Veit Lukosch*
A. Einführung
I. Praktische Bedeutung
Elektronische Medien multiplizieren die Reichweite von Serienbetrug — hilft uns das Recht beim Umgang mit solcher Kriminalität? Heutzutage häufen sich Schlagzeilen wie „Leipziger Internet-Serienbetrüger angeklagt — mehrere Hundert Geschädigte“1.
Bei Serienbetrugstaten handelt es sich um massenhafte, gleichartige und gewerbsmäßig begangene Täuschungshandlungen, die eine sich aus individuellen Kleinschäden zusammensetzende immense Beute erzielen sollen. Die technologische Entwicklung ermöglicht dabei immer raffiniertere Vorgehensweisen. Je massenhafter die Täuschungen aber erfolgen, desto plumper können sie ausfallen. Denn die Investition lohnt sich für den Täter schon, wenn die Quote der Zahlenden marginal ist.2 Deswegen ist bei Serienbetrugstaten oft zweifelhaft, ob die Opfer tatsächlich wegen eines Irrtums oder trotz fehlenden Irrtums, also bei erkannter Sachlage aufgrund sekundärer Motive wie Lästigkeit oder Gleichgültigkeit gezahlt haben. Daran knüpft die Frage an, wie diese Motivlage in Strafprozessen mit einer unüberschaubaren Vielzahl an Geschädigten aufgeklärt werden kann und muss.3
II. Gang der Untersuchung
Die Arbeit untersucht im Rahmen einer dogmatischen Verortung zunächst, welcher Umgang mit dem Irrtumsnachweis grundsätzlich geboten ist, und erläutert anknüpfend den daraus folgenden Konflikt in der strafprozessualen Realität (B.). Dann setzt sie sich mit de lege lata verfügbaren Lösungsansätzen auseinander (C.).
B. Dogmatische Verortung des Untersuchungsgegenstands
Gem. § 263 I StGB macht sich strafbar, wer „in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält“. Aus dieser Formulierung ergibt sich die Erregung beziehungsweise das Aufrechterhalten eines Irrtums als Tatbestandsvoraussetzung. Das bedeutet, dass in Serienbetrugsverfahren zur Feststellung eines solchen Irrtums die Vorstellungen jedes einzelnen Geschädigten relevant sind. Einem Irrtum unterliegt, wer eine positive Fehlvorstellung über Tatsachen hat, bei wem also subjektive Vorstellung und objektive Wirklichkeit auseinanderfallen.4 Bei Zweifeln an der vorgespiegelten Tatsache kommt es auf die Stärke derer an.5 Die bloße Unkenntnis der Wahrheit begründet jedenfalls keinen Irrtum.6
I. Das uneigentliche Organisationsdelikt
§ 263 StGB stellt die betrügerische Schädigung individuellen Vermögens unter Strafe, und nicht etwa als „Organisationsdelikt“ schon das bloße Betreiben einer auf Betrug ausgerichteten Organisation als solches,7 sodass man Serienbetrüger theoretisch einzeln für jede Tat verfolgen müsste. Zur Bündelung der Verfahren werden Serienbetrugstaten in der Rechtsprechung aber als sog. „uneigentliches Organisationsdelikt“ gehandhabt.8 Dabei werden sämtliche Einzeltaten als „natürliche Handlungseinheit“ i.S.d. § 52 StGB zu einer prozessualen Tat i.S.d. § 264 StPO zusammengeführt und in einem Prozess behandelt, wenn sie im Rahmen eines Geschäftsbetriebs unter Schaffung und Ausnutzung von Unternehmensstrukturen gleichsam organisiert begangen wurden.9 Der Tatrichter ist dabei nicht von den nötigen Urteilsfeststellungen zur Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale in sämtlichen Einzelfällen entbunden.10 Für eine Vollendung reicht es zwar schon aus, wenn in einem einzelnen Fall der gesamte Tatbestand des § 263 StGB vorliegt, die tatsächliche Anzahl der Vollendungen wird aber auf Strafzumessungsebene berücksichtigt.11
Um den Rahmen nicht zu sprengen, wird auf eine Auseinandersetzung mit der Figur verzichtet und die Praxis insoweit akzeptiert, da die Frage, auf welcher Stufe der Irrtum bewiesen werden muss, für die Untersuchung nichts ändert.12
II. Prozessrechtlicher Überblick
Für die Frage, inwieweit über die Vorstellungen von Geschädigten Beweis zu erheben ist, spielen Verfahrensprinzipien der StPO, zum Teil daraus folgende Rechte des Angeklagten sowie prozessökonomische Erwägungen eine
* Der Autor ist Student der Bucerius Law School, Hamburg. Der Beitrag ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung seiner Bachelorund Examensseminararbeit, die i.R.d. Schwerpunktbereichs Allgemeines Wirtschaftsstrafrecht bei Prof. Dr. Thomas Rönnau, Prof. Dr. Paul Krell und Prof. Dr. Karsten Gaede entstanden ist.
1 Fiedler, https://www.lvz.de/lokales/leipzig/leipziger-internet-serienbetrueger-angeklagt-er-schlug-ueber-650-mal-zu-XFIBKPDQMJDPVPLGQBY6FL6KLI.html (21.08.2023).
2 Vgl. Arzt, in: FS Tiedemann, 2008, S. 595, 597.
3 Das Phänomen des Massenverfahrens ist kein strafrechtliches Novum: Bereits 1974 widmete sich der 50. Deutsche Juristentag unter anderem der Frage, welcher Umgang mit strafrechtlichen Großverfahren möglich ist. Dazu Grünwald, Gutachten C 50. DJT, 1974.
4 Rönnau, JuS 2014, 504, 505; Fischer, StGB72, 2025, § 263 Rn. 54; Perron, in: Tübinger Kommentar StGB31, 2025, § 263 Rn. 33.
5 Vgl. Fischer (Fn. 4), § 263 Rn. 55; Gaede, in: AnwaltKommentar StGB3, 2020, § 263 Rn. 53.
6 BGHSt 2, 325; 22, 88; Fischer (Fn. 4), § 263 Rn. 57; Gaede, in: AnwK (Fn. 5), § 263 Rn. 53.
7 Ullenboom, NZWiSt 2018, 317 f; vgl. Reichenbach, JURA 2016, 139, 143; Rissing-van-Saan, FS Tiedemann (Fn. 2), 391, 394 f.; Hefendehl, in: MüKoStGB Band 54, 2022, § 263 Rn. 1245. Zu Organisationsdelikten Mansdörfer, Theorie des Wirtschaftsstrafrechts, 2011, Rn. 172, 630 f.
8 Z.B. BGH, NStZ 2013, 422; 2014, 459; 2015, 98; BeckRS 2017, 112307.
9 BGH, NStZ 2010, 103, 104; wistra 2016, 309, 310; vgl. BGHSt 49, 177, 184.
10 BGH, NStZ 2010, 103.
11 Ceffinato, ZStW 2016, 804, 820.
12 Zum uneigentlichen Organisationsdelikt Rissing-van Saan, FS Tiedemann (Fn. 2), 891; Reichenbach, JURA 2016, 139; Kubiciel/ Tiedemann, in: Leipziger Kommentar13, 2025, § 263 Rn. 311; Hefendehl, in: MüKoStGB (Fn. 7), § 263 Rn. 1244 f.
Rolle. Einschlägige werden hier zunächst nur abstrakt umrissen.
1. Legalitätsprinzip und Amtsaufklärungspflicht
Ausgangspunkt jeder strafrechtlichen Verfolgung ist § 152 II StPO, das Legalitätsprinzip. Es begründet die Pflicht der Staatsanwaltschaft, vorbehaltlich anderer gesetzlicher Regelungen wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Aus § 244 II StPO ergibt sich korrespondierend die Pflicht des Gerichts, zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind (Amtsaufklärungspflicht). Ohne bestmögliche Ermittlung der materiellen Wahrheit kann das dem Rechtsstaatprinzip gem. Art. 20 III GG entspringende strafrechtliche Schuldprinzip nicht verwirklicht werden.13 Die Amtsaufklärungspflicht verlangt das Bemühen um den sachnächsten und bestmöglichen Beweis.14
2. Beweiswürdigungsgrundsatz
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gem. § 261 StPO gebietet zur Überzeugung von der Wahrheit eine argumentative Auseinandersetzung des Gerichts mit den entscheidungsrelevanten Umständen15 und korrespondiert so mit der Amtsaufklärungspflicht.16 Eine Überzeugung i.S.d. § 261 StPO erfordert, die persönliche, subjektive Gewissheit des Richters17 darüber, dass die Unschuldsvermutung des Rechtsstaatsprinzips und Art. 6 II EMRK widerlegt ist.18 Der Schuldspruch muss also mindestens auf einer Beweisgrundlage aufbauen, die eine objektiv hohe Wahrscheinlichkeit des tatsächlichen Zutreffens der Beweiswürdigung ergibt.19
3. Unmittelbarkeitsgrundsatz
Daneben sieht der Unmittelbarkeitsgrundsatz gem. §§ 250, 261 StPO vor, dass sich das Gericht der Beweismittel mit der geringsten Mittelbarkeit bedient.20 Es soll sich anhand unmittelbar im Gerichtssaal hervorgebrachter Beweise wie Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen überzeugen,21 um zu verhindern, dass eine Beweisführung bloß das Verlesen bereits im Ermittlungsverfahren erstellter Beweismittel zum Gegenstand hat. So wirkt der Unmittelbarkeitsgrundsatz der Gefahr einer Verurteilung allein aufgrund von Akteninhalten entgegen.22
4. Konfrontationsrecht
Darüber hinaus verlangt das Konfrontationsrecht gem. Art. 6 III lit. d EMRK, dass jeder angeklagten Person das Recht eingeräumt wird, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten. Als Teilrecht des Grundsatzes des fairen Verfahrens gem. Art. 6 I EMRK soll es Chancen- und Waffengleichheit im Prozess sicherstellen und wird im deutschen Strafprozessrecht etwa durch das Fragerecht gem. § 240 II StPO verwirklicht.23
5. Prozessökonomie
Aus prozessökonomischer Sicht sind insbesondere die folgenden Aspekte relevant.
Das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 III GG verlangt die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege,24 namentlich die Effektivität und Effizienz der Strafverfolgung und -rechtspflege.25 Der Topos wird zumeist als Abwägungskriterium gegenüber Verfahrensförmlichkeiten verwendet und dementsprechend teilweise kritisch beurteilt, weil er nur zur Einschränkung von Beschuldigtenrechten führen könne.26 Aufgrund des rechtsstaatlichen Bedarfs, das Strafrecht effizient durchzusetzen, muss dieser zumindest restriktiv beachtet werden.27 Die Rechtsprechung zieht in ihre Abwägungen über die Gestaltung eines Verfahrens daneben regelmäßig wirtschaftliche Überlegungen mit ein.28 Zwar findet sich im Strafverfahrensrecht keine ausdrückliche Vorschrift zur Berücksichtigung wirtschaftlicher Aspekte29 und eine zugunsten des Beschuldigten gebotene Aufklärung aus diesen Gründen zu unterlassen, würde jedenfalls mit dem Legalitätsprinzip konfligieren.30 Gleichrangige Bedenken bestehen hinsichtlich einer Verhältnismäßigkeitsprüfung des finanziellen Aufwands einer Aufklärung gegenüber einer nur geringen wirtschaftlichen Bedeutung einer Sache.31 Doch als Bewertungsaspekt soll die Wirtschaftlichkeit eines Prozesses zumindest zurückhaltend herangezogen werden können.32
Der Beschleunigungsgrundsatz gebietet eine Durchführung des Verfahrens in angemessener Zeit ohne Verzögerungen.33 Er entbehrt einer ausdrücklichen Regelung, ist aber in Art. 5 III 2, 6 I 1 EMRK34 und dem Rechtsstaatsprinzip gem. Art. 20 III GG35 verankert. Eine effiziente Verfahrensführung darf aber nicht auf Kosten der Wahrheitsermittlung gehen.36
13 BVerfGE 57, 250, 275.
14 BVerfG, StV 2013, 574; Schmitt, in: Meyer-Goßner68, 2025, § 244 Rn. 12; Geppert, Unmittelbarkeit, 1979, S. 166; Frank, Massenbetrug, 2017, S. 304; Velten, in: SK-StPO Band 55, 2016, Vor §§ 250 ff. Rn. 9 f.
15 BGH, NStZ 2009, 401; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 946 f.
16 Trüg/Habetha, in: MüKoStPO Band 22, 2024, § 244 Rn. 11; Eisenberg, Beweisrecht10, 2017, Rn. 2; Habetha/Trüg, GA 2009, 406, 408.
17 BGH, NStZ 1983, 277; Lampe, in: FS Pfeiffer, 1988, S. 353, 367 f.; Tiemann, in: Karlsruher Kommentar StPO9, 2023, § 261 Rn. 2.
18 BGH, NStZ 2009, 401, 402; Julius, in: Heidelberger Kommentar StPO7, 2023, § 261 Rn. 2.
19 BVerfGK 1, 145 f.; vgl. BGH, NStZ-RR 1996, 202; Herdegen, in: FS Hanack, 1999, S. 311, 313; Fezer, in: FS Hanack, 1999, S. 331, 340.
20 BGH, NStZ 2004, 50; Kühne (Fn. 15), Rn. 914; vgl. Geppert (Fn. 14), S. 162 f.
21 Vgl. BGHSt 6, 209; Frank (Fn. 14), S. 41; Diemer, in: KK (Fn. 17), § 250 Rn. 1.
22 Eisenberg (Fn. 16), Rn. 2076.
23 Vgl. Gaede, StV 2012, 51, 54 f.; Valerius, in: BeckOKStPO55, 2025, Art. 6 EMRK Rn. 47, 49.
24 BVerfGE 33, 367; 77, 65; Kudlich, in: MüKoStPO Band 12, 2023, Einl. Rn. 87.
25 BVerfGE 139 245; BVerfG, NStZ-RR 2015, 117; BGHSt 53, 128.
26 Frank (Fn. 14), S. 44.
27 Vgl. Landau, NStZ 2007, 121, 123; Hassemer, StV 1982, 275.
28 BGH, NStZ 2013, 422, 423 Rn. 11; BeckRS 2019, 1971 Rn. 45.
29 Kühne (Fn. 15), Rn. 279; Frank (Fn. 14), S. 45.
30 Kühne (Fn. 15), Rn. 284; Krehl, in: KK (Fn. 17), § 244 Rn. 39.
31 Kühne (Fn. 15), Rn. 285.
32 Kühne (Fn. 15), Rn. 285; Frank (Fn. 14), S. 45; Schroeder, NJW 1983, 137, 141; Landau, NStZ 2007, 121.
33 Vgl. BVerfG, NStZ 1984, 128; BGHSt 26, 228, 232; Fischer, in: KK (Fn. 17), Einl. Rn. 30 f.
34 Fischer, in: KK (Fn. 17), Einl. Rn. 29.
35 BVerfGE 63, 45, 49; BVerfG, NStZ 2006, 680, 681.
36 Kühne (Fn. 15), Rn. 268.
III. Konflikt in der strafprozessualen Realität
Die Ausführungen zeigen den Konflikt in der strafprozessualen Realität: Einerseits ist eine umfassende Ermittlung der Vorstellungen jedes einzelnen Geschädigten geboten, andererseits scheint eine umfassende Vernehmung oft unmöglich. Denn die Vernehmung von 660.000 Geschädigten37 zu ihrem Vorstellungsbild ist im Strafprozess regelmäßig ebenso undenkbar wie die von „bloß“ 152.38 Insoweit ergibt sich ein Spannungsfeld, in dem eine Lösung nur durch Ausgleich erreichbar scheint. Ist vor diesem Hintergrund eine Irrtumsermittlung des Gerichts zur Klärung der Frage, ob die Opfer wegen eines bestehenden oder trotz eines fehlenden Irrtums zahlten, denkbar, ohne eine nicht darstellbare Vielzahl von Zeugen mündlich in der Hauptverhandlung zu vernehmen?
C. Lösungsansätze
Für den dargestellten Konflikt finden sich in der Rechtsprechung und der Literatur zahlreiche Lösungsansätze. Es folgt eine systematisierte Wiedergabe dieser und eine umfassende Bewertung hinsichtlich ihrer rechtlichen Zulässigkeit sowie praktischen Eignung. So wird die Frage, ob die aufgezeigten Lösungsansätze de lege lata generell für vergleichbare Serienbetrugsfälle nutzbar gemacht werden können, beantwortet.
I. Beschränkung des Verfahrensstoffes
Sowohl Rechtsprechung als auch Literatur schlagen eine Beschränkung des Verfahrensstoffes der Hauptverhandlung nach den §§ 154, 154a StPO vor, wobei zwei grundsätzlich verschiedene Formen der Verfahrensbeschränkung angeführt werden: Eine qualitative und eine quantitative.39 Erstere hätte die Konsequenz, dass alle Taten nur hinsichtlich einer versuchten Begehung verfolgt würden. Letztere würde dazu führen, dass die Verfolgung einer unüberschaubaren Vielzahl von Fällen auf einige wenige reduziert und so das Gros der Taten nicht weiterverfolgt würde. Beides würde zu einem niedrigeren Bedarf an Vernehmungen führen.
1. Qualitative Beschränkung
Die Rechtsprechung verweist aus prozessökonomischen Gründen in direkter Anwendung auf §§ 154, 154a StPO und lässt dabei offen, welche Norm genau herangezogen werden soll.40 Krell schlägt eine Analogie zu § 154a StPO vor.41 Gemeinsam haben diese Ansätze für sich, dass der Umfang des Hauptverfahrens durch den Verzicht auf die Vernehmung aller potenziell irrenden Geschädigten, erheblich reduziert wird, da für den Versuch die Frage, ob auf Seiten des Geschädigten ein Irrtum vorliegt, unerheblich ist. Es kommt nur auf den Tatentschluss, mithin den Vorsatz des Täters, und das mögliche unmittelbare Ansetzen i.S.d. § 22 StGB an, welches durch die Vornahme der Täuschungshandlung vorläge. Der Angeklagte bekäme so keinen pauschalen Strafrabatt, sondern könnte gleich dem Vollendungstäter bestraft werden, da § 23 II StGB nur eine fakultative Strafmilderung vorsieht. Ob das Ergebnis unter Bezug auf die §§ 154, 154a StPO (analog) erreicht werden kann, wird im Folgenden untersucht.
a) § 154a II i.V.m. I 1 StPO
Nach § 154a II StPO ist eine Beschränkung gem. § 154a I 1 StPO durch das Gericht nur möglich, wenn die Staatsanwaltschaft der Verfahrensbeschränkung zustimmt. Dem steht im Verfahren generell nichts entgegen.
aa) § 154a I 1 Alt. 1 StPO
§ 154a I 1 Alt. 1 StPO lässt eine Beschränkung der Verfolgung um einzelne abtrennbare Teile einer Tat, die nicht beträchtlich ins Gewicht fallen, zu. Prima facie scheint in Serienbetrugsfällen bei einem Vergleich des Unrechtsgehalts zwischen Versuch und Vollendung aufgrund des gesteigerten Handlungsunrechts42 kein erheblicher Unterschied zu liegen, der beträchtlich ins Gewicht fiele. Angesichts dessen könnte § 154a I 1 Alt. 1 StPO anwendbar sein. Doch fraglich ist, ob Betrugsversuch und -vollendung als „abtrennbare Teile einer Tat“ gelten.
Abtrennbar sind einzelne Teile einer Tat, wenn sie aus dem Gesamtgeschehen herausgenommen werden können, ohne dass dadurch ein strafrechtlich untrennbar zusammengehöriger Sachverhalt zerrissen würde.43 Die Teile zeichnen sich dadurch aus, dass sie in gewissem Umfang in sich abgeschlossen sind.44 Dies gilt jedenfalls nicht für einzelne Tatbestandsmerkmale.45 Durch eine Isolierung des Versuchs würde das Irrtumsmerkmal sowie Vermögensverfügung und -schaden, abgetrennt.46 Bei diesen Merkmalen handelt es sich aber nicht um solche, die aus dem Gesamtgeschehen herausgenommen werden können, ohne dass dadurch ein strafrechtlich untrennbar zusammengehöriger Sachverhalt zerrissen würde. Ihnen fehlt die Selbstständigkeit:47 Einer irrenden Person, die aufgrund ihres Irrtums eine Vermögensverfügung vornimmt und sich so einen Vermögensschaden zufügt, ohne dass dafür eine Täuschungshandlung einer anderen Person kausal wurde, widerfährt kein Unrecht, das de lege lata isoliert strafrechtlich gewürdigt werden könnte.48 Die Tatbestandsmerkmale können nur in einem einheitlichen Betrugssachverhalt Anwendung finden und sind nicht sinnvoll voneinander zu trennen.49 Dieses Ergebnis ist nicht von § 154a I 1 Alt. 1 StPO vorgesehen, sodass eine Abtrennung der Vollendung nach der Norm ausscheidet.
37 BGHSt 59, 195.
38 BGH, NStZ 2015, 98.
39 Zum Gegensatz Kuhli, StV 2016, 40, 42.
40 BGH, NStZ 2013, 422, 423 Rn. 11; 2014, 459, 460 Rn. 22; 2019, 40; BeckRS 2017, 112307 Rn. 24. Grundlegend i.R.d. § 263a StGB BGHSt 58, 119, 132. Zust. Brähler, Serienstraftaten, 2000, S. 423; Kudlich, ZWH 2015, 105.
41 Krell, NStZ 2014, 686, 688 f.
42 Vgl. BGH, NStZ 2015, 98, 100 Rn. 26; Kuhli, StV 2016, 40, 43; vgl. Ullenboom, NZWiSt 2018, 317, 319.
43 Diemer, in: KK (Fn. 17), § 154a Rn. 3; vgl. Mavany, in: Löwe/Rosenberg StPO Band 5/127, 2020, § 154a Rn. 6; Heghmanns, ZJS 2013, 423, 427 f. mit Beispielen; vgl. BT-Drucks. 8/976, 40.
44 Schmitt, in: Meyer-Goßner (Fn. 14), § 154a Rn. 5; Weßlau/Deiters, in: SK (Fn. 14), § 154a Rn. 4; Mavany, in: L/R (Fn. 43), § 154a Rn. 6; Krell, NStZ 2014, 686, 688.
45 BGH, NStZ 1981, 23; Holtz, MDR 1980, 984, 985; Beulke/Berghäuser, in: FS Breidling, 2017, S. 13, 18; Mavany, in: L/R (Fn. 43), § 154a Rn. 4; Schmitt, in: Meyer-Goßner (Fn. 14), § 154a Rn. 5; Diemer, in: KK (Fn. 17), § 154a Rn. 3; Teßmer, in: MüKoStPO (Fn. 16), § 154a Rn. 15.
46 Venn, NStZ 2023, 257, 259.
47 Heghmanns, ZJS 2013, 422.
48 Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 20; Heghmanns, ZJS 2013, 422, 428.
49 Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 20; Heghmanns, in: FS Beulke, 2015, S. 771, 780 f.
bb) § 154a I 1 Alt. 2 StPO
Demgegenüber gestattet § 154a I 1 Alt. 2 StPO eine Reduzierung der Verfolgung um einzelne von mehreren Gesetzesverletzungen, die durch dieselbe Tat begangen worden sind, aber nicht beträchtlich ins Gewicht fallen.
Um mehrere Gesetzesverletzungen handelt es sich bei einer Mehrzahl von gem. § 52 StGB tateinheitlich verwirklichten Straftatbeständen.50 Das ist der Fall, wenn neben dem Betrug durch dieselbe Handlung kumulativ ein weiteres Delikt, etwa Spezialtatbestände wie § 143 MarkenG oder §§ 108, 108a UrhG, aber auch Urkundendelikte des Kernstrafrechts,51 verwirklicht wurde. Die alternative Verwirklichung zweier Gesetzesverletzungen, die sich aufgrund von Gesetzeskonkurrenz verdrängen, soll mangels Bedürfnisses nicht unter § 154a I 1 Alt. 2 StPO fallen.52 Zu klären ist, ob diese Differenzierung zwischen Versuch und Vollendung i.R.d. Norm zulässig ist.
Der Versuch ist die begonnene, aber nicht vollendete Tat, die zwar den subjektiven Tatbestand, nicht aber den objektiven vollständig verwirklicht.53 Er ist als ein Minus der Tatvollendung zeitlich vorgelagert und nur unter den Voraussetzungen der §§ 22, 23 StGB strafbar. Am Anfang einer jeden Versuchsprüfung steht deshalb nach h.M. die Feststellung, dass noch keine Vollendung eingetreten, also etwa der objektive Tatbestand nicht vollständig erfüllt ist.54 Die Strafbarkeit wegen Versuchs ist hinfällig, sobald eine zurechenbare Vollendung eingetreten ist.55 Daher stehen die Konstellationen in einem Exklusivitätsverhältnis,56 sodass eine Handlung nur ein Versuch oder eine Vollendung sein kann, aber nicht beides zugleich.57
Damit handelt es sich bei Versuch und Vollendung nicht um eine Mehrzahl von Gesetzesverletzungen i.S.d. § 154a I 1 Alt. 2 StPO.58 Eine Beschränkung auf die Versuchsstrafbarkeit scheidet auch nach dieser Vorschrift aus.
cc) Zwischenergebnis
Eine direkte Anwendung des § 154a StPO kann folglich nicht überzeugen.
b) § 154a II i.V.m. I 1 StPO analog
Eine Reduzierung der Verfolgung auf den Versuch durch analoge Anwendung der Vorschrift des § 154a StPO könnte die tatbestandlichen Hindernisse überwinden. Eine Analogie setzt eine vergleichbare Interessenlage bei planwidriger Regelungslücke voraus.59
aa) Vergleichbare Interessenlage
Ob eine vergleichbare Interessenlage vorliegt, ist durch Auslegung zu ermitteln. Das Telos des § 154a StPO ist Prozessökonomie:60 Die Norm dient der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens.61 Nach ihrer Konzeption sollen Verfahrensgegenstände, die bei einer Gesamtschau nicht beträchtlich ins Gewicht fallen, abtrennbar sein können.62 Dafür, dass die Vollendung im prozessualen Vergleich zu dem Versuch nicht beträchtlich ins Gewicht fällt, spricht das gesteigerte Handlungsunrecht und § 23 II StGB. Die für den Versuch dort vorgesehene Strafmilderung ist fakultativ und stellt damit eine Ausnahme dar.63 In der Regel ist der bloße Versuch genauso strafwürdig, wie die Vollendung. So stellt sich der Aufwand, den das Gericht zur Ermittlung der Vollendung machen müsste, als unverhältnismäßig zu seinem Ertrag dar.64 Die Interessenlage ist mithin vergleichbar.
bb) Planwidrige Regelungslücke
Darüber hinaus müsste die Thematik auch planwidrig, also versehentlich, durch den Gesetzgeber nicht geregelt worden sein.65 Denkbar ist dies auch dadurch, dass eine Thematik für den historischen Gesetzgeber noch unbekannt war und sich die Gesetzeslücke so erst bei späterem erstmaligen Auftreten des Phänomens auftat.66 In diesem Fall wäre der Wille des historischen Gesetzgebers durch Zeitablauf nämlich nur noch unvollkommen abgebildet.67
§ 154a StPO ist wie alle Normen der §§ 151 ff. StPO als gesetzliche Ausnahme vom Legalitätsprinzip konzipiert.68 Ohne die Norm müsste nach dem Legalitätsprinzip das Strafverfahren wegen jeder Straftat vollständig durchgeführt werden.69 Die Analogiebildung soll nach heute h.M. bei einer expliziten Ausnahmevorschrift nicht kategorisch ausgeschlossen sein.70 Doch ist in diesem Kontext zu beachten, dass das Legalitätsprinzip gem. § 152 II StPO nur uneingeschränkt gilt, soweit „nicht gesetzlich etwas anderes bestimmt ist“. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass der Gesetzgeber seine Aufgabe, dem Legalitätsprinzip durch das Statuieren von Ausnahmen Kontur zu verleihen, ernst
50 Diemer, in: KK (Fn. 17), § 154a Rn. 4; Teßmer, in: MüKoStPO (Fn. 16), § 154a Rn. 14; Mavany, in: L/R (Fn. 43), § 154a Rn. 7; Schmitt, in: Meyer-Goßner (Fn. 14), § 154a Rn. 6; vgl. BT-Drucks. 8/976, 40.
51 Venn, NStZ 2023, 257, 259; vgl. Heghmanns, ZJS 2013, 423, 428.
52 BGH, NStZ 1981, 23; Mavany, in: L/R (Fn. 43), § 154a Rn. 7, 8.
53 Fischer (Fn. 4), § 22 Rn. 2.
54 Fischer (Fn. 4), § 22 Rn. 4; § 22 Rn. 5; Cornelius, in: BeckOKStGB57, 2023, § 22 Rn. 18; Heger/Petzsche, in Matt/Renzikowski StGB2, 2020, § 22 Rn. 19; Engländer, in: NomosKommentar StGB6, 2023, § 22 Rn. 22; krit. Hardtung, JURA 1996, 293, 301; Hoffmann-Holland, in: TK (Fn. 4).
55 Frank (Fn. 14), S. 144; Mavany, in: L/R (Fn. 43), § 154a Rn. 8; vgl. Kuhli, StV 2016, 40, 43.
56 Vgl. Krell, NStZ 2014, 686, 688; Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 20; Frank (Fn. 14), S. 143; Mavany, in: L/R (Fn. 43), § 154a Rn. 8.
57 Heghmanns, ZJS 2013, 423, 428; Krell, NStZ 2014, 686, 688; Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 21; Frank (Fn. 14), S. 144.
58 Krell, NStZ 2014, 686, 688; Trüg, HRRS 2015, 106, 114; Frank (Fn. 14), S. 144; Heghmanns (Fn. 49), S. 771, 780 f.
59 BGHZ 105, 140; Kuhn, JuS 2016, 104, 105; Muthorst, Grundlagen2, 2019, § 8 Rn. 24.
60 Pott, Opportunitätsdenken,1996, S. 50.
61 BGHSt 32, 84, 87; Schmitt, in: Meyer-Goßner (Fn. 14), § 154a Rn. 1; Mavany, in: L/R (Fn. 43), § 154a Rn. 1; Pott (Fn. 60), S. 49 f.; Schulenburg, JuS 2004, 765, 769; Pommer, JURA 2007, 662, 666; Münkel/Nuzinger, in: Wirtschaftsstrafrecht, 2017, § 154a Rn. 6.
62 BT-Drucks. 8/976, 40.
63 Hoffmann-Holland, in: TK (Fn. 4), § 23 Rn. 15; Engländer, in: NK (Fn. 54), § 23 Rn. 3; BT-Drs. 5/4095, 11.
64 Krell, NStZ 2014, 686, 688; Schmitt, in: Meyer-Goßner (Fn. 14), § 154a Rn. 7a; vgl. Mavany, in: L/R (Fn. 43), § 154a Rn. 8; a.A. Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 22 f.
65 Mann, Juristische Arbeitstechnik5, 2015, S. 273; Luther, JURA 2013, 449 f.; Kuhn, JuS 2016, 104, 105; Schwacke, Juristische Methodik, 134.
66 BVerfGE 82, 6 f.
67 Mann (Fn. 65), S. 277; Luther, JURA 2013, 449.
68 Vgl. Weßlau/Deiters, in: SK (Fn. 14), § 154a Rn. 3, 7 f.; Krell, NStZ 2014, 686, 689.
69 Schulenburg, JuS 2004, 765 f.; Pommer, JURA 2007, 662, 666.
70 Vgl. Bydlinski, Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, S. 440; Engisch, Juristisches Denken, 2018, S. 147 f.; Würdinger, AcP 206 (2006), 946, 956 f.
nahm und die Materie abschließend regeln wollte.71 Danach scheidet eine planwidrige Regelungslücke aus.
Allerdings werden Serienbetrugstaten heutzutage immer häufiger unter Ausnutzung moderner technischer (Computer-)Systeme begangen — etwa durch die Verwendung von automatischen Anrufsystemen72 oder Missbrauch des digitalen Einzugsermächtigungslastschriftverfahrens.73 Diese Techniken waren zum Zeitpunkt der letzten inhaltlichen Änderung des § 154a StPO im Jahre 197974 noch nicht absehbar.75 Die Gesetzesbegründung erwähnt zwar grundsätzlich umfangreiche Verfahren.76 Allerdings gibt es kein Anzeichen für irgendeine Auseinandersetzung mit zu erwartenden technischen Möglichkeiten der Zukunft. Für diese Fälle ist eine planwidrige Regelungslücke nach den oben genannten Maßstäben folglich zu bejahen. Sie ist allerdings für „traditionelle“ Begehungsweisen — wie den postalischen Versand falscher Rechnungen77 — aus den genannten Gründen zu verneinen.
cc) Zwischenergebnis
Die Analogievoraussetzungen liegen damit jedenfalls nicht allgemein für Serienbetrugsfälle vor. Eine analoge Anwendung des § 154a StPO, die zu einer qualitativen Beschränkung des Verfahrensstoffes führt, kann also einen Lösungsweg bieten, der insofern zu begrüßen ist, als dass er überhaupt keine Vernehmung der Getäuschten erfordert und somit ein ökonomisches Verfahren ermöglicht. Eine analoge Anwendung bietet damit allerdings keine Bewältigungsstrategie, die generell zur Lösung des Problems bei Serienbetrugstaten geeignet wäre.78
c) § 154 StPO
§ 154 StPO scheidet für eine qualitative Beschränkung auf den Versuch schon aus dem Grund aus, dass die Norm tatbestandlich mehrere Taten im prozessualen Sinn erfordert. Der Versuch und die Vollendung eines Tatbestands durch eine Handlung stellen nur eine prozessuale Tat dar.79
d) Zwischenergebnis
Auch wenn es sich um eine „sich aus Gründen der Verfahrensökonomie aufdrängende Lösung“80 handeln mag, kann eine direkte Anwendung der §§ 154, 154a StPO nicht und eine analoge Anwendung nur vereinzelt überzeugen.
2. Quantitative Beschränkung
Eine quantitative Verjüngung des Prozesses könnte einerseits durch Teileinstellung gem. § 154 II i.V.m. I Nr. 1 StPO, andererseits durch eine Beschränkung der Verfolgung gem. § 154a II i.V.m. I 1 Alt. 2 StPO erreicht werden. § 154a StPO betrifft einzelne Elemente einer Tat im prozessualen Sinne, § 154 StPO mehrere prozessuale Taten.81 Beide Vorschriften setzen jedenfalls voraus, dass das abzutrennende Element „nicht beträchtlich“ ins Gewicht fällt.
Bei Serienbetrugsfällen, die durch die Begehung einer Vielzahl gleichartiger Taten gekennzeichnet sind, ist gerade nicht ersichtlich, dass einzelne Taten das Gesamtgeschehen derart überstrahlen, dass sie in diesem Sinne als wesentlich erscheinen.82 Das Unrecht besteht in der Kumulation von gleichartigen Kleinschäden,83 sodass eine unterschiedlich starke Gewichtung im Regelfall nicht möglich sein wird.84 Eine Anwendung der §§ 154, 154a StPO in quantitativer Hinsicht ist also nicht möglich.85
3. Zwischenergebnis
Eine Beschränkung des Verfahrensstoffes gem. §§ 154, 154a StPO (analog) kann weder in qualitativer noch in quantitativer Hinsicht als generelle Lösung nutzbar gemacht werden.
II. Indizienschlüsse
Zahlreiche Entscheidungen erwägen einen Indizienbeweis zur Irrtumsermittlung. Bei einem solchen wird über ermittelte Nebentatsachen (Indizien) mithilfe eines hinreichend plausiblen Erfahrungssatzes auf nicht zugängliche Haupttatsachen geschlossen.86 So wird angeführt, dass in Serienbetrugsverfahren lediglich die Vernehmung einiger weniger Zeugen ausreiche und von deren Vorstellungsbild auf das aller Geschädigten indiziell geschlossen werden könne.87 Auch seien Sachverhalte denkbar, in denen zur Irrtumsfeststellung gar keine Zeugenvernehmung benötigt werde.88 Der Irrtum könne dabei jeweils zumindest in Form eines sachgedanklichen Mitbewusstseins angenommen werden.89 Entscheidende Voraussetzung sei, dass es sich im
71 Mavany, in: L/R (Fn. 43), § 152 Rn. 12; Heyden, Legalitäts- und Opportunitätsprinzip, 1961, S. 12; Pfeiffer, StPO5, 2005, Einl. Rn. 5; Schroeder, NJW 1983, 137, 142; so auch Krell, NStZ 2014, 686, 689.
72 BGHSt 59, 195.
73 BGH, NStZ 2014, 459.
74 Zur heutigen Formulierung des § 154a StPO Pott (Fn. 60), S. 45 f. Zur vorherigen Rechtslage bei Massenbetrugsverfahren Herrmann, ZStW 1973, 255 f. § 154a StPO wurde seitdem im Jahr 2015 bloß die amtliche Überschrift hinzugefügt.
75 Vgl. Kudlich, ZWH 2015, 105.
76 Vgl. BT-Drucks. 8/976, 18; Berz, NJW 1982, 729, 731; Rebmann, NStZ 1984, 241, 244; Krell, NStZ 2014, 686, 689.
77 BGHSt 54, 44 (nicht vollst. abgedr.) = wistra 2009, 433, 434; BGH, NStZ 2015, 98.
78 Vgl. Hefendehl, in: MüKoStGB (Fn. 7), § 263 Rn. 1269; Trüg, HRRS 2015, 106, 114.
79 Kuhli, StV 2016, 40, 43; Venn, NStZ 2023, 257 f.; Frank (Fn. 14), S. 137; Heghmanns, ZJS 2013, 423, 427.
80 Wastl, WuB 2014, 461, 463.
81 Münkel/Nuzinger, in: Wirtschaftsstrafrecht (Fn. 61), § 154a StPO Rn. 5. Pott (Fn. 60), S. 49, 57 f. zum Verhältnis von §§ 154, 154a StPO; vgl. C. I. 1. c);
82 BGH, NStZ 2013, 422, 423 Rn. 12; BGH, wistra 2017, 495, 497; Frank (Fn. 14), S. 122 f.
83 BGH, NStZ 2013, 422, 423 Rn. 12; Trüg, HRRS 2015, 106, 107; Kölbel, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau6, 2023, 5. Teil, 1. Kap. Rn. 165.
84 BGH, NStZ 2013, 422, 423 Rn. 12; 2019, 40, 41 Rn. 21; Kuhli, StV 2016, 40, 42; Frank (Fn. 14), S. 122; Venn, NStZ 2015, 297; Trüg, HRRS 2015, 106, 107; Ullenboom, NZWiSt 2018, 317, 319; Peter, StraFo 2019, 186, 187; Hefendehl, in: MüKoStGB (Fn. 7), § 263 Rn. 1268.
85 Als problematisch wird in diesem Kontext die bloß auf Strafzumessungsebene mögliche Berücksichtigung des Vorsatzes bezüglich einem nun nichtmehr prozessgegenständlichen Erfolgsunrecht angesehen. Zur „Strafzumessungslösung“ knapp und gleichwohl krit. Trüg, HRRS 2015, 106, 111, 113.
86 Kühne (Fn. 15), Rn. 759.
87 BGH, NStZ 2013, 422, 423 Rn. 16; 2014 215; 459, 460 Rn. 17; 644, 645; 2015, 98, 100 Rn. 24; 2019, 40 Rn. 13; NStZ-RR 2017, 375, 376; 2020, 117, 118; BeckRS 2017, 112307 Rn. 24.
88 BGH, NStZ 2013, 422, 423 Rn. 16; 2014; 215 459, 460 Rn. 15 f.; 2015, 98, 100 Rn. 23; 2019, 43, 44 Rn. 7; NStZ-RR 2016, 12, 13; 2017, 375, 376; 2020, 117, 118.
89 BGHSt 59, 195, 204; BGH, NStZ 2014 459, 460 Rn. 17; 2015, 98, 100 Rn. 19; BeckRS 2017, 112307 Rn. 24; NStZ-RR 2020, 117, 118.
konkreten Fall um ein normativ geprägtes Vorstellungsbild der Geschädigten handle.90
Im Folgenden wird abstrakt auf die Figur des sachgedanklichen Mitbewusstseins bei einem normativ geprägten Vorstellungsbild eingegangen und sodann die rechtliche Zulässigkeit der einzelnen Beweisschlüsse anhand der konkreten Indizien untersucht.
1. Sachgedankliches Mitbewusstsein bei normativ geprägtem Vorstellungsbild
Die Rechtsprechung zieht die Figur des sachgedanklichen Mitbewusstseins etwa auch in Fällen des sog. Abrechnungsbetrugs heran, um einen Irrtum zu begründen.91 Ein sachgedankliches Mitbewusstsein sei die stille und nicht näher reflektierte Annahme des Täuschungsadressaten, dass bestimmte tatsächliche Umstände vorliegen, die dieser für so üblich hält, dass er sich keine weiteren Gedanken dazu macht.92 Der Adressat gehe davon aus, es sei „alles in Ordnung“.93 Im Anwendungsbereich des sachgedanklichen Mitbewusstseins liegen so z.B. Sachbearbeiter, die automatisierte kodierte Abrechnungen bearbeiten.94 Sie werden sich aufgrund der Alltäglichkeit des Geschäfts keine positiven Fehlvorstellungen über die Richtigkeit jeder bearbeiteten Abrechnung machen, sondern allenfalls davon ausgehen, alles gehe eben mit rechten Dingen zu. Ein normativ geprägtes Vorstellungsbild liege bei gleichförmigen, massenhaften oder routinemäßigen Geschäften vor, die von als selbstverständlich angesehenen Erwartungen geprägt seien, die zwar nicht in jedem Einzelfall bewusst aktualisiert würden, jedoch der vermögensrelevanten Handlung als hinreichend konkretisierte Tatsachenvorstellung zugrunde lägen.95 Durch die Anwendung der Rechtsfigur kann ein Irrtum für alle Geschädigten eines Serienbetrugs konstruiert werden, indem normativ angenommen wird, sie hätten zumindest dieses sachgedankliche Mitbewusstsein, es sei „alles in Ordnung“.
Das Vorgehen anhand eines sachgedanklichen Mitbewusstseins aufgrund eines normativ geprägten Vorstellungsbilds begegnet dabei rechtlichen Bedenken. Seit jeher ist die Herangehensweise an die Ermittlung eines Irrtums i.R.d. § 263 I StGB eine faktisch psychologische Tatfrage.96 Amtsaufklärungspflicht und Beweisermittlungsgrundsatz fordern, dass festgestellt wird, welche Vorstellungen die Person hatte, die i.S.d. § 263 I StGB über Vermögen verfügt hat, und ob diese irrig waren. Daraus folgt, dass sie in der Hauptverhandlung über ihre Vorstellung vernommen werden muss.97 Grundsätzlich kann nur so gerichtlich geklärt und i.S.d. § 261 StPO gewürdigt werden, ob die nötige Kausalität zwischen Täuschung, Irrtum und Verfügung i.S.d. § 263 I StGB besteht. Der Irrtum muss trotz normativer Prägung Tatfrage bleiben und darf den Personen nicht bloß zugeschrieben werden.98
Im Kontext einer Normativierung des Irrtumsmerkmals ist deshalb eine Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Verschleifungsverbots des Art. 103 II GG unerlässlich. Es besagt, dass einzelne Tatbestandsmerkmale nicht so weit ausgelegt werden dürfen, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht würden.99 Im Hinblick auf Art. 103 II GG ginge eine Normativierung des Irrtumsmerkmals durch das sachgedankliche Mitbewusstsein dann zu weit, wenn nicht das individuelle Vorstellungsbild der konkreten Getäuschten ermittelt, sondern ein überindividuelles Vorstellungsbild für alle Geschädigten angenommen würde.100 Es käme dann nicht mehr darauf an, was sich eine Einzelperson tatsächlich gedacht hat, sondern darauf, was sie aufgrund der Risiko- und Pflichtenverteilung des durch die Täuschungshandlung geprägten zugrundeliegenden Sachverhalts erwarten durfte.101 So würde im Ergebnis von dem bloßen Vorliegen einer geeigneten Täuschungshandlung auf einen korrespondierenden Irrtum geschlossen.102 Eine Anwendung der Rechtsfigur des sachgedanklichen Mitbewusstseins in Serienbetrugsfällen muss deshalb mit Blick auf das verfassungsrechtliche Verschleifungsverbot aus Art. 103 II GG jedenfalls restriktiv erfolgen.103
2. Beurteilung der konkreten Indizienschlüsse
Der Schluss von der Vernehmung einzelner Zeugen pars pro toto sowie die Indizienschlüsse ohne Zeugenvernehmung haben für sich, dass sie eine wirksame, justiziable, vergleichsweise einfache sowie verfahrensökonomische Beweiserhebung ermöglichen und in jeder Größenordnung von Verfahren herangezogen werden können. Bei ihnen handelt es sich nicht um gesetzlich vorgesehene Verfahren, sondern um Vorgehensweisen des Gerichts bei der Beweisermittlung und -würdigung im Einzelfall. Deshalb müssen sie sich an den einschlägigen Verfahrensprinzipien und -rechten messen lassen.
a) Vernehmen einzelner Zeugen pars pro toto
Wenn das Gericht nur einige Zeugen vernimmt, um anhand ihrer Vorstellungen pars pro toto auf die aller Getäuschten zu schließen, ermittelt es im Ergebnis eine statistische Irrtumsquote, die es sogleich auf die Gesamtheit der Fälle hochrechnet.104 Es verzichtet so auf die gem. § 244 II StPO
90 BGHSt 59; 195, 204; BGH, NStZ 2013, 422, 423 Rn. 16; 2014; 215; 459, 460 Rn. 17; 644, 645; 2015, 98, 100 Rn. 20; 2019, 40 Rn. 13; BeckRS 2017, 112307 Rn. 24; 43, 44 Rn. 7.
91 BGH, wistra 2009, 433.
92 Kuhli, StV 2016, 40, 45.
93 BGH, NStZ 2015, 341; vgl. BGH, NStZ 2009, 506, 507 Rn. 17.
94 BGH, NStZ 2015, 341; NJW 2021, 90 Rn. 64.
95 Vgl. BGH, NStZ 2014, 215; 2019, 40 Rn. 13; Kubiciel/ Tiedemann, in: LK (Fn. 12), § 263 Rn. 87.
96 BGHSt 3, 69, 71; BGH, NStZ 2000, 375; 2012, 699; 2013, 422, 423; Rönnau/Becker, JuS 2014, 504 506; Krehl, NStZ 2015, 101; Braun, ZWH 2020, 318, 321; Gaede, in: AnwK (Fn. 5), § 263 Rn. 55; Kindhäuser, in: NK (Fn. 54), § 263 Rn. 186.
97 BGH, NStZ 2014, 644.
98 Krehl, NStZ 2015, 101; Frank (Fn. 14), S. 228; Schuhr, ZStW 2011, 517, 523; Fischer (Fn. 4), § 263 Rn. 67a.
99 BVerfGE 126, 170, 198; 130, 1, 37. Dazu Krell, ZStW 2014, 902; Saliger, in: FS Fischer, 2018, S. 523.
100 Frank (Fn. 14), S. 291. Zu den Grenzen der Figur Schuhr, ZStW 2011, 517, 520 f.
101 Rönnau/Becker, JuS 2014, 504, 507; Trüg, HRRS 2015, 106, 116; BGH, NStZ 2009, 506, 507.
102 Ausführlich zu der Kritik Kraatz, in: FS Geppert, 2011, S. 269; Braun, ZWH 2020, 318.
103 Eine Anwendbarkeit der Figur des sachgedanklichen Mitbewusstseins in diesem Kontext wird von einigen schon aufgrund ihrer Konzeption abgelehnt. So Trüg, HRRS 2015, 106, 115; Kuhli, StV 2016, 40, 46. A.A. Ceffinato, ZStW 2016, 804, 812 Fn. 48.
104 Vgl. Trüg, HRRS 2015, 106, 113 f.; Kuhli, StV 2016, 40, 45; Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 28; Frank (Fn. 14), S. 233; Ceffinato, ZStW 2016, 804, 811; Venn, NStZ 2023, 257, 260; so ging das Gericht in BGHSt 59, 195 vor: nach der Vernehmung von neun (!) Zeugen wurde eine Irrtumsquote von 80 % für die insgesamt 660.000 Geschädigten angenommen.
gebotene Aufklärung über die individuellen Vorstellungen aller Geschädigten und nimmt bloß ein personenübergreifendes einheitliches Vorstellungsbild an, das eine Individualisierung der irrenden Personen nicht zulässt.105 Rechtfertigend wird angeführt, dass im Rahmen eines normativ geprägten Vorstellungsbilds die tatsächliche Ermittlung aller Vorstellungen entbehrlich sei, weil im Wege der freien richterlichen Beweiswürdigung gem. § 261 StPO durch den Indizienschluss ausreichend auf die Vorstellungen aller Geschädigten geschlossen werden könne.106 So wird angenommen, dass die Sachverhalte alle vergleichbar und ausreichend gleich gelagert seien, aber verkannt, dass ein Teil der Geschädigten tatsächlich aus sekundären Motiven abseits der Täuschung gezahlt haben könnte.107 Eine Argumentation, die als Rechtfertigung bloß § 261 StPO heranzieht, übersieht die Anforderungen des § 244 II StPO, der weitergehende Aufklärung fordert.108
Praktisch ist nicht einmal die Vernehmung einer repräsentativen Anzahl von Zeugen möglich, ohne die Grenzen eines Verfahrens zu sprengen.109 Setzte man eine sehr niedrige Schwelle von 1 % an, müsste man trotzdem regelmäßig Hunderte oder Tausende vernehmen.110 Dies gilt insbesondere mit Blick in die Zukunft, da anzunehmen ist, dass Serienbetrüger ihre Reichweite durch Technologie noch effizienter steigern werden. Selbst, wenn man diese Vernehmung durchführte, bliebe das Problem bestehen, da im Hinblick auf § 244 II StPO vor der Ermittlung der Vorstellungen der nicht vernommenen Personen immer noch kapituliert würde. Es käme nur zu einer lückenhaften und somit unzureichenden Beweiswürdigung,111 sodass im Ergebnis auch dem auf der Amtsaufklärung aufbauenden § 261 StPO nicht Genüge getan würde. Eine subjektive Gewissheit des Gerichts aufgrund der objektiv hohen Wahrscheinlichkeit des Zutreffens des Indizienschlusses für alle Geschädigten, wie sie § 261 StPO fordert,112 müsste man dann auch verneinen, weil es durch die im Hinblick auf § 244 II StPO unzureichende Ermittlung schlicht keine ausreichenden tatsächlichen Erkenntnisse gäbe. Dem Beschleunigungsgrundsatz würde durch das Vorgehen zwar prima facie Genüge getan, doch nur auf unzulässige Weise, die auf Kosten der Wahrheitsfindung ginge, wenn diese hinsichtlich der Vorstellungen eines Großteils der Getäuschten unterbliebe. Die dargestellten Probleme können aufgrund ihres Gewichts insoweit auch nicht durch wirtschaftliche Vorteile oder eine daraus gesicherte Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege aufgewogen werden.113
Der Ansatz rückt so von individuellen Vorstellungen ab und lässt ausreichen, wovon der jeweilige Getäuschte aus normativem Blickwinkel hätte ausgehen dürfen,114 sodass ein Irrtum in der Praxis konsequenterweise selbst dann angenommen werden müsste, wenn das individuelle Opfer die Täuschung tatsächlich durchschaut oder gar nicht bemerkt hat.115 Da dem Irrtumsmerkmal als subjektiv zu beurteilende Tatsache insoweit seine unrechtskonstituierende Bedeutung abgesprochen würde,116 ist ein solcher Indizienschluss auf die Vorstellungen der nicht vernommenen Personen neben §§ 244 II, 261 StPO auch nicht mit Art. 103 II GG vereinbar.117
b) Indizienschluss ohne Zeugenvernehmung
Ein Indizienschluss ohne Zeugenvernehmung wird konkret etwa auf „Indizien des äußeren Ablaufs“,118 „äußere Umstände“ und allgemeine Erfahrungssätze,119 das Interesse des Geschädigten an der Wahrhaftigkeit der Behauptungen des Täters120 oder gar das Geständnis des Angeklagten im Rahmen einer Verständigung gem. § 257c StPO121 gestützt. Hier werden die Diskrepanzen zwischen den Anforderungen der Verfahrensprinzipien, den Rechten des Angeklagten und der gerichtlichen Praxis noch deutlicher.
So stützte das Gericht seine Überzeugung hinsichtlich des Irrtums, einer inneren Tatsache, allein auf äußere Umstände und verzichtete gänzlich auf den vorzugswürdigen sachnäheren Zeugenbeweis.122 Infolgedessen unterbliebe jede Individualisierung der Getäuschten inklusive ihrer Vorstellungen, was § 244 II StPO vollständig übersähe.123 Der Rückgriff auf allgemeine Erfahrungssätze hätte für sich, dass man Geschäfte z.B. in Kategorien wie bagatellhaft und nicht bagatellhaft einteilen und daraus auf die individuelle Bedeutung des Geschäfts für den Geschädigten und so auf dessen Vorstellung schließen könnte. Dagegen ist aber einzuwenden, dass die Bemessung der ökonomischen Bedeutung eines Geschäfts absolut individuell geprägt ist. Denn spätestens bei einer höheren zweistelligen individuellen Schadenssumme könnte nicht mehr für alle Geschädigten von einer einheitlichen ökonomischen Bedeutung des Geschäfts gesprochen werden.124 Bezüglich besonders niedriger Individualschäden125 könnte das Vorgehen ebenfalls nicht für Klarheit sorgen. Gerade hier scheint denkbar, dass es den Getäuschten in Relation zu dem Aufwand, den ein Abwenden erforderte, egal ist, ob sie den jeweiligen Betrag verlieren oder nicht. Je niedriger der jeweils eingeforderte Geldbetrag ist, desto mehr spricht dafür, dass eine Zahlung trotz fehlenden Irrtums nicht völlig auszuschließen ist.126
105 Trüg, HRRS 2015, 106, 115; vgl. Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 27 f; Kuhli, StV 2016, 40, 46; Ceffinato, ZStW 2016, 804, 818 f.; vgl. auch Rönnau/Becker, JuS 2014, 504, 507; Frank (Fn. 14), S. 277.
106 Vgl. BGH, NStZ 2013, 422, 423 Rn. 16; 2014; 215; 459, 460 Rn. 17; 644, 645; 2015, 98; 2019, 40 Rn. 13; NStZ-RR 2017, 375, 376; NStZ-RR 2020, 117, 118; BeckRS 2017, 112307 Rn. 24.
107 Venn, NStZ 2015, 297, 298; 2023, 257, 262; Ullenboom, NZWiSt 2018, 317, 320.
108 Vgl. Venn, NStZ 2015, 297, 298; 2023, 257, 261.
109 Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 28; vgl. Kuhli, StV 2016, 40, 47; Trüg, HRRS 2015, 106, 115 Fn. 83; Frank (Fn. 14), S. 276.
110 BGHSt 59, 195: 6.600 Menschen.
111 Venn, NStZ 2023, 257, 261; anders z.B. BGHSt 59, 195.
112 Vgl. B. II. 2.
113 Vgl. B. II. 5.
114 Frank (Fn. 14), S. 291; Kudlich, ZWH 2015, 105; Venn, NStZ 2023, 257, 261; vgl. BGH, NJW 2014, 2595, 2598.
115 Rönnau/Becker, JuS 2014, 504; Trüg, HRRS 2015, 106, 115; Kudlich, ZWH 2015, 105; Venn, NStZ 2023, 257, 262; vgl. Sinn, ZJS 701, 704.
116 Krehl, NStZ 2015, 101; vgl. Rönnau/Becker, JuS 2014, 504, 507.
117 Vgl. Krehl, NStZ 2015, 101; Frank (Fn. 14), S. 258 f., 292; Venn, NStZ 2023, 257, 261; Braun, ZWH 2020, 318, 324.
118 BGH, NStZ 2015, 341; vgl. BGH, NStZ 2015, 98, 100 Rn. 21 f.
119 BGH, NStZ 2015, 98, 100 Rn. 21 f.
120 Vgl. BGH, NStZ 2009, 506, 507; 2013, 422, 423 Rn. 16; 2014; 215; wistra 2009, 433, 434; Tiedemann, in: LK (Fn. 12), § 263 Rn. 87; Krehl, NStZ 2015, 101.
121 BGH, NStZ 2015, 98, 100 Rn. 23. A.A. BGH, NStZ 2014, 644, 645; NStZ 2014, 459, 460.
122 Frank (Fn. 14), S. 260 f.; Venn, NStZ 2023, 257, 261. Das Gericht ging in BGH, NStZ 2015, 98 allein aufgrund der indiziellen Verwertung äußerer Umstände davon aus, mindestens einer von 50 Täuschungsadressaten habe kausal auf die Täuschung hin gezahlt.
123 I.E. auch Frank (Fn. 14), S. 277 f.
124 Vgl. Kuhli, StV 2016, 40, 45.
125 BGHSt 59, 195: 0,98 € p.P.
126 Kuhli, StV 2016, 40. Vgl. BGH, NStZ 2014, 459, 460 Rn. 21 zur Möglichkeit übersehener betrügerischer Lastschriften.
Das indizielle Verwerten eines Geständnisses des Angeklagten ist im Hinblick auf die Amtsermittlungspflicht und den Beweiswürdigungsgrundsatz umso problematischer.127 Es ist nicht ersichtlich, wie der Angeklagte zur Feststellung einer Tatsache, die verlässlich nur durch den jeweiligen Getäuschten bestätigt werden kann, geständig beitragen können soll.128 Seine Angaben könnten allenfalls noch zur Beurteilung der Frage, ob die äußeren Umstände eines sachgedanklichen Mitbewusstseins vorliegen, von Bedeutung sein.129 Soweit dahingehend aber angeführt wird, dass die Feststellung des Vorstellungsbilds geschädigter Personen beim Betrug keinen anderen Regeln als die Feststellung sonstiger innerer Tatsachen wie etwa des Vorsatzes beim Angeklagten folge,130 verfängt die Argumentation nicht. Auch in diesen Fällen käme niemand auf die Idee, von vorneherein auf die Vernehmung des Angeklagten zu verzichten und sich zur Ermittlung seiner individuellen Vorstellungen allein auf äußere Umstände zu beschränken.131
Im Ergebnis ähneln solche Indizienschlüsse einem Anscheinsbeweis,132 der der ZPO bekannt, der StPO aber fremd ist.133 Der Angeklagte würde so in eine Lage gebracht, in der er darum kämpfen müsste, das Bild, das objektive Umstände des Falls unter Heranziehung von Wahrscheinlichkeiten zeichnen, zu entkräften, ohne dass die in Rede stehenden subjektiven Tatsachen tatsächlich bewiesen wären. Dies stellte eine im Strafprozess unzulässige Beweislastumkehr zu seinen Lasten dar.134 Ein Verfahren anhand von Indizienschlüssen ohne Zeugenvernehmung vernachlässigte so die Amtsaufklärungspflicht, den Beweiswürdigungsgrundsatz sowie den Unmittelbarkeitsgrundsatz und bewirkte, dass der Angeklagte sein Fragerecht nicht wahrnehmen könnte. Insoweit würde dieser nämlich ohne die Chance, auch nur irgendeinen Belastungszeugen zu konfrontieren oder gar zu widerlegen, verurteilt.135
Daneben würde auch hier aufgrund der Tatsache, dass der Angeklagte eine Täuschungshandlung vornahm, die objektiv geeignet war, eine erhebliche Anzahl von Menschen zu täuschen, darauf geschlossen, dass die Adressaten einem Irrtum unterlagen, anstatt dies tatsächlich aufzuklären. Die Friktionen mit dem Verschleifungsverbot wären aber aufgrund der Tatsache, dass hier nicht einmal irgendwelche Zeugen vernommen würden, noch erheblich höher: Durch den Wegfall einer Zeugenvernehmung würde ein Irrtum angenommen, der allein auf Plausibilitäten und Alltagserfahrung gestützt wäre und mit der Wirklichkeit im Einzelfall nicht mehr viel zu tun hätte beziehungsweise haben müsste.136 Hier unterbliebe sogar der noch in gewisser Weise legitimierende pars pro toto Schluss, sodass vom Tatbestandsmerkmal des Irrtums nichts mehr übrig bliebe137 und dieses Vorgehen auch erst recht gegen Art. 103 II GG verstieße. Es ist deswegen auch ungerechtfertigt, zugunsten der Prozessökonomie so grundsätzlich Abstand von der grundsätzlich mandatorischen Zeugenvernehmung zu nehmen.138
c) Zwischenergebnis
Die konkreten Indizienschlüsse sind mit der aktuellen prozess- und verfassungsrechtlichen Gesetzeslage unvereinbar.139
3. Zwischenergebnis
Das Verfahren, anhand von Indizienschlüssen auf ein sachgedanklichen Mitbewusstsein zu schließen, kann als Lösungsansatz für Serienbetrugsfälle folglich nicht überzeugen.
III. Fragebögen
Um eine Vereinfachung der Beweisaufnahme durch eine Ermittlung „in die Breite“140 zu ermöglichen, wird die Befragung aller Geschädigten mittels standardisierter Fragebögen, die bereits im Ermittlungsverfahren eingesetzt werden, in Erwägung gezogen.141 So könnte durch Multiple-Choice-Fragen ein möglichst differenziertes Bild der Vorstellungen der Geschädigten gezeichnet werden. Prima facie erscheint es durch eine Auswertung der Ergebnisse dieser Fragebögen möglich, die Vorstellungen aller Geschädigten repräsentativ zu erfassen, ohne dabei die Hauptverhandlung überzustrapazieren. Doch müsste dieses Verfahren auch praktisch umsetzbar und gegen rechtliche Bedenken erhaben sein.
1. Praktische Würdigung
In praktischer Hinsicht sind insbesondere die inhaltlichen Anforderungen an die Fragebögen, die Frage, wie deren Beantwortung durchgesetzt werden kann, sowie die Anforderungen an einen Transfer in die Hauptverhandlung zu würdigen.
a) Inhaltliche Gestaltung
Für die Zeugenvernehmung ist gem. § 69 I 1 StPO vorgesehen, dass jeder Zeuge veranlasst wird, das, was ihm von dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhang anzugeben. Aus einem Umkehrschluss aus § 69 II 1 StPO, der nur „notwendigenfalls“ weitere Fragen vorsieht, ergibt sich, dass dies vor dem Verhör geschehen muss,142 um eine möglichst unbefangene und nicht verzerrte Zeugenaussage sicherzustellen.143 Dieses Gebot des
127 Vgl. Gössel, FS Beulke, 2015, S. 737 zu dem Verhältnis von § 244 II StPO und § 257c StPO.
128 BGH, NStZ 2014, 644, 645; Krehl, NStZ 2015, 101, 102; vgl. Sinn, ZJS 701, 704.
129 Krehl, NStZ 2015, 101, 102.
130 BGH, NStZ 2015, 98, 100 Rn. 22.
131 Krehl, NStZ 2015, 101, 102; Kudlich, ZWH 2015, 105.
132 Beim Anscheinsbeweis oder prima-facie-Beweis geht es um die Berücksichtigung der allgemeinen Lebenserfahrung durch den Zivilrichter i.R.d. freien Beweiswürdigung, H. Prütting, in: MüKoZPO7, 2025, § 286 Rn. 50.
133 BGH, NStZ 2004, 35; NStZ-RR 2005, 147; 2007, 86; BeckRS 2010, 28737; Eisenberg (Fn. 16), Rn. 104; Henkel, in: FS Schmidt2, 1971, S. 578, 589; Louven, MDR 1970, 295 f.; Julius, in: HK (Fn. 18), § 261 Rn. 9; Sander, in: Löwe/Rosenberg StPO Band 727, 2020, § 261 Rn. 186.
134 Vgl. BGH, StV 1983, 186; Schmidt, in: Strafprozeßordnung I2, 1964, S. 366 f.; Walter, JZ 2006, 340 f.
135 Krehl, NStZ 2015, 101, 102; Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 28; Braun, ZWH 2020, 318, 324 f, 326.
136 Krehl, NStZ 2015, 101 f.
137 Krehl, NStZ 2015, 101.
138 So Krehl, NStZ 2015. 101, 102; Kudlich, ZWH 2015, 105, 106; Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 28; Frank (Fn. 14), S. 278; Frank, NStZ 2019, 44 f.; Braun, ZWH 2020, 318, 324; Ceffinato, ZStW 2016, 804, 806.
139 Rönnau/Becker, JuS 2014, 504, 507 sprechen von einer „bedenklichen Entwicklung“. Zu mögl. Friktionen eines solchen Vorgehens mit dem Zweifelssatz Trüg, HRRS 2015, 106, 115.
140 Ausdruck Krells, der gegensätzlich vom Ermitteln „in die Tiefe“ spricht, NStZ 2014, 686, 687.
141 Vgl. BGH, NStZ 2013, 422, 423 Rn. 17; 2018, 215, 217; BeckRS 2017, 112307 Rn. 24. Zur schriftlichen Zeugenvernehmung Schünemann, in: FS Meyer-Goßner, 2001, S. 385, 389 f.
142 Slawik, in: KK (Fn. 17), § 69 Rn. 4, 5; Ignor/Bertheau, in: Löwe/Rosenberg StPO Band 227, 2017, § 69 Rn. 7; Maier, in MüKoStPO (Fn. 24), § 69 Rn. 8.
143 Schünemann (Fn. 141), S. 385, 390; Maier, in: MüKoStPO (Fn. 24), § 69 Rn. 1; vgl. Krause, in: MAH3, 2022, Teil B, § 7 Rn. 227.
freien Berichts könnte bei der Verwendung von Fragebögen nur gewahrt werden, wenn am Anfang eines jeden Fragebogens die Möglichkeit besteht, dass der Zeuge den gesamten wahrgenommenen Sachverhalt in eigenen Worten schriftlich vorträgt.144 Die gebotene Auswertung einer jeden dieser individuellen Ausführungen würde die verfahrensreduzierende Wirkung des Einsatzes von Fragebögen aufheben. Daneben gebietet das Konfrontationsrecht gem. Art. 6 III lit. d EMRK — insbesondere das daraus folgende Fragerecht gem. § 240 II 1 StPO — der Verteidigung und des Angeklagten, dass Fragen an Zeugen gestellt werden können.145 Dies würde bei der Verwendung von Fragebögen überhaupt nur gewahrt, wenn Verteidigung und Angeklagter zumindest bei der Gestaltung des Fragebogens Berücksichtigung fänden.146 Je individueller die Umstände des Falls aber liegen, desto unwahrscheinlicher scheint es, dem Einzelfall durch einen standardisierten Fragebogen gerecht zu werden.147
b) Durchsetzbarkeit
Um auf diesem Wege ein repräsentatives Bild zu zeichnen, müssten ausreichend viele Adressaten des Fragebogens diesen beantwortet zurücksenden. Um das zu garantieren könnte nur mit einer Vorladung zur staatsanwaltschaftlichen Vernehmung als Zeuge gem. § 161a I StPO „gedroht“ werden. Dies widerspräche mit Blick auf die Zeugenzahlen aber dem Interesse der Staatsanwaltschaft und des Gerichts, die nötigen Vernehmungen zu reduzieren.148 Daneben könnte lediglich auf das eigene Interesse der Befragten an dem Erfolg der Strafverfolgung gehofft werden, was eine kaum verlässliche Strategie wäre.
c) Transfer in die Hauptverhandlung
Ein ausgefüllter Fragebogen enthält eine schriftliche, zu Beweiszwecken abgegebene Äußerung eines Zeugen und stellt damit eine Urkunde i.S.d. § 251 StPO dar.149 Zum Transfer in die Hauptverhandlung ist eine Verlesung notwendig, die nur in den in § 251 I StPO definierten Fällen möglich ist.
§ 251 I Nr. 2 und 3 StPO sind ersichtlich nicht einschlägig und auch § 251 I Nr. 4 StPO hilft an dieser Stelle nicht weiter: Die Vorschrift erlaubt eine Verlesung bezüglich der Höhe des Vermögensschadens. Erkenntnisse zum Vorliegen eines Irrtums dürfen nicht berücksichtigt werden.150 Denkbar ist allein der Fall des § 251 I Nr. 1 StPO, der erfordert, dass Staatsanwaltschaft, Verteidigung und der Angeklagte selbst mit der Verlesung einverstanden sind. Gegen ein Einverständnis der Erstgenannten spricht generell nichts. Doch kommt Verteidigung und Angeklagtem mit dieser „Vetobefugnis“151 ein erheblicher Raum für taktische Erwägungen zu.152 Es widerspräche dem Interesse der Verteidigung und des Angeklagten, einer Verlesung zu deren Ungunsten zuzustimmen, sodass sie ihre Zustimmung so regelmäßig prozesstaktisch verweigern dürften.153 Eine Verlesung in der Hauptverhandlung ist daher im Regelfall unrealistisch.154 Das Selbstleseverfahren gem. § 249 II 2 StPO ist von dem Widerspruch des Angeklagten und des Verteidigers abhängig, sodass insofern die gleichen Praktikabilitätsbedenken gelten.155 Ein adäquater Transfer der Fragebögen in die Hauptverhandlung kann folglich nicht prozessordnungsgemäß erfolgen.156
d) Zwischenergebnis
Rein praktisch erscheint eine Verwendung von Fragebögen zur Irrtumsermittlung bereits ungeeignet.
2. Rechtliche Würdigung
Ungeachtet der praktischen Hürden müsste die Verwendung der mittels Fragebögen gewonnenen Erkenntnisse in der Hauptverhandlung auch rechtlich überzeugen. Hier ist eine Auseinandersetzung mit den Verfahrensprinzipien und -rechten unerlässlich.
Der Unmittelbarkeitsgrundsatz fordert, dass eine Vernehmung nicht ohne Weiteres durch die Verlesung einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden darf (§ 250 StPO).157 Die Verlesung gem. § 251 StPO sowie das Selbstleseverfahren gem. § 249 II StPO als Ausnahmen vom Unmittelbarkeitsgrundsatz helfen an dieser Stelle nicht weiter.158 Die Maxime, dem Personalbeweis grundsätzlich Vorrang einzuräumen, würde durch eine Beweisaufnahme, die sich hauptsächlich auf die Fragebögen aus dem Ermittlungsverfahren stützt, umgangen.
Das sachnächste Beweismittel i.S.d. Amtsaufklärungspflicht läge in der Vernehmung der Geschädigten. Die Qualität einer schriftlichen Vernehmung bleibt tendenziell selbst bei individuellem Zuschnitt hinter der eines leibhaftigen Zeugens in der Hauptverhandlung zurück,159 was erst recht für die Verwendung standardisierter Fragebögen, die wenig Erkenntnisse über den jeweiligen Einzelfall und keine Rückfragen zulassen, gilt. Vor allem, wenn sich die Beweisaufnahme völlig oder hauptsächlich auf diese verlässt, verzichtet sie auf ein erhebliches Maß an punktuell tiefergehender Aufklärung.
Die Bedenken gegenüber dem Beweiswert der Fragebögen finden auch im Kontext des Beweiswürdigungsgrundsatzes Anklang. So könnte ein schriftlicher Fragebogen den Kommunikationsgehalt einer hypothetischen Vernehmung nicht abbilden beziehungsweise ersetzen. Auch könnte dadurch, dass Rückfragen faktisch nicht möglich sind, dem Risiko von Missverständnissen oder Unklarheiten bei der Auswertung
144 Kuhli, StV 2016, 40, 44; Frank (Fn. 14), S. 302.
145 Dazu B. II. 4.
146 Vgl. Krell, NStZ 2014, 686, 688; Kuhli, StV 2016, 40, 44.
147 Ebd.
148 Kuhli, StV 2016, 40, 44.
149 Kuhli, StV 2016, 40, 44 Fn. 50.
150 Vgl. Trück, ZWH 2013, 403, 404; Trüg, HRRS 2015, 106, 114; Kuhli, StV 2016, 40, 44 Fn. 53; Ullenboom, NZWiSt 2018, 317, 318.
151 Velten, in: SK (Fn. 14), § 251 Rn. 15.
152 Kuhli, StV 2016, 40, 44; Hefendehl, in: MüKoStGB (Fn. 7), § 263 Rn. 1270.
153 Trück, ZWH 2013, 404, 405; Trüg, HRRS 2015, 106, 114; Kuhli, StV 2016, 40, 44; Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 27; Peter, StraFo 2019, 186, 188; vgl. Ullenboom, NZWiSt 2018, 317, 318; Frank (Fn. 14), S. 298; Venn, NStZ 2023, 257, 259.
154 Frank (Fn. 14), S. 301 dazu, dass die Zustimmung zu der Verlesung im Rahmen einer Verständigung gem. § 257c StPO zu einem „Trumpf“ der Verteidigung werden könne.
155 Frank (Fn. 14), S. 298 f., 306; Ullenboom, NZWiSt 2018, 317, 318.
156 Das Vernehmen einer mit der Auswertung der Fragebögen betrauten Ermittlungsperson ist bzgl. des Beweiswerts ihrer Aussage auch keine vergleichbare Maßnahme. Dazu BGHSt 1, 373, 376; 17, 382 f.; Tiedemann, JuS 1965, 14 f.; Lesch, JA 1992, 691 f.; Geppert, JURA 1991, 538 f.; Detter, NStZ 2003, 1, 3; Frank (Fn. 14), S. 299; Eisenberg (Fn. 16), Rn. 1033b; Venn, NStZ 2023, 257, 259; Tiemann, in: KK (Fn. 17), § 261 Rn. 99.
157 Vgl. B. II. 3.
158 C. III. 1. c).
159 Schünemann (Fn. 141), S. 385, 389 f., 399; Frank (Fn. 14), S. 303, 304.
der Fragebögen nicht begegnet werden.160 Darüber hinaus würde nicht nur auf den freien Bericht gem. § 69 I StPO verzichtet, sondern dazu noch die Gefahr einer suggestiven Befragung durch die Formulierung der Fragen geschaffen.161 Diesen Bedenken könnte, wenn überhaupt, nur durch eine entsprechend detaillierte und individuelle Gestaltung der Fragebögen begegnet werden, die, wie dargelegt, die Vorteile ihres Einsatzes konterkarierte.
Insbesondere, wenn die Fragebögen nicht als bloße Begleitmaßnahme dienen, spricht so auch Rechtliches gegen ihren Einsatz.162
3. Zwischenergebnis
Das Verwenden von Fragebögen zur Beweiserhebung über den Irrtum kann weder in praktischer noch rechtlicher Hinsicht überzeugen.
IV. Kombinationslösung
Frank, schlägt mit Blick auf die Einwände gegen die einzelnen Ansätze vor, den Einsatz von Fragebögen, die an alle Geschädigten gerichtet sind, mit einem Indizienschluss aufgrund der Vernehmung einiger Zeugen zu kombinieren.163 Dabei soll durch die Fragebögen die notwendige Ermittlung „in die Breite“ gewährleistet und so die dargelegte Schwäche des Indizienschlusses hinsichtlich der Amtsaufklärungspflicht bewältigt werden. Der Indizienschluss aufgrund der Vernehmung einiger Zeugen soll für die nötige Ermittlung „in die Tiefe“ sorgen.164
Für sich hat dieser Ansatz, dass er in der Theorie den Einwand der Selektivität gegenüber dem Indizienschluss entkräften kann.165 Doch in der Praxis ist er demselben Problem ausgesetzt, wie eine isolierte Verwendung von Fragebögen: Eine Verlesung in der Hauptverhandlung ist nur mit Zustimmung aller Verfahrensbeteiligten realisierbar, an der es regelmäßig fehlen wird. De lege lata führt dieser Ansatz so nicht weiter.166
V. Zweifelssatz
Ein umfassender Beweis des Irrtums und damit der Vollendung ohne Friktionen mit der aktuellen Gesetzeslage scheint nicht möglich. Aus diesem Grund wird eine Bestrafung des Angeklagten in dubio ausschließlich wegen Versuchs vorgeschlagen.167 Das Vorgehen hätte in prozessökonomischer Hinsicht die gleichen Vorteile für sich, wie eine qualitative Beschränkung gem. §§ 154, 154a StPO (analog).168
1. Grundsatz
Der Grundsatz in dubio pro reo ist gesetzlich nicht ausdrücklich normiert, gleichwohl als verfassungsrechtliches Prinzip allgemein anerkannt.169 Er besagt, dass sich jeder nach Ausschöpfung aller Beweismittel nicht behebbare Zweifel an einer für die Entscheidung erheblichen Tatsache zugunsten des Angeklagten auswirken muss,170 sodass der Angeklagte im Ergebnis nur für das bestraft werden darf, was ihm tatsächlich nachgewiesen werden kann.
Der Zweifelssatz ist dabei eine Entscheidungs-, nicht Beweisregel, was bedeutet, dass seine Anwendung nur nach abgeschlossener Beweiswürdigung möglich ist.171 Er ist nicht auf einzelne Elemente der Beweiserhebung beziehungsweise -würdigung anzuwenden.172 Das Gericht bleibt gem. § 244 II StPO zur Sachverhaltsaufklärung verpflichtet und kann sich nicht von vornherein auf den Zweifelssatz berufen.173 Die hier in Rede stehenden Konstellationen zeichnen sich aber dadurch aus, dass sich das Gericht in eine Beweiserhebung über die Vollendung gar nicht erst begeben möchte, was mit diesen Grundsätzen nicht vereinbar ist.
2. Extensive Auslegung
Aus diesem Grund sei eine extensive Auslegung des Zweifelssatzes angezeigt.174
Dafür wird argumentiert, dass das Gericht in Fällen, in denen es aus prozessökonomischen Gründen faktisch daran gehindert ist, eine erschöpfende Beweiserhebung vorzunehmen, genauso in dubio entscheiden können müsse wie in Fällen, in denen nach abgeschlossener Beweiserhebung keine zweifelsfreie Überzeugung erlangt wird.175 Daneben wird eine Fiktion der gleichsamen Unerreichbarkeit aller vernehmbaren Zeugen i.S.d. § 244 III 3 Nr. 5 StPO bemüht: Es wird argumentiert, dass jeder einzelne Zeuge theoretisch der Letzte in der Vernehmungsreihenfolge sei, sodass dieser zwar nicht isoliert, aber im Blick auf die Gesamtzahl aller potenziell zu vernehmenden Zeugen „gleichsam unerreichbar“ sei. Es müsse neben den ansonsten allesamt abzulehnenden Lösungsansätzen eine Möglichkeit des Gerichts verbleiben, den Verfahrensstoff zu reduzieren.176 Der Weg über eine Ausweitung des Zweifelssatzes sei dabei der „ehrlichste“, weil er einen transparenten Umgang der Rechtsordnung mit ihren eigenen Grenzen ermögliche.177 Bei einer Beschränkung des Verfahrens sei immer auch die Bedeutung der in Rede stehenden Straftat zu berücksichtigen. Im Fall des
160 Schünemann (Fn. 141), S. 385, 389; Kuhli, StV 2016, 40, 43; Frank (Fn. 14), S. 305.
161 Nickolai, in: Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts6, 2025, 26. Kapitel Rn. 91.
162 Vgl. zum Frage- und Konfrontationsrecht C. III. 1. a). Zur mögl. wirtschaftlichen Unverhältnismäßigkeit anhand BGHSt 59, 195 Frank (Fn. 14), S. 301.
163 Frank (Fn. 14), S. 321 f.
164 Frank (Fn. 14), S. 321.
165 Hefendehl, in: MüKoStGB (Fn. 7), § 263 Rn. 1273.
166 Frank übersieht dies nicht, sondern schlägt vor, Fragebögen für Massenverfahren in § 251 StPO aufzunehmen oder alternativ das Regelungssystem der §§ 250 ff. StPO in Gänze zu reformieren, Frank (Fn. 14), S. 329 ff., 354.
167 Kuhli, StV 2016, 40, 47 f.; Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 16, 23 f.; Braun, ZWH 2020, 318, 326. Vgl. auch die BGH, NStZ 2013, 422 zugrundeliegende Entscheidung: Das Verfahren wurde ohne Zustimmung der StA auf den Versuch beschränkt, was die Deutung zulässt, das Tatgericht habe das Verfahren nicht fehlerhaft über §§ 154 f. StPO beschränken wollen, sondern den Zweifelssatz auf die Vollendungsstrafbarkeit angewandt. Der BGH hat diesem Vorgehen eine Absage erteilt, die Revision aber mangels Beschwer des Angeklagten zurückgewiesen.
168 Dazu C. I. 1.
169 BVerfG, MDR 1975, 468; NJW 1988, 477.
170 Tiemann, in: KK (Fn. 17), § 261 Rn. 63.
171 BVerfG, NJW 1988, 477; BeckRS 2008, 42275 Rn. 15; BGH, NStZ 2009, 630, 631; 2010, 102, 103; 2012, 171; NStZ-RR 2007, 43, 44; Tiemann, in: KK (Fn. 17), § 261 Rn. 63; Miebach, in: MüKoStPO (Fn. 16), § 261 Rn. 358; Schmitt, in: Meyer-Goßner (Fn. 14), § 261 Rn. 26; Rönnau/Saathoff, JuS 2023, 537, 538; a.A. Hoyer, ZStW 1993, 523, 553.
172 BGHSt 49, 112, 122 f.; BGH, NJW 2005, 2322, 2324; NStZ 2006, 650, 651; 2012, 171; NStZ-RR 2013, 20; Dietmeier, ZIS 2008, 101, 103; Schmitt, in: Meyer-Goßner (Fn. 14), § 261 Rn. 26.
173 Rönnau/Saathoff, JuS 2023, 537. 538.
174 Kuhli, StV 2016, 40, 47 f.; Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 23.
175 Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 25.
176 Kuhli, StV 2016, 40, 47; Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 25.
177 Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 25, 29.
Serienbetrugs sei das verwirklichte Handlungsunrecht deutlich gewichtiger als das wohlmöglich dazu tretende Erfolgsunrecht, sodass eine Beschränkung gerechtfertigt sei.178
Dieses Vorgehen wird der Amtsaufklärungspflicht nicht gerecht: Es leuchtet nicht ein, warum gerade der „soundsovielte“ Zeuge der letzte zu vernehmende sein soll.179 Mag auch ein Vernehmen aller möglichen Zeugen im Einzelfall unerreichbar sein, ist es jedenfalls immer möglich, zumindest einige Zeugen zu vernehmen, was § 244 II StPO dann auch gebietet. Denn das Gericht ist verpflichtet, den Sachverhalt bestmöglich, umfassend und tiefgehend aufzuklären, soweit es existente Beweismittel und eine rechtmäßige Beweiserhebung zulassen.180 Durch diese nicht angezeigte Auslegung des Zweifelssatzes „auf halbem Wege stehenzubleiben“,181 obwohl eine Vollendungsstrafbarkeit gegeben sein könnte, überzeugt nicht.182
3. Zwischenergebnis
Der Zweifelssatz ist grundsätzlich nicht auf die Beweiserhebung anwendbar und kann auch nicht auf überzeugende Weise extensiv ausgelegt werden. Ein generelles Vorgehen anhand dieses Lösungsansatzes scheidet mithin ebenfalls aus.
VI. Zwischenergebnis
Die dargestellten Lösungsansätze können entweder nur für einzelne Serienbetrugsfälle nutzbar gemacht werden oder sind mit dem aktuellen Verfassungs- beziehungsweise Strafprozessrecht unvereinbar.
D. Summa und Ausblick
Die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit werden für einen Ausblick noch einmal zusammenfassend dargestellt.
I. Beschränkung des Verfahrensstoffes
Eine Beschränkung des Verfahrensstoffes gem. §§ 154, 154a StPO ist tatbestandlich weder in qualitativer Hinsicht auf die Versuchsstrafbarkeit noch in quantitativer Hinsicht auf einige „stellvertretende Fälle“ denkbar. Gem. § 154a StPO analog kommt eine qualitative Beschränkung nur in Einzelfällen, die der historische Gesetzgeber nicht vorhergesehen hat, in Betracht.
II. Indizienschlüsse
Das Verfahren, anhand von Indizienschlüssen auf ein sachgedankliches Mitbewusstsein zu schließen, kann nicht prozessordnungs- und verfassungsgemäß erfolgen. Es konfligiert insbesondere mit §§ 244 II, 261 StPO und Art. 103 II GG.
III. Fragebögen
Der Einsatz von Fragebögen zur Beweiserhebung über den Irrtum scheitert in praktischer Hinsicht insbesondere daran, dass die Verteidigung und der Angeklagte einer Verlesung in der Hauptverhandlung gem. § 251 I Nr. 1 StPO zustimmen müssen. In rechtlicher Hinsicht stößt sich dieses Vorgehen insbesondere am Unmittelbarkeits-, Amtsaufklärungs- und Beweiswürdigungsgrundsatz.
IV. Kombinationslösung
Auch eine Kombination aus Indizienschluss und Fragebogeneinsatz scheitert in der Umsetzung jedenfalls an dem Zustimmungserfordernis des § 251 I Nr. 1 StPO.
V. Zweifelssatz
Der Zweifelssatz ist grundsätzlich nicht auf die Beweiserhebung anwendbar und kann auch nicht auf überzeugende Weise extensiv ausgelegt werden.
VI. Ausblick
De lege lata gibt es bezüglich der Irrtumsfrage beim Serienbetrug keine zufriedenstellenden beziehungsweise umfassenden Lösungen.183 Der technologische Fortschritt legt nahe, dass Serienbetrüger ihre Reichweite zukünftig immer effizienter steigern werden, weshalb die Judikative einen gangbaren Umgang finden muss.184 Hierbei muss das oberste Ziel sein, den Weg der geringsten rechtsstaatlichen Friktionen zu gehen.
Die qualitative Beschränkung des Verfahrens auf die Versuchsstrafbarkeit erweist sich insoweit als wirksamer Ansatz. Unter den vorgestellten Möglichkeiten zeigt eine analoge Anwendung § 154a StPO, dass in Einzelfällen eine Lösung möglich ist.185 Die Fälle, die der historischen Gesetzgeber nicht vorhergesehen hat, könnten durch Maßnahmen de lege ferenda ausgeglichen werden. Eine Möglichkeit wäre, die Beschränkung des Verfahrens auf den Versuch in § 154a StPO explizit aufzunehmen, um eine direkte Subsumtion zu ermöglichen. Dies würde, insbesondere durch die nur fakultative Strafmilderung gem. § 23 II StGB, eine rechtliche Grundlage schaffen, um derartige Fälle angemessen und effizient behandeln zu können und so dazu beitragen, eine bessere Balance zwischen rechtlichen Erfordernissen und praktischer Umsetzbarkeit zu erreichen.186
So könnte mit verhältnismäßigem Aufwand für Rechtssicherheit gesorgt werden und der Rechtsstaat gegenüber Serienbetrugstaten langfristig resilient bleiben. Die Konsequenz aus der aktuellen Lage darf jedenfalls nicht sein, sich mit geringeren Anforderungen an das Strafverfahren zufrieden zu geben und so vor Serienbetrugstaten rechtsstaatlich zu kapitulieren.
178 Kuhli, StV 2016, 40, 48. So argumentiert der BGH, wenn er die absolute Mehrheit der Fälle lediglich wegen Versuchs bestraft, den Vorsatz bezüglich einer hohen Vollendungszahl aber strafschärfend berücksichtigt (BGH, NStZ 2015, 98, 100 Rn. 26). Zu dieser „Strafzumessungslösung“ knapp und gleichwohl krit. Trüg, HRRS 2015, 106, 111, 113.
179 Frank (Fn. 14), S. 140. Hierzu vertieft Beulke/Berghäuser (Fn. 45), S. 13, 26; Venn, NStZ 2023, 257, 263; Becker, in: Löwe/Rosenberg StPO Band 627, 2020, § 244 Rn. 246; Güntge, in: Alsberg, Der Beweisantrag8, 2021, Rn. 1210; vgl. auch Ullenboom, NZWiSt 2018, 317, 320.
180 Dallmeyer, in: Alsberg (Fn. 179), Rn. 47; Schmitt, in: Meyer-Goßner (Fn. 14), § 244 Rn. 11; Trüg, HRRS 2015, 106, 113.
181 Trüg, HRRS 2015, 106, 113.
182 Trück, ZWH 2013, 404, 405.
183 I.E. Braun, ZWH 2020, 318, 325; Hefendehl, in: MüKoStGB (Fn. 7), § 263 Rn. 1274.
184 Zum uneinheitlichen Meinungsbild der BGH-Senate Kudlich, ZWH 105, 106.
185 C. I. 1. b).
186 Dazu Krell, NStZ 2014, 686, 688. Aus Kapazitätsgründen sei auf andere Vorschläge de lege ferenda — die Schaffung eines Eignungsdelikts ( Trüg, HRRS 2015, 106, 116), die Aufnahme der Verwendung von Fragebögen in Massenverfahren in den Katalog des § 251 StPO oder alternativ eine Reform des Regelungssystems der §§ 250 ff. StPO in Gänze, ( Frank (Fn. 14), S. 329 f., 354) — nur verwiesen. Dazu Hefendehl, in: MüKoStGB (Fn. 7), § 263 Rn. 1267 f.
