genannt ist. Allein seine Unterscheidung mittels eines „Jedenfalls-Schlusses“ ermöglicht schon keine konkrete Abgrenzung in komplizierten Fällen. So kommt er zu dem Ergebnis, dass die Steuerhinterziehung kein Blanketttatbestand sei, weil die Ausfüllungsnormen nicht konkret genannt werden.59 Würde dieser Abgrenzung gefolgt, so müsste man auch den ganz überwiegend und zutreffend als Blanketttatbestand qualifizierten Bannbruch des § 372 AO als Strafgesetz mit normativen Merkmalen einordnen.60 Auch diese Abgrenzung bietet also keinen weitergehenden Nutzen.
Auch die Thesen Backes geben, obwohl sie zu einem zufriedenstellenden Ergebnis führen,61 keine weitere Klarheit über die vorzunehmende Abgrenzung. Zunächst sieht er die Tatbestandsqualität als grundlegend für die Irrtumsproblematik an. Gleichzeitig will er aber diese Abgrenzung anhand von Irrtumskriterien vornehmen.62 Darin liegt sein erster Zirkelschluss.63 Gewichtiger ist allerdings der zweite. Nach Backes ist für die Frage, ob eine Pflicht aus der Ausfüllungsnorm zum Tatbestand der Verweisungsnorm gehört, relevant, ob diese Pflicht „den Charakter bzw. das Typische des Delikts (mit-)präge.“64 Ob eine solche Prägung vorliegt, kann aber nur ermittelt werden, indem herausgestellt wird, ob die Pflicht in den Tatbestand hineinzulesen ist. Das wiederum ist aber eine Frage des Deliktscharakters, somit liegt ein zweiter Zirkelschluss vor.65
Besser zur Lösung der vorliegenden Frage geeignet sind die sich sehr ähnlichen Abgrenzungen von von der Heide, Bachmann und Wulf.66 Die Unterscheidung zwischen strafrechtlich normierenden und lediglich beschreibenden Ausfüllungsnormen wird dem Charakter der Problematik gerecht. Insbesondere die, schon von Backes vorgenommene, Abkehr von der (eher zur Annahme eines Blankettgesetzes tendierenden) formalen Abgrenzung durch das Bundesverfassungsgericht67 verdient Zustimmung, kann sich doch die Einordnung, die für die materielle Irrtumsdogmatik relevant wird, nicht daran orientieren, auf welche Normen der Bestimmtheitsgrundsatz erstreckt wird. Dieser muss natürlich auch Verweisungen umfassen, die materiellstrafrechtlich als normativ einzuordnen sind, wenn diese dem Blankettmerkmal nahekommen. Es kommt also darauf an, ob die Bestimmungsnorm des Ursprungstatbestandes nur durch die Heranziehung einer externen Verhaltensnorm formuliert werden kann. In einem solchen Fall liegt ein Blankett vor. Vorsichtig zu behandeln ist lediglich das von von der Heide geschaffene Kriterium der identischen Schutzrichtung. Beispielsweise haben die §§ 242 ff. StGB und die zivilrechtlichen Normen, die zur Ausfüllung der normativen Merkmale herangezogen werden, gleiche Schutzrichtungen; sie schützen das zivilrechtliche Eigentum. Dabei handelt es sich aber um Tatbestände mit normativen Merkmalen, nicht um Blankette.68 Deswegen kann dieses Kriterium nur auf der ersten Stufe als Ausschluss dienen. Es ist also nicht nur eine zweistufige, sondern eine dreistufige Prüfung vorzunehmen.
Zunächst sind anhand der übereinstimmenden Schutzrichtung die beschreibenden Verweisungsnormen auszuscheiden. Jedenfalls soll kein Blanketttatbestand vorliegen, wenn die Schutzrichtungen von Verweisungsnorm und Ausfüllungsnorm nicht übereinstimmen. Ist die Identität der Schutzrichtungen gegeben, ist auf der zweiten Stufe die Bestimmungsnorm der Verweisungsvorschrift zu ermitteln. Auf der dritten Stufe ist dann zu klären, ob diese Bestimmungsnorm ohne die ausfüllende Norm formuliert werden kann. Ist dies der Fall, liegt ein normatives Tatbestandsmerkmal vor und umgekehrt.
Eine solche Prüfung ist nicht wie offensichtlich von all jenen, die pauschal von § 370 AO als Blankettgesetz sprechen, anhand des gesamten Gesetzes, sondern an den einzelnen Merkmalen durchzuführen. Ein Tatbestand wird nicht dadurch zum Blankettstrafgesetz, dass er ein Blankettmerkmal enthält. Ein Gesetz mit verschiedenen Alternativen wie die Steuerhinterziehung kann auch verschiedene Merkmale enthalten.69
a) § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO
Wendet man dieses Abgrenzungsschema auf § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO an, stellt sich zunächst die Frage der Schutzrichtung. Sowohl die steuerlichen Normen als auch der Straftatbestand schützen das Steueraufkommen des Staates.70
Es muss also eine Bestimmungsnorm formuliert werden. Diese könnte wie folgt lauten:
„Wer bewirkt, dass die nach den Steuergesetzen zu entrichtenden Steuern nicht, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig durchgesetzt werden […].“71
Diese ergibt sich allein aus § 370 AO. Es bedarf lediglich der ergänzenden Beschreibung durch die ausfüllende Norm. So-
57 Warda (Fn. 37) S. 47.
58 Bachmann (Fn. 30) S. 29.
59 Höll (Fn. 13) S. 164.
60 Diese Aussage entstammt einem Gespräch des Bearbeiters mit Dr. Martin Wulf, Partner der Kanzlei Streck Mack Schwedhelm; vgl. zur Einordnung des Bannbruchs statt vieler: Jäger, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 372 Rn. 3.
61 Vgl. Backes (Fn. 42) S. 173.
62 Backes (Fn. 42) S. 118 f.
63 Bachmann (Fn. 30) S. 30.
64 Backes (Fn. 42) S. 159.
65 Bachmann (Fn. 30) S. 30 f.; v.d. Heide, (Fn. 47) S. 177.
66 Vgl. Weidemann, wistra 2006, 132 (133), der die Abgrenzung durch von der Heide als „stimmig“ bezeichnet.
67 Vgl. Walter (Fn. 50) 969 (974).
68 Tiedemann/Otto (Fn. 41) 597 (642); vgl. zur Kritik am Kriterium der Schutzrichtung Bachmann (Fn. 30) S. 32.
69 Vgl. im Ergebnis zustimmend Backes (Fn. 42) S. 173; Schmitz/Wulf (Fn. 53) § 370 AO Rn. 14 ff.
70 Siehe: Jäger (Fn. 5) § 370 Rn. 2; a.A. Isensee, NJW 1985, 1007 (1008).
71 Bachmann (Fn. 30) S. 171.
24
mit ist die Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO materiell72 ein Tatbestand mit normativen Merkmalen.73
b) § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO
Auch bei der Unterlassungsvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO stimmen die Schutzrichtungen von Verweisungs- und Ausfüllungsnorm überein. Die Bestimmungsnorm ist wie folgt zu formulieren:
„Du sollst [die Finanzbehörden] nicht pflichtwidrig in Unkenntnis lassen und dadurch Steuern verkürzen.“74
Hier ist diese Bestimmungsnorm ohne eine Ausfüllung des Terms „pflichtwidrig“, beispielsweise durch die Berichtigungspflicht des § 153 AO, nicht vollständig. Eine reine Beschreibung genügt nicht, um eine vollständige Bestimmungsnorm zu generieren. Damit ist die Pflichtwidrigkeit ein Blankettmerkmal und § 370 AO nur insoweit ein materieller Blanketttatbestand.75
4. Zusammenfassung Tatbestandsqualität / Delikts-charakter
Festhaltend ist davon auszugehen, dass die verschiedenen Varianten des § 370 AO bezüglich ihrer Tatbestandsqualität unterschiedlich zu beurteilen sind. Bei den Merkmalen des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO handelt es sich um normative Merkmale, während § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO eine Blankettverweisung in dem Merkmal „pflichtwidrig“ enthält. § 370 AO ist damit ein Mischtatbestand.
III. Folgen der Einordnung des § 370 AO als Mischtatbestand
Mit dieser Einordnung ist die Frage, die diese Arbeit beantworten soll, noch nicht gelöst. Es bleibt zu klären, welche Folgen sich für die Anforderungen an den Vorsatz und die Auswirkungen von Irrtümern ergeben. Nach einer Ansicht kann nämlich die Einordnung einer Norm entweder als Tatbestand mit normativen Merkmalen oder als Blankettstrafgesetz keinen Einfluss auf die Behandlung von Irrtümern haben.76 Der Begriff des Blanketttatbestandes an sich sei dafür schon nicht bestimmt genug. Vorliegend wurde aber anhand der Vielzahl von mehr oder minder aktuellen Ansätzen eine solche Bestimmung vorgenommen. Auch wurde dargelegt, dass.– während normative Tatbestandsmerkmale den Inhalt des Strafgesetzes lediglich beschreiben – Blankettverweise eine konstituierende Funktion einnehmen.77 Daraus folgt eine differenzierende Behandlung von Vorsatz und Irrtümern bei diesen beiden Merkmalsarten. Wie oben aufgezeigt ist die Charakterisierung eines Merkmals somit nicht nur in der Vorsatzproblematik relevant, sondern für deren Beurteilung geradezu grundlegend.78
Folglich ist aus obiger Einordnung des für alle Varianten des § 370 AO geltenden Merkmals „Steuerverkürzung“ als normativem Tatbestandsmerkmal zu folgern, dass vorsätzlich bezüglich dieses Merkmals nur handeln kann, wer das Merkmal anhand einer Parallelwertung in der Laiensphäre richtig wahrnimmt. Hierbei ist die Steuerverkürzung nur als Differenz zum gesetzlichen Steueranspruch bestimmbar.79 Jedenfalls ist also eine zumindest laienhafte Kenntnis des Steueranspruchs, der verkürzt wird, vorauszusetzen.80 Irrt der Handelnde diesbezüglich, so handelt es sich um einen den Vorsatz ausschließenden Tatumstandsirrtum gemäß § 16 StGB.81
Wenn kritisiert wird, die Parallelwertung in der Laiensphäre sei bei der Steuerhinterziehung nicht durchzuführen, da die Tatbestandskenntnis die Verbotskenntnis mit einschließe und somit das Unrecht zum Objekt der Parallelwertung werde, wird ein entscheidender Punkt verkannt.82 Diese Wirkung wohnt dem Merkmal der Steuerverkürzung selbst inne, nicht der Parallelwertung in der Laiensphäre. Wollte man diese beheben, müsste man die Steuerverkürzung zur bloßen objektiven Strafbarkeitsbedingung erklären, was nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen würde.83
Auch das Kompensationsverbot des § 370 Abs. 4 S. 3 AO steht der Anforderung der Kenntnis um den Steueranspruch nicht entgegen.84 Grundsätzlich wird argumentiert, das Kompensationsverbot führe dazu, dass objektiv eine Steuerverkürzung eintrete, ohne dass ein Steueranspruch bestehe. Abgestellt wird auf den Fall, in dem der Steuerpflichtige um die entsprechenden ermäßigenden Ansprüche weiß, sie aber nicht geltend macht, sondern in seine Steuererklärung „einrechnet“. Allerdings habe der Gesetzgeber die Nachreichung von Gründen in strafrechtlicher Hinsicht uneingeschränkt ausschließen wollen.85 Damit soll verhindert werden, dass der Steuerpflichtige bei Abgabe seiner Steuererklärung zunächst risikofrei (denn er könnte ja Gründe nachreichen) darauf hofft, das Finanzamt bliebe über die Verkürzung in Unkenntnis, um dann später die entsprechenden mindernden Gründe erneut zu seinem Vorteil geltend zu machen. Dieses Ziel kann aber auch trotz obiger Vorsatzanforderung erreicht werden, indem das Kompensationsverbot objektiv behandelt wird.86 Es ist danach abzugrenzen, ob ein wirtschaftlicher Zusammenhang zwischen den in der Steuererklärung angegebenen Gründen und den anderen, grundsätzlich zur Minderung fähigen aber nicht geltend gemachten Gründen besteht. Ist dies der Fall, so ist der Vorsatz auszuschließen, denn die Annahme, der Steuerpflichtige habe sich vorbehalten, die steuermindernden Gründe nachzureichen, ist wegen des Entdeckungsrisikos unrealistisch.87 Anders verhielte es sich bei nicht zusammenhängenden Gründen, denn dort kann eine
72 Die formelle Blanketteigenschaft, die § 370 AO in BVerfG, DStRE 2012, 379 (381) zugesprochen wird, wird hier nicht thematisiert, da sie für die Vorsatz- und Irrtumsproblematik nach der hier vertretenen Trennung zwischen formeller und materieller Blanketteigenschaft nicht relevant ist.
73 Siehe: Joecks, steueranwaltsmagazin 2012, 26 (27); Ransiek, PStR 2011, 74 (75).
74 Bachmann (Fn. 30) S. 194.
75 Siehe: Bachmann (Fn. 30) S. 194; Samson, in: Kohlmann, Strafverfolgung, S. 99 (109 f.);); a.A. vgl. Höll (Fn. 13) S. 124 f.
76 Müller (Fn. 27) S. 134 f.; vgl. Höll (Fn. 13) S. 106.
77 Backes (Fn. 42) S. 171 f.
78 Siehe: Backes (Fn. 42) S. 171 f.
79 Reiß, wistra 1987, 161 (163).
80 Vgl. Bachmann (Fn. 30) S. 174 f.; Samson (Fn. 75) S. 99 (105 f.); a.A. Meyer (Fn. 27) 443 (444).
81 Siehe: Bachmann (Fn. 30) S. 181; a.A. Maiwald, Unrechtskenntnis, S. 21 f.
82 Maiwald (Fn. 81) S. 21 f.; Müller (Fn. 27) S. 139; vgl. darstellend Reiß (Fn. 79) 161 (163).
83 Vgl. Reiß (Fn. 79) 161 (163).
84 Siehe zur Kritik an der Steueranspruchstheorie anhand des Kompensationsverbots: Meyer, (Fn. 27), 443 (446); Meyer, NStZ 1987, 500 (501).
85 Meyer (Fn. 84) 500 (501).
86 Entgegen BGH, NStZ 1991, 89 (89); von BGH, NZWiSt 2012, 229 (233) offen gelassen („für die Frage des Hinterziehungsvorsatzes von Bedeutung sein kann“).
87 Bachmann (Fn. 30) S. 178.
solche nachträgliche schadensgleiche Gefährdung des Steueraufkommens entstehen. In solchen Fällen soll dann das Kompensationsverbot auch im subjektiven Tatbestand Wirkung entfalten und den Vorsatzausschluss verhindern.88
Es bleibt die Kritik Allgayers89, auf die sich auch der BGH bezieht.90 Dieser bemängelt, das Steuerrecht rechtfertige nicht die Gleichbehandlung des Irrtums über tatsächliche Voraussetzungen (Besteuerungsgrundlagen) und über steuerrechtliche Zusammenhänge (Besteuerungstatbestand).91 Nimmt man die Annahme, das Steuerrecht rechtfertige keine Abweichung von den allgemeinen Grundsätzen, als gegeben hin, kann Allgayers Kritik nur dann Sinn ergeben, wenn § 370 AO als materielles Blankettgesetz eingeordnet wird. Denn wenn es sich bei der Steuerverkürzung um ein normatives Merkmal handelt, muss der Steuerpflichtige dessen Bedeutung im Kern erfassen. Ob diese Wertung an den tatsächlichen Voraussetzungen oder den rechtlichen Zusammenhängen scheitert, ist bei normativen Tatbestandsmerkmalen gerade nicht relevant. Nun wurde aber bereits dargestellt, dass es sich bei § 370 AO um einen Mischtatbestand und bei der Steuerverkürzung um ein normatives Tatbestandsmerkmal handelt. Allgayers Kritik kann insofern also nicht überzeugen.92
Es zeigt sich, dass die Steueranspruchslehre das richtige Ergebnis liefert. Sie ist allerdings nicht notwendig. Wird der hier vorgeschlagenen Einordnung der Steuerhinterziehung als materiellem Mischtatbestand gefolgt, anstatt weiterhin pauschal von einem Blankettstrafgesetz auszugehen, so ergibt sich, dass der Handelnde, jedenfalls laienhaft wertend, den Steueranspruch wahrnehmen muss, um vorsätzlich zu handeln. Das Merkmal „Steuerverkürzung“ als normatives Tatbestandsmerkmal setzt eine solche Wahrnehmung voraus.
Im Ergebnis ist also, mit der herrschenden Steueranspruchslehre, allerdings mittels unterschiedlicher Begründung, für den Vorsatz bei § 370 AO zu fordern, dass der Handelnde den Steueranspruch laienhaft wertend wahrnimmt. Dieses Ergebnis ist besonders im Hinblick auf die Praxis notwendig, was anhand der Unübersichtlichkeit und der „ethischen Indifferenz“93 des deutschen Steuerrechts deutlich wird.94 Dabei muss der Steueranspruch nicht nur abstrakt, sondern auch konkret der Höhe nach für möglich gehalten werden.95 Die Kenntnis der inländischen Steuerart ist dagegen keine notwendige Voraussetzung.96 Denn die Steuerart bildet nicht den „Begriffskern“97 des Steueranspruchs.
1. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO
Zum Wissenselement des Vorsatzes bei § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO gehört also nicht nur die Kenntnis um die Tatbestandsmerkmale der „steuerlich erheblichen Tatsachen“ und „unrichtigen oder unvollständigen Angaben“, sondern auch die entsprechend vorgenommene Parallelwertung in der Laiensphäre. Der Handelnde muss nicht nur um die den Tatbestand erfüllenden Umstände wissen, sondern auch deren Bedeutung in seiner laienhaften Wertung richtig wahrnehmen. Er muss wissen, dass durch seine unrichtigen Angaben, die steuerlich erhebliche Umstände betreffen, eine niedrigere Steuerschuld festgesetzt wird, als nach dem Steuergesetz geschuldet. Hierzu bedarf es auch der laienhaften Kenntnis um den Aussagegehalt der entsprechenden Steuergesetze.98 Diesbezügliche Irrtümer wirken sich gemäß § 16 StGB vorsatzausschließend aus.99 2. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO
Dagegen handelt es sich, wie bereits dargestellt, bei dem Merkmal der „Pflichtwidrigkeit“ des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO um ein Blankettmerkmal. Der Handelnde muss also, ähnlich der strafrechtlichen Garantenpflicht, die Umstände kennen, die die steuerrechtliche Pflichtwidrigkeit seines Handelns begründen, nicht aber um die entsprechende Pflicht oder die sie konstituierende Norm wissen.100 Dagegen wird vorgebracht, dass das Bewusstsein dessen, der nicht weiß, dass er handeln muss, auch nicht final auf eine Steuerverkürzung ausgerichtet sein könne.101 Dabei wird aber verkannt, dass durchaus Fälle vorstellbar sind, in denen sich der Steuerpflichtige bewusst ist, dass ein Unterlassen zu einer Steuerverkürzung führt und er diese auch anstrebt, aber trotzdem nicht um die Pflicht zur Erklärung weiß. Ein Tatumstandsirrtum gemäß § 16 StGB ist also nur gegeben, wenn der Irrtum sich auf die pflichtbegründenden Umstände bezieht. In folgendem Fall würde nach der hier vertretenen Ansicht also nur ein Verbotsirrtum vorliegen:
„Der Unternehmer A weiß um die von ihm gemachten Umsätze und irrt sich auch nicht in Bezug auf ihre Höhe. Er geht lediglich, fälschlicherweise, davon aus, dass er keine Voranmeldung vornehmen müsse.“102
Dem Merkmal der „Unkenntnis der Finanzbehörden“ kommt im subjektiven Tatbestand kaum eine eigene Bedeutung zu. Denn wer diese Unkenntnis bezweifelt, hält in der Regel auch die Steuerverkürzung nicht für möglich.103
IV. Zusammenfassung
Zum Vorsatz bei der Steuerhinterziehung gehört generell die Kenntnis der Umstände, die die Steuerverkürzung bewirken, und auch die entsprechende laienhafte Bedeutungskenntnis. Allen Tatbestandsvarianten gleich ist also die Notwendigkeit der Kenntnis des Steueranspruchs. Da § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO ausschließlich normative Tatbestandsmerkmale enthält, ist auch dort die laienhafte Bedeutungskenntnis notwendig. Der Handelnde muss nicht unbedingt die relevanten Normen, doch aber deren Aussagegehalt erkennen. Irrt der Steuerpflichtige darüber, befindet er sich in einem den Vorsatz aus
88 Bachmann (Fn. 30) S. 178.
89 Allgayer (Fn. 20) § 369 AO Rn. 27 f.
90 BGH, wistra 2011, 465 (467).
91 Allgayer (Fn. 20) § 369 AO Rn. 28.
92 So auch Wulf (Fn. 22) 19 (21).
93 Thomas (Fn. 36) 260 (263).
94 Vgl. statt vieler Wulf (Fn. 22) 19 (23).
95 Schmitz/Wulf (Fn. 53) § 370 AO Rn. 337; vgl. Ransiek (Fn. 18) § 370 Rn. 661; die exakte Kenntnis des Steuerschadens ist aber nicht zu fordern.
96 Joecks (Fn. 2) § 370 Rn. 235; Ransiek (Fn. 18) § 370 Rn. 661.
97 Joecks (Fn. 2) § 369 Rn. 52; v. Briel, in: v. Briel/Ehlscheid, § 1 Rn. 343.
98 Schmitz/Wulf (Fn. 53) 370 AO Rn. 327; vgl. Samson (Fn. 75) S. 99 (105 f.); v. Briel (Fn. 97) § 1 Rn. 7.
99 Die generellen Probleme, die sich aus dieser Annahme für den umgekehrten Irrtum bei normativen Merkmalen ergeben, sollen hier aufgrund der Fokussierung auf Fälle des Tatumstandsirrtums unberücksichtigt bleiben. Vgl. dazu Rolletschke, in: Graf/Jäger/Wittig, § 370 AO Rn. 144e f.; Samson (Fn. 75) S. 99 (110 ff.).
100 Siehe: BGH, wistra 1986, 219 (220); Joecks (Fn. 2) § 370 Rn. 236.
101 Thomas (Fn. 36) 260 (264).
102 Fall frei nach Samson (Fn. 75) S. 99 (107).
103 BGH, NStZ 2001, 379 (380) steht dem nicht entgegen. Dort wurde der Freispruch vielmehr mit einem unvermeidbaren rechtlichen Irrtum des Angeklagten begründet. Aus diesem Grund bleibt auch die Frage, ob die Unkenntnis der Finanzbehörden auch ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO sei, unbeachtet; vgl. zum Streitstand Schmitz/Wulf (Fn. 53) § 370 AO Rn. 238 ff.
schließenden Tatumstandsirrtum gemäß § 16 StGB. Dies gilt sogar bei Kenntnis aller tatsächlichen Umstände und bloßer Verkennung der steuerlichen Rechtsfolgen.104 § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO enthält dagegen eine Blankettverweisung in dem Merkmal der Pflichtwidrigkeit, bei der es lediglich auf die Kenntnis der pflichtbegründenden Umstände, nicht aber deren Bedeutung ankommt.
D. Fazit
Die Aussage, „somit wäre alles geklärt“, würde Tiedemann sicher missfallen.105 Dies ist auch nicht der Fall. Als Ergebnis dieser Arbeit ist aber festzuhalten, dass es sich bei § 370 AO nicht um einen reinen Blanketttatbestand handelt, alle Merkmale mit Ausnahme der „Pflichtwidrigkeit“ des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO vielmehr normative Tatbestandsmerkmale sind. Daraus ergibt sich, dass vorsätzlich bezüglich dieser Merkmale nur handeln kann, wer ihre Bedeutung, die sich aus den Steuergesetzen ergibt, erfasst. Ein Tatumstandsirrtum gemäß § 16 StGB ist immer gegeben, wenn sich der Steuerpflichtige in seiner laienhaften Parallelwertung über die tatsächlichen Umstände oder deren Bedeutung irrt. Insofern ist der Steueranspruchslehre zuzustimmen, der Steueranspruch ist notwendiger Gegenstand des Vorsatzes. Damit ist die Problematik allerdings keinesfalls gelöst. Vor allem auf der Beweisebene lassen sich bedenkliche Ansätze erkennen. So werden im Ergebnis die erforderlichen Vorsatzanforderungen oft dadurch abgeschwächt, dass geringe Beweisanforderungen gestellt werden. In diesem Lichte erscheint sogar der Vorschlag Müllers, den Steuerpflichtigen grundsätzlich zur Inanspruchnahme von Steuerberatung zu verpflichten, interessant.106
104 Rolletschke, in: Rolletschke/Kemper, § 370 AO Rn. 144a; Schmitz/Wulf (Fn. 53) § 370 AO Rn. 327; vgl. BGH, wistra 1989, 263 (264).
105 Tiedemann/Otto (Fn. 41) 597 (640).
106 Müller (Fn. 27) S. 412.