Der Begriff des natürlichen Willens im Zusammenhang mit ärztlichen Zwangsmaßnahmen gegenüber Betreuten

Johann Seidel*

A. Einleitung1

2013 wurde der Begriff des natürlichen Willens im Zusammenhang mit ärztlichen Zwangsmaßnahmen gegenüber Betreuten in § 1906 III 1 a.F.2 aufgenommen. Seit 2017 findet er sich stattdessen in § 1906a I 1.3 Die Einführung des Begriffs des natürlichen Willens zum Anlass nehmend konstatierte Beckmann, dass „sich der ‚natürliche Wille‘ […] in Ansehung sachlicher Kriterien als ein höchst […] überflüssiges Rechtskonstrukt [erweist]“4.5 Die Aufnahme des natürlichen Willens in den Gesetzestext und die diesbezügliche Kritik bieten Anlass zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem natürlichen Willen. Daher werden folgend Definition und Funktion des natürlichen Willens dargestellt (B. I.; C. I.), ihre Entwicklungen untersucht (B. II.; C. II.) und eine der Definition zugrunde liegende Willensvorstellung sowie eine der Funktion zugrunde liegende Autonomievorstellung erarbeitet (B. III.; C. III.).6 Abschließend werden die Ergebnisse in einem Fazit zusammengeführt (D.).

Die Untersuchung der Entwicklungen der Definition und Funktion des natürlichen Willens rechtfertigt sich dadurch, dass die Entwicklungen nicht nur Entscheidungen für, sondern auch gegen etwas widerspiegeln. Ebendarum ermöglicht die Untersuchung ein tiefgehendes Verständnis dessen, was Definition und Funktion des natürlichen Willens nicht sind, und darüber ein besseres Verständnis dessen, was sie sind.7 Aus der Erarbeitung einer der Definition bzw. Funktion zugrunde liegenden Willens- bzw. Autonomievorstellung soll keine Vorstellung resultieren, die die Definition bzw. Funktion bedingt hat, sondern eine Vorstellung, die die Definition bzw. Funktion bedingt haben könnte. Vorstellung und Definition bzw. Funktion unterscheiden sich dabei nur bez. des Abstraktionsgrades. Der höhere Abstraktionsgrad der Vorstellungen soll ein tiefgehendes Verständnis des natürlichen Willens ermöglichen.8 Das Ziel der Auseinandersetzung mit dem natürlichen Willen ist, dessen begriffliche Durchdringung zu fördern.9

B. Definition und Willensvorstellung

I. Definition

Der natürliche Wille wird als nicht von Einsichts- und/oder10 Steuerungsfähigkeit getragen definiert.11 Einsichtsfähigkeit ist die Fähigkeit, „Art, Bedeutung und Tragweite […] der Maßnahme“12 erfassen zu können.13 Steuerungsfähigkeit


* Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.

1 §§ ohne Bezeichnung sind solche des BGB. Männliche Wortformen umfassen folgend alle Geschlechter.

2 § 1906 III 1 a.F.: „Widerspricht eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 Nummer 2 dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), so kann der Betreuer in sie nur einwilligen, wenn […]“.

3 Der Begriff des natürlichen Willens findet sich seit 2017 zudem in § 1906a IV.

4 Beckmann, JuristenZeitung (JZ) 2013, 604, 608.

5 Beckmann differenziert zwischen Begriff und Rechtskonstrukt des natürlichen Willens. Dabei versteht er den Begriff als vom Rechtskonstrukt zu differenzierende Bezeichnung des Rechtskonstrukts; vgl. Beckmann, JZ 2013, 604, 606. Folgend wird nicht an dieser Differenzierung festgehalten: Der Begriff des natürlichen Willens und der synonym verwendete natürliche Wille erfassen die Bezeichnung des Rechtskonstrukts und das Rechtskonstrukt. Der Begriff des natürlichen Willens meint folgend nur den Begriff, der im Zusammenhang mit dem ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber Betreuten regelnden Recht, den §§ 1904, 1905, 1906a, genutzt wird. Die verwandten Problematiken der ärztlichen Zwangsmaßnahme gegenüber Minderjährigen; vgl. Hoffmann, Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2016, 242; und der Widerruflichkeit einer Patientenverfügung; vgl. Coeppicus, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2011, 2085, 2089–2090; Jox/Ach/Schöne-Seifert, Deutsches Ärzteblatt (DÄbl) 2014, 394; Lindner/Huber, NJW 2017, 6; Steenbreker, NJW 2012, 3207, 3209–3211; werden ausgeklammert. Der Begriff des natürlichen Willens wird als normativer Begriff, der von etwaigen naturwissenschaftlichen Willensvorstellungen unabhängig ist, verstanden; ähnlich Hillenkamp, JZ 2015, 391; Lindemann, Recht und Neurowissenschaften, in: Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts3, 2017, § 13 Rn. 21; Lipp, Freiheit und Fürsorge: Der Mensch als Rechtsperson1, 2000, S. 44. Natur- und rechtswissenschaftliche Begriffe können weder identisch sein noch sich widersprechen; Kelsen, Reine Rechtslehre, Studienausgabe der 2. Auflage 19601, 2017, S. 190; Radbruch, Rechtsphilosophie, Studienausgabe2, 2003, S. 13–16. Bez. einer Darstellung naturwissenschaftlicher Willensvorstellungen vgl. Effer-Uhe/Mohnert, Psychologie für Juristen1, 2019, § 15 Rn. 505–510; Koch, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (ARSP) 2006, 223, 226–233; Mankowski, Archiv für die civilistische Praxis (AcP) 2011, 153, 161–173. Bez. einer Verknüpfung natur- und rechtswissenschaftlicher Willensvorstellungen vgl. Cording/Roth, NJW 2015, 26; Mankowski, AcP 2011, 153; Reinelt, NJW 2004, 2792; Schiemann, NJW 2004, 2056; W. Seidel, Neue Juristische Online-Zeitschrift (NJOZ) 2009, 2106. Die Frage, ob ein Begriff, der kein natürliches Zurechnungsphänomen kennt und damit konzeptionell offen ist, das Wort „natürlich“ beinhalten sollte, wird ausgeklammert; vgl. Bumke, Autonomie im Recht, in: Bumke/Röthel (Hrsg.), Autonomie im Recht1, 2017, S. 17 bez. konzeptioneller Offenheit.

6 Die Definition beschreibt das, was der natürliche Wille ist. Die Funktion beschreibt die Einbettung des natürlichen Willens in die §§ 1904, 1905, 1906a in (allein) entscheidungserheblicher Form; s. Fn. 81 bez. des Begriffs der Entscheidungserheblichkeit. Definition und Funktion lassen sich nicht strikt voneinander trennen. Z.B. wird ein Begriff i.d.R. definiert, wenn die ihm zugedachte Funktion entwickelt wird. Mithin entstehen Definition und Funktion i.d.R. nebeneinander und sich gegenseitig bedingend; s. C. II.

7 Vgl. Röthel, Forschungsgespräch über Autonomie im Recht – Ausgangsbedingungen, Typizitäten, Lehren, in: Bumke/Röthel (Hrsg.), Autonomie im Recht1, 2017, S. 60 bez. des Erklärwertes einer Rückschau; vgl. Seelmann/Demko, Rechtsphilosophie6, 2014, § 1 Rn. 1, die wegen ähnlicher Erwägungen die Beantwortung der Frage, was Recht ist, mit Kritik des Rechts und Alternativen zum Recht beginnen.

8 Vgl. Bumke (Fn. 5), S. 21 bez. der Abstraktion als verständnisförderndem Moment.

9 Vgl. Kischel, Rechtsvergleichung1, 2015, § 6 Rn. 58–64 bez. der Vorteile begrifflicher Durchdringung des Rechts.

10 Vgl. Fn. 15.

11 Brilla, in: Gsell et al. (Hrsg.), Beck’scher Online-Großkommentar, BGB, Stand: 15.7.2020, § 1904 Rn. 26, § 1906a Rn. 17; BT-Drs. 15/2494, S. 28; Dodegge, NJW 2013, 1265, 1266; Götz, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (FamRZ) 2017, 413, 414; Neuner, AcP 2018, 1, 15.

12 BT-Drs. 11/4528, S. 71.

13 Kurze, in: Burandt/Rojahn (Hrsg.), Beck’scher Kurz-Kommentar, Erbrecht3, 2019, § 1901b Rn. 13; Schneider, in: Säcker et al. (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, Bd. X8, 2020, § 1896 Rn. 30; vgl. Schweitzer, FamRZ 1996, 1317, 1320, der kritisiert, die Definition suggeriere, dass ein allgemeines Wertesystem statt eines subjektiven Wertesystems maßgeblich sei; vgl. Brilla, in: BeckOGKBGB (Fn. 11), § 1904 Rn. 43; Sturm, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht1, 2016, S. 16 bez. dessen, dass ein subjektives Wertesystem maßgeblich ist.

Seidel, Der Begriff des natürlichen Willens, BLJ 2/2020, 162-168163

ist die Fähigkeit, den Willen nach der erlangten Einsicht bestimmen zu können.14 Eine einsichts- und/oder15 steuerungsunfähige Person ist einwilligungsunfähig.16

II. Entwicklung des Einwilligungserfordernisses und der Definition

Es ist verständnisfördernd, die Entwicklung des Einwilligungserfordernisses im Zusammenhang mit ärztlichen Maßnahmen (B. II. 1.) vor der Entwicklung der Definition des natürlichen Willens (B. II. 2.) zu behandeln.

1. Entwicklung des Einwilligungserfordernisses

1894 löste sich das RG im Strafrecht von der Berufsrechtstheorie.17 Es urteilte, dass eine ärztliche Maßnahme nur dann rechtmäßig ist, wenn der Patient eingewilligt hat.18 Damit wurde die ärztliche Maßnahme als tatbestandliche Körperverletzung eingestuft.19 1907 übertrug das RG diesen Ansatz auf das Zivilrecht20, woran es auch während des Nationalsozialismus‘ festhielt21. In der Folgezeit wurde das Einwilligungserfordernis durch den BGH gestärkt. Zunächst dadurch, dass er urteilte, dass sich „niemand […] zum Richter in der Frage aufwerfen [darf], unter welchen Umständen ein anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine körperliche Unversehrtheit zu opfern, um dadurch wieder gesund zu werden“22. Und anschließend dadurch, dass er urteilte, dass das Einwilligungserfordernis nicht entfällt, wenn der Patient selbst mangels „Willensfähigkeit“23 nicht einwilligen kann.24 In diesen Fällen sei die Einwilligung „von demjenigen zu erteilen, der an Stelle des Kranken nach entspr. Belehrung zu entscheiden hat, ob der Eingriff durchgeführt werden soll“25. Die Genese des Einwilligungserfordernisses durch die Rechtsprechung eröffnete die Diskussion darum, unter welchen Umständen eine Person einwilligungsfähig ist.26

Der „Rechtswille des Kranken“27, auf dem die Einwilligung beruhen musste, wurde zunächst mit dem Willen des Geschäftsfähigen gleichgesetzt. Einwilligungs- und Geschäftsfähigkeit waren identisch.28 1953 begann im Strafrecht die Emanzipation der Einwilligungs- von der Geschäftsfähigkeit.29 Nachfolgend wurde die strafrechtliche Entwicklung unter Verweis auf die Notwendigkeit der Einheit der Rechtsordnung durch das OLG München auf das Zivilrecht übertragen.30 Dem schloss sich 1958 der BGH an.31 Demgemäß wurde die Einwilligungsfähigkeit auch im Zivilrecht von der Geschäftsfähigkeit emanzipiert und als selbstständige Kategorie anerkannt.32 Hierbei ist es bis heute geblieben.33

Zunächst wurde die Einwilligungsfähigkeit dergestalt definiert, dass sie „eine zutreffende Vorstellung von der Tragweite […] [der] Erklärung“34 voraussetzt, was gegeben ist, wenn der Patient „das Wesen, die Bedeutung und die Tragweite des ärztlichen Eingriffs in seinen Grundzügen erkannt [hat]“35. Dieses kognitive Element der Einwilligungsfähigkeit wurde Einsichtsfähigkeit genannt.36 1961 wurde der Einsichtsfähigkeit ein voluntatives Element zur Seite gestellt, das als „die Fähigkeit, das Handeln nach […] [der] Einsicht zu bestimmen“37 definiert wurde.38 Dieses Element wurde zunächst als Entschließungsfähigkeit bezeichnet.39 1989 wurde es vom Gesetzgeber in Steuerungsfähigkeit umbenannt.40 Kurz darauf schloss sich die Rechtsprechung der Umbenennung der Entschließungs- in


14 BT-Drs. 11/4528, S. 71; Dodegge, NJW 2009, 2727, 2729; Marschner, in: Jürgens (Hrsg.), Betreuungsrecht Kommentar6, 2019, § 1906 Rn. 22; Schneider, in: MüKoBGB (Fn. 13), § 1896 Rn. 31.

15 Die und/oder-Formulierung ist unpräzise. Sie wird dennoch der Übersichtlichkeit halber genutzt. Richtigerweise sind nur die einsichts- und steuerungsunfähige und die einsichtsfähige, aber steuerungsunfähige Person eiwilligungsunfähig. Die ebenfalls von der Formulierung erfasste einsichtsunfähige, aber steuerungsfähige Person gibt es nicht.

16 Dodegge, NJW 2006, 1627, 1628; Götz, FamRZ 2017, 413, 414; Kurze, in: Burandt/Rojahn (Fn. 13), § 1901b Rn. 13; Marschner, in: Jürgens (Fn. 14), § 1904 Rn. 10; Schmidt-Recla, in: Gsell et al. (Hrsg.), Beck’scher Online-Großkommentar, BGB, Stand: 1.7.2020, § 1896 Rn. 133 (dortige Fn. 521); Spickhoff, FamRZ 2017, 1633, 1636. Im Zusammenhang mit der Einwilligung kommt der Aufklärung großes Gewicht zu. Die diesbezüglichen Problematiken werden ausgeklammert; vgl. Bumke (Fn. 5), S. 26; Röthel, AcP 2011, 196, 218 bez. dessen, dass Aufklärungspflichten in die äußere Autonomie eingreifen, aber die innere Autonomie stärken; s. C. III. bez. der Begriffe der inneren und äußeren Autonomie.

17 Vgl. RGSt 25, 375, 377–389; vgl. Brilla, in: BeckOGKBGB (Fn. 11), § 1906a Rn. 3.1; Ohly, „Volenti non fit iniuria“ – Die Einwilligung im Privatrecht1, 2002, S. 238–239 bez. der Berufsrechtstheorie.

18 Vgl. RGSt 25, 375, 377–389.

19 Joecks (Hardtung), in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Bd. IV3, 2017, § 223 Rn. 46; Ohly (Fn. 17), S. 39; Paeffgen/Zabel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, StGB, Bd. II5, 2017, § 228 Rn. 56; Sturm (Fn. 13), S. 174; vgl. Joecks (Hardtung), in: MüKoStGB (Fn. 19), § 223 Rn. 45–55 bez. der Ansichten zu dieser bis dato im strafrechtlichen Schrifttum str. Rechtsprechung.

20 Vgl. RG, Juristische Wochenschrift (JW) 1907, 505; bestätigt durch RGZ 88, 433, 436; vgl. Ohly (Fn. 17), S. 39, 238–239 bez. dieser Rechtsprechung.

21 Vgl. RGZ 151, 349; 163, 129; 168, 206; vgl. Ohly, (Fn. 17), S. 239 bez. dieser Rechtsprechung.

22 BGH, NJW 1958, 267, 268; ähnlich BGH, NJW 1956, 1106, 1107.

23 BGH, NJW 1959, 811 (2), 812. Willensfähigkeit meint die damalige Einwilligungsfähigkeit. Auf NJW 1959, 811 beginnen zwei Urteile. Das Urteil vom 5.12.1958 wird als BGH, NJW 1959, 811 (1), das vom 9.12.1958 als BGH, NJW 1959, 811 (2) zitiert.

24 Vgl. ebd., 812.

25 Ebd., 812.

26 Ähnlich Brilla, in: BeckOGKBGB (Fn. 11), § 1906a Rn. 3.1.

27 RGZ 88, 433, 436.

28 Ohly (Fn. 17), S. 35–38.

29 Vgl. BGH, NJW 1953, 912.

30 Vgl. OLG München, NJW 1958, 633, 643.

31 Vgl. BGH, NJW 1959, 811 (1), 811.

32 Ohly (Fn. 17), S. 42.

33 Vgl. Bienwald, Familie Partnerschaft Recht (FPR) 2012, 4, 5; Brilla, in: BeckOGKBGB (Fn. 11), § 1904 Rn. 28; Dodegge, NJW 2006, 1627, 1628; Ernst/Heitmann, in: Kaiser et al. (Hrsg.), Nomos Kommentar, BGB, Bd. IV3, 2014, § 1904 Rn. 5; Kern, NJW 1994, 753, 755; Marsch\-ner, in: Jürgens (Fn. 14), § 1904 Rn. 10, die zwischen Einwilligungs- und Geschäftsfähigkeit differenzieren; abw. BayObLGZ 1990, 46, 49; Schneider, in: MüKoBGB (Fn. 13), § 1904 Rn. 16, die Einwilligungs- und partielle Geschäftsfähigkeit gleichsetzen, wobei das BayObLG seit BayObLG, Beck-Rechtsprechung (BeckRS) 1994, 7750 ebenfalls zwischen Einwilligungs- und Geschäftsfähigkeit differenziert.

34 BGH, NJW 1953, 912.

35 BGH, NJW 1956, 1106.

36 Vgl. OLG München, NJW 1958, 633, 634.

37 BGH, Verwaltungsrechtsprechung (VerwRspr) 1962, 70, 72.

38 Vgl. Neuner, AcP 2018, 1, 24; Schweitzer, FamRZ 1996, 1317, 1320 bez. der Bezeichnung der Einsichtsfähigkeit als kognitivem und der der Steuerungsfähigkeit als voluntativem Element.

39 Vgl. BGH, NJW 1964, 1177, 1178.

40 Vgl. BT-Drs. 11/4528, S. 71.

Seidel, Der Begriff des natürlichen Willens, BLJ 2/2020, 162-168164

Steuerungsfähigkeit an.41 Sohin wird die Einwilligungsfähigkeit bereits seit 1961 durch das kognitive Element der Einsichtsfähigkeit und das voluntative Element der Steuerungsfähigkeit definiert.42

Die Einwilligungsfähigkeit unterscheidet sich von der Geschäftsfähigkeit, indem sie einer i.R.d. § 104 Nr. 2 abgelehnten partiell-relativen43 Geschäftsfähigkeit entspricht.44 Eine Person kann z.B. bez. einer ärztlichen Maßnahme einwilligungsfähig sein und bez. einer anderen nicht.45 Ein Abstellen auf die Geschäftsfähigkeit ließe demgegenüber nur zu, dass die Person für alle ärztlichen Maßnahmen oder für keine ärztliche Maßnahme geschäftsfähig ist.

2. Entwicklung der Definition

1960 schrieb das BVerfG im Zusammenhang mit der Unterbringung psychisch Kranker von dem „tatsächliche[n], natürliche[n] Wille[n]“46 des Kranken. Da 1956 der Wille des Einwilligungsfähigen in Abgrenzung zum rechtsgeschäftlichen Willen des Geschäftsfähigen als tatsächlicher Wille beschrieben wurde47, liegt es nahe, den „tatsächliche[n], natürliche[n] Wille[n]“48 mit dem Willen des Einwilligungsfähigen gleichzusetzen49. Hierfür spricht überdies, dass das BVerfG wie zuvor das OLG München zwischen dem „natürlichen […] Willen des Gewaltunterworfenen“50 und dem „‚rechtlich erhebliche[n]‘ Wille[n] des Gewalthabers“51 differenzierte. 1961 bezeichnete der BGH die der Einwilligungsfähigkeit zugrunde liegende Einsichtsfähigkeit als natürliche Einsichtsfähigkeit.52 Da das BVerfG den Willen des Einwilligungsfähigen als natürlichen Willen bezeichnete, ist nachvollziehbar, dass der BGH die der Einwilligungsfähigkeit zugrunde liegende Einsichtsfähigkeit als natürliche Einsichtsfähigkeit bezeichnete.53

1981 begann ein elementarer Wandel der Definition des natürlichen Willens. Das BVerfG stellte, abermals im Zusammenhang mit der Unterbringung psychisch Kranker, fest, dass „auch dem psychisch Kranken in gewissen Grenzen die ‚Freiheit zur Krankheit‘ belassen bleibt“54. Der psychisch Kranke wurde in diesem Zusammenhang als einwilligungsunfähig charakterisiert.55 Damit wurde dem eine ärztliche Maßnahme ablehnenden Willen des Einwilligungsunfähigen erstmals Relevanz beigemessen. 1989 erhielt dieser Wille vom Gesetzgeber mit den Worten, „unter Wille [sic] ist hier der ‚natürliche‘ Wille zu verstehen, auch wenn dieser Wille nicht von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit getragen wird“56, einen Namen. Der natürliche Wille wandelte sich somit vom Willen des Einwilligungsfähigen zum Willen des Einwilligungsunfähigen.57 Die Rechtsprechung schloss sich der vom Gesetzgeber vorgegebenen neuen Definition des natürlichen Willens an.58 Die Definition des natürlichen Willens als Wille des Einwilligungsunfähigen und damit Einsichts- und/oder Steuerungsunfähigen ist bis heute unverändert.59 Der vormals als natürlicher Wille bezeichnete Wille des Einwilligungsfähigen wird heute freier Wille genannt.60

III. Der Definition zugrunde liegende Willensvorstellung

Die Erarbeitung der der Definition des natürlichen Willens zugrunde liegenden Willensvorstellung geht von der Willensvorstellung Frankfurts61 (B. III. 1.) aus.62 Anschließend


41 Vgl. LG Berlin, BeckRS 1992, 00081.

42 Zusätzlich wurde ein drittes Element, die Urteilskraft, eingeführt; vgl. BGH, NJW 1953, 912; BGH, VerwRspr 1962, 70, 72; BGH, NJW 1964, 1177, 1178. Teilweise wird sie weiterhin als Element der Einwilligungsfähigkeit gesehen; vgl. Brilla, in: BeckOGKBGB (Fn. 11), § 1904 Rn. 37; Wagner, in: Säcker et al. (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, Bd. V8, 2020, § 630d Rn. 21. Folgend umfasst die Einsichtsfähigkeit die Urteilskraft; vgl. Beetz, in: Deinert/Welti (Hrsg.), Stichwortkommentar, Behindertenrecht2, 2018, Geschäftsfähigkeit Rn. 2; BT-Drs. 11/4528, S. 71; Lugani, NJW 2020, 1330; Marschner, in: Jürgens (Fn. 14), § 1904 Rn. 10; Schmidt-Recla, in: BeckOGKBGB (Fn. 16), § 1896 Rn. 133 (dortige Fn. 521); Schneider, in: MüKoBGB (Fn. 13), § 1906a Rn. 19; Spickhoff, FamRZ 2017, 1633, 1636; Wagner, in: MüKoBGB (Fn. 42), § 630d Rn. 21 bez. der heutigen Definitionen der Einwilligungs-, Einsichts- und Steuerungsfähigkeit.

43 Vgl. Beetz, in: Deinert/Welti (Fn. 42), Geschäftsfähigkeit Rn. 12; Fuchs, in: Creifelds (Begr.)/Weber (Hrsg.), Creifelds, Rechtswörterbuch24, 2020, Geschäftsfähigkeit; Mansel, in: Jauernig (Begr.)/Stürner (Hrsg.), Kommentar, BGB17, 2018, § 104 Rn. 7; Spickhoff, in: Säcker et al. (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, Bd. I8, 2018, § 104 Rn. 19, 23 bez. der Definitionen der partiellen und relativen Geschäftsfähigkeit.

44 Vgl. Spickhoff, in: MüKoBGB (Fn. 43), § 104 Rn. 20, 23 bez. dessen, dass partielle Geschäftsfähigkeit anerkannt ist und dass relative Geschäftsfähigkeit mehrheitlich abgelehnt wird; vgl. BT-Drs. 11/4528, S. 71; Ernst/Heitmann, in: Kaiser et al. (Fn. 33), § 1904 Rn. 5; Klüsener/Rausch, NJW 1993, 617, 619; Kurze, in: Burandt/Rojahn (Fn. 13), § 1901b Rn. 14; Neuner, AcP 2018, 1, 28; Spickhoff, in: MüKoBGB (Fn. 43), § 104 Rn. 25, 27 bez. dessen, dass die Einwilligungsfähigkeit einer partiell-relativen Geschäftsfähigkeit entspricht; abw. BayObLGZ 1990, 46, 49; Schneider, in: MüKoBGB (Fn. 13), § 1904 Rn. 16, s. Fn. 33; vgl. Neuner, AcP 2018, 1, 27, der den Begriff der temporären Geschäftsfähigkeit einführt. Er ist entbehrlich, da partiell-relative Geschäftsfähigkeit ob ihres Einzelfallbezugs stets temporären Charakter hat.

45 Beckmann, JZ 2013, 604, 607–608; Gründel, NJW 2002, 2987, 2988; Kurze, in: Burandt/Rojahn (Fn. 13), § 1901b Rn. 14; Neuner, AcP 2018, 1, 28; Prütting/Prütting, Medizin- und Gesundheitsrecht1, 2018, § 22 Rn. 12.

46 BVerfGE 10, 302, 309.

47 Vgl. OLG München, NJW 1958, 633.

48 BVerfGE 10, 302, 309.

49 Ähnlich Beckmann, JZ 2013, 604, 605; abw. BVerfGE 133, 112, Rn. 51.

50 BVerfGE 10, 302, 309–310.

51 Ebd., 309–310.

52 Vgl. BGH, VerwRspr 1962, 70, 72; bestätigt durch BGH, NJW 1964, 1177, 1178.

53 Ähnlich Beckmann, JZ 2013, 604, 605.

54 BVerfGE 58, 208, 226; bestätigt durch BVerfG, NJW 1998, 1774, 1775. BVerfGE 58, 208, 226 ist mit BGH, NJW 1958, 267, 268 und BGH, NJW 1956, 1106, 1107 verwandt. Der BGH entwickelte die „Freiheit zur Krankheit“ für Einwilligungsfähige, das BVerfG die für Einwilligungsunfähige.

55 Vgl. BVerfGE 58, 208, 225.

56 BT-Drs. 11/4528, S. 143; genauso ebd., S. 147.

57 Beckmann, JZ 2013, 604, 605.

58 Vgl. statt vieler BVerfGE 128, 282, 301; abw. zuvor BayObLGZ 1996, 34, 35.

59 Vgl. Brilla, in BeckOGKBGB (Fn. 11), § 1904 Rn. 26, § 1906a Rn. 17; BT-Drs. 15/2494, S. 28; Dodegge, NJW 2013, 1265, 1266; Götz, FamRZ 2017, 413, 414; Neuner, AcP 2018, 1, 15 bez. der heutigen Definition des natürlichen Willens; s. B. I.

60 BGH, NJW 2017, 890, Rn. 19; Brilla, in: BeckOGKBGB (Fn. 11), § 1904 Rn. 29; BT-Drs. 15/2494, S. 28; Neuner, AcP 2018, 1, 28; Schmidt-Recla, in: BeckOGKBGB (Fn. 16), § 1896 Rn. 133; Schneider, in: MüKoBGB (Fn. 13), § 1896 Rn. 30. Der Begriff des freien Willens steht in § 1896 Ia.

61 Gemeint ist die Vorstellung, die Frankfurt in „Freedom of the Will and the Concept of a Person“; ders., The Journal of Philosophy (TJoP) 1971, 5; erarbeitete. Das mit der Vorstellung zusammenhängende Verantwortungskonzept, das ders. in „Alternate Possibilities and Moral Responsibility“; ders., TJoP 1969, 829; erarbeitete, wird ausgeklammert; vgl. Stump, TJoP 1988, 395, 397 bez. des Konzepts.

62 Ähnlich Neuner, AcP 2018, 1, 14; Seelmann/Demko (Fn. 7), § 2 Rn. 78–79, die Frankfurts Vorstellung mit dem gesamten BGB bzw. Recht in Verbindung bringen.

Seidel, Der Begriff des natürlichen Willens, BLJ 2/2020, 162-168165

wird Frankfurts Willensvorstellung mit der Definition des natürlichen und der des freien Willens63 zusammengeführt, wodurch eine den Definitionen zugrunde liegende Willensvorstellung erarbeitet wird (B. III. 2.).

1. Frankfurts Willensvorstellung

Frankfurt unterscheidet zwischen Wünschen erster und zweiter Ordnung.64 Wünsche erster Ordnung sind ein ursprüngliches Wollen.65 Sie gliedern sich in Wünsche, die handlungseffektiv werden, und Wünsche, die nicht handlungseffektiv werden, wobei erstgenannte Wünsche der Wille der handelnden Person66 sind.67 Wünsche zweiter Ordnung beziehen sich auf Wünsche erster Ordnung, indem sie das Wollen eines Wunsches erster Ordnung sind.68 Ist der gewollte Wunsch erster Ordnung tatsächlich gegeben, handelt es sich um eine Volition zweiter Ordnung.69 Die Person will, dass ein tatsächlich gegebener Wunsch erster Ordnung handlungseffektiv wird.70 Ist der gewollte Wunsch erster Ordnung nicht tatsächlich gegeben, handelt es sich zwar um einen Wunsch zweiter Ordnung, aber nicht um eine Volition zweiter Ordnung.71 Die Person will, dass ein nicht tatsächlich gegebener Wunsch erster Ordnung tatsächlich gegebener Wunsch erster Ordnung wird.72

Sohin liegt jeder Handlung einer Person ein handlungseffektiv gewordener Wunsch erster Ordnung, mithin ein Wille, zugrunde. Der Wille kann entweder – mangels Volition zweiter Ordnung – unreflektiert und damit weder gewollt noch ungewollt handlungseffektiv werden73 oder – wegen der Volition zweiter Ordnung – reflektiert und damit gewollt oder ungewollt handlungseffektiv werden74. Hat eine Person Volitionen zweiter Ordnung, muss zwischen Fällen, in denen die Volition zweiter Ordnung beeinflussen kann, welcher Wunsch erster Ordnung handlungseffektiv wird, und Fällen, in denen die Volition zweiter Ordnung nicht beeinflussen kann, welcher Wunsch erster Ordnung handlungseffektiv wird, differenziert werden.75 Letztgenannte Fälle umfassen gewolltes und ungewolltes Wollen.76 Gewolltes Wollen setzt mithin nicht voraus, dass die Volition zweiter Ordnung dominant ist. Eine dominante Volition zweiter Ordnung führt jedoch stets zu gewolltem Wollen. Ein handlungseffektiver Wunsch erster Ordnung, der von einer dominanten Volition zweiter Ordnung gewollt ist, ist der freie Wille nach Frankfurt.77

2. Zusammenführung der Willensvorstellung Frankfurts und der Definition

Wird Frankfurts Willensvorstellung mit der Definition des natürlichen und der des freien Willens zusammengeführt, offenbaren sich aufschlussreiche Parallelen.

Der Zustand, Volitionen zweiter Ordnung zu haben, ähnelt dem der Einsichtsfähigkeit. Der Zustand, dominante Volitionen zweiter Ordnung zu haben, ähnelt dem der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit. Die Parallelen werden dadurch bestätigt, dass Steuerungs- nicht ohne Einsichtsfähigkeit gegeben sein kann, während dominante Volitionen zweiter Ordnung nicht gegeben sein können, wenn gar keine Volitionen zweiter Ordnung bestehen.

Ein handlungseffektiver Wunsch erster Ordnung, der durch eine dominante Volition zweiter Ordnung gewollt ist, mithin der freie Wille nach Frankfurt, ähnelt dem Willen des Einsichts- und Steuerungsfähigen, mithin dem freien Willen nach der Diktion des Rechts.

Ein handlungseffektiver Wunsch erster Ordnung, der durch eine nicht dominante Volition zweiter Ordnung gewollt ist, und ein handlungseffektiver Wunsch erster Ordnung, der mangels Volition zweiter Ordnung weder gewollt noch ungewollt ist, ähneln dem natürlichen Willen nach der Diktion des Rechts. Der natürliche Wille ähnelt damit dem unreflektierten oder dem reflektierten, aber ungewollten Wunsch erster Ordnung.

Natürlicher und freier Wille sind folglich kein Gegensatzpaar. Vielmehr lässt sich der natürliche Wille als Minus zum freien Willen beschreiben. Deshalb geht der natürliche Wille im freien auf, solange der freie gebildet werden kann. Den Definitionen des natürlichen und freien Willens liegt damit eine der Willensvorstellung Frankfurts ähnliche gestufte Willensvorstellung zugrunde.

C. Funktion und Autonomievorstellung

I. Funktion

Um sich der Funktion des natürlichen Willens annähern zu können, ist es hilfreich, zwischen zwei Konstellationen zu unterscheiden. Die erste Konstellation ist die, dass der Betreute einwilligungsfähig ist. In diesem Fall ist nur er für die Einwilligung in die ärztliche Maßnahme zuständig.78


63 Natürlicher und freier Wille lassen sich nicht isoliert voneinander behandeln. Es bedarf einer Willensvorstellung, die beide sinnvoll zueinander in Beziehung setzt.

64 Frankfurt, TJoP 1971, 5, 6–7.

65 Ebd., 7.

66 Person ist nicht i.S.v. Frankfurt zu verstehen, nach dem eine Person jede Kreatur ist, die Volitionen zweiter Ordnung hat; ebd., 10. Person meint folgend Mensch.

67 Ebd., 8.

68 Ebd., 8–9. Die Frage, ob Wünsche zweiter Ordnung zu einer Entscheidung für einen Wunsch erster Ordnung führen oder ob es stets eines Wunsches höherer Ordnung bedarf, um den untergeordneten Wunsch zu wollen, wird ausgeklammert; vgl. ebd., 16–17; Neuner, AcP 2018, 1, 13 (dortige Fn. 59) bez. dieser Frage.

69 Frankfurt, TJoP 1971, 5, 10. Volitionen zweiter Ordnung sind Wünsche zweiter Ordnung. Wünsche zweiter Ordnung sind nicht immer Volitionen zweiter Ordnung.

70 Ebd., 10.

71 Ebd., 10.

72 Ebd., 10.

73 Ebd., 11.

74 Ebd., 14.

75 Ebd., 15. Folgend wird diesbezüglich von (nicht) dominanten Volitionen zweiter Ordnung geschrieben.

76 Ebd., 15.

77 Ebd., 15.

78 Holzhauer, NJW 1992, 2325, 2329; Klüsener/Rausch, NJW 1993, 617, 619; Müller-Engels, in: Hau/Poseck (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, BGB, Stand: 1.5.2020, § 1904 Rn. 8; OLG Hamm, NJW-Entscheidungsdienst Familien- und Erbrecht (NJWE-FER) 1997, 178, 179; Schneider, in: MüKoBGB (Fn. 13), § 1904 Rn. 10; Spickhoff, in: Spickhoff (Hrsg.), Beck’scher Kurz-Kommentar, Medizinrecht3, 2018, § 1904 Rn. 4.

Seidel, Der Begriff des natürlichen Willens, BLJ 2/2020, 162-168166

Die zweite Konstellation ist die, dass der Betreute einwilligungsunfähig ist.79 In diesem Fall ist zu differenzieren.

Richtet sich der natürliche Wille des Betreuten nicht gegen die ärztliche Maßnahme, hängt die Zulässigkeit der Maßnahme von der Einwilligung des Betreuers und ggf. zusätzlich von der Genehmigung des Betreuungsgerichts ab, § 1904.80 Der einer ärztlichen Maßnahme zustimmende natürliche Wille ist demzufolge für die Zulässigkeit ärztlicher Maßnahmen nicht entscheidungserheblich81. Er hat keine Funktion.82

Richtet sich der natürliche Wille des Betreuten gegen die ärztliche Maßnahme, handelt es sich um eine ärztliche Zwangsmaßnahme, § 1906a I 1. Daher greifen die §§ 1905, 1906a. § 1906a erfasst sämtliche ärztliche Maßnahmen ausschließlich der in § 1905 geregelten Sterilisation. Nach § 1906a sind ärztliche Zwangsmaßnahmen nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig.83 § 1906a bewirkt, dass der einer ärztlichen Maßnahme entgegenstehende natürliche Wille für die Zulässigkeit ärztlicher Maßnahmen entscheidungserheblich ist. § 1905 I, der vorschreibt, dass eine „Sterilisation des Betreuten, in die dieser nicht einwilligen kann“, nur zulässig ist, wenn sie u.a. „dem Willen des Betreuten nicht widerspricht“, betrifft ebenfalls den natürlichen Willen.84 Schließlich ist der Wille des Einwilligungsunfähigen per definitionem dessen natürlicher Wille. Anders als § 1906a sieht § 1905 keine Möglichkeit vor, die ärztliche Maßnahme gegen den natürlichen Willen des Betreuten durchzuführen. Mithin bewirkt § 1905 I 1, dass der einer Sterilisation entgegenstehende natürliche Wille für die Zulässigkeit der Sterilisation allein entscheidungserheblich ist.85

Demzufolge hat nur der einer ärztlichen Maßnahme entgegenstehende und nicht der einer Maßnahme zustimmende natürliche Wille eine Funktion.

II. Entwicklung der Funktion

Der BVerfG-Beschluss86, der für den Wandel der Definition des natürlichen Willens vom Willen des Einwilligungsfähigen zu dem des Einwilligungsunfähigen ausschlaggebend war87, bildet den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Funktion des natürlichen Willens88. 1981 beschloss das BVerfG, dass „die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft […] die Befugnis ein[schließt], den psychisch Kranken, der […] [einsichts- und/oder steuerungsunfähig ist], zwangsweise in einer geschlossenen Anstalt unterzubringen, wenn sich dies als unumgänglich erweist, um eine drohende gewichtige gesundheitliche Schädigung von dem Kranken abzuwenden. Daß [sic] dies nicht ausnahmslos gilt, weil […] auch dem psychisch Kranken in gewissen Grenzen die ‚Freiheit zur Krankheit‘ belassen bleibt, drängt sich auf“89. Der Beschluss erkennt erstens die Relevanz des natürlichen Willens an90 und liefert zweitens einen Maßstab dafür, wann eine Maßnahme, gegen die sich der natürliche Wille richtet, durchgeführt werden darf. Es bedarf eines steten Austarierens zwischen dem möglichst umfassenden Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Betreuten auf der einen und dem möglichst umfassenden Schutz seiner Selbstbestimmung auf der anderen Seite.91 Ebendiese Abwägung prägte die weitere Entwicklung der Funktion des natürlichen Willens.92

1. Entwicklung der Funktion i.R.d. § 1905

Der der Sterilisation entgegenstehende Wille wurde bereits 1989 als allein entscheidungserheblich bez. der Zulässigkeit der Sterilisation angesehen. Diese Entscheidung wurde damit begründet, dass „in Deutschland […] – mehr als anderswo – gute Gründe für ein völliges Verbot der Sterilisation Betreuter denkbar [sind, da] die Erfahrungen mit den Zwangssterilisationen des Dritten Reiches […] eine deutliche Mahnung [sind]“93. Da ärztliche Zwangsmaßnahmen ausschließlich der Sterilisation wegen der Fürsorgepflicht des Staates für die körperliche Unversehrtheit des Betreuten nicht verboten werden sollten94, bedurfte es der separaten Regelung der Sterilisation.


79 Vgl. Schweitzer, FamRZ 1996, 1317, 1320, der neben den Fällen, dass sich der Wille des Betreuten (nicht) gegen die ärztliche Maßnahme richtet, den Fall erfasst, dass der Wille des Betreuten indifferent ist; vgl. Müller-Engels, in: BeckOKBGB (Fn. 78), § 1904 Rn. 12 bez. des praktischen Umgangs mit solchen Fällen. Folgend wird der Fall, dass der Wille des Betreuten indifferent ist, als Unterfall des Falls, dass sich der Wille des Betreuten nicht gegen die ärztliche Maßnahme richtet, behandelt.

80 Kahlert, in: Bergmann/Pauge/Steinmeyer (Hrsg.), Nomos Kommentar, Gesamtes Medizinrecht3, 2018, § 1904 Rn. 1–9; Kemper, in: Schulz/Hauß (Hrsg.), Nomos Kommentar, Familienrecht3, 2018, § 1904 Rn. 6–11.

81 Dass etwas (nicht) entscheidungserheblich ist, bedeutet folgend, dass es für die Entscheidung (nicht) relevant ist. Dass etwas allein entscheidungserheblich ist, bedeutet folgend, dass es das einzige relevante Moment für die Entscheidung ist.

82 § 1904 III i.V.m. § 1901a II 1, der dem Willen des Betreuten großes Gewicht beimisst, kann nicht (auch) den natürlichen Willen meinen; Brilla, in: BeckOGKBGB (Fn. 11), § 1904 Rn. 87. Wäre dem so, wäre der natürliche Wille allein entscheidungserheblich dafür, ob eine (Nicht-)Einwilligung durch den Betreuer genehmigt wird und damit dafür, ob der Betreuer (nicht) einwilligt. Die Kategorie der Einwilligungsfähigkeit wäre ad absurdum geführt. Freilich ist der Betreuer unabhängig davon stets an den den natürlichen Willen erfassenden § 1901 III 1 gebunden; BT-Drs. 11/4528, S. 133–134.

83 Vgl. Schneider, in: MüKoBGB (Fn. 13), § 1906a Rn. 18–26 bez. der Voraussetzungen des § 1906a.

84 Dodegge, NJW 2013, 1265, 1266; Kemper, in: Schulz/Hauß (Fn. 78), § 1905 Rn. 5; Müller-Engels, in: BeckOKBGB (Fn. 78), § 1905 Rn. 5; Schneider, in: MüKoBGB (Fn. 13), § 1905 Rn. 7; Ulsenheimer, in: Laufs (Begr.)/Kern/Rehborn (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts5, 2019, § 127 Rn. 21.

85 Brilla, in: BeckOGKBGB (Fn. 11), § 1905 Rn. 12–13; Kemper, in: Schulze (Hrsg.), Nomos Kommentar, BGB10, 2019, § 1905 Rn. 4; Müller-Engels, in: BeckOKBGB (Fn. 78), § 1905 Rn. 5; Schneider, in: MüKoBGB (Fn. 13), § 1905 Rn. 19.

86 BVerfGE 58, 208.

87 S. B. II. 2.

88 S. Fn. 6 bez. dessen, dass Definition und Funktion i.d.R. nebeneinander und sich gegenseitig bedingend entstehen; vgl. Schweitzer, FamRZ 1996, 1317, 1319 bez. der Relevanz des Beschlusses für die Entwicklung der Funktion des natürlichen Willens.

89 BVerfGE 58, 208, 225–226; bestätigt durch BVerfG, NJW 1998, 1774, 1775.

90 S. B. II. 2.

91 Gemeint ist ein Schutz der Selbstbestimmung auf dem Gebiet der äußeren Autonomie; s. C. III. bez. des Begriffs der äußeren Autonomie. Die Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht bez. des eigenen Körpers neben dem Recht auf körperliche Unversehrtheit steht oder ob es Teil davon ist, wird ausgeklammert; vgl. BVerfGE 128, 282, 300; Murswiek/Rixen, in: Sachs (Hrsg.), GG, Kommentar8, 2018, Art. 2 Rn. 148 bez. letztgenannter Ansicht; vgl. Röthel, AcP 2019, 420, 433–444 bez. der diesbezüglichen Diskussion.

92 Mazur/Kießling, Medizinrecht (MedR) 2019, 792, 796; Schweitzer, FamRZ 1996, 1317, 1318.

93 BT-Drs. 11/4528, S. 73.

94 Ebd., S. 141.

Seidel, Der Begriff des natürlichen Willens, BLJ 2/2020, 162-168167

2. Entwicklung der Funktion i.R.d. § 1906a

Der Umstand, dass der Gesetzgeber 1989 keine explizite Regelung für ärztliche Zwangsmaßnahmen ausschließlich der Sterilisation schuf, führte zu zahlreichen Unklarheiten.95 2000 beschloss der BGH, dass eine ambulante96 ärztliche Zwangsmaßnahme gegenüber dem Betreuten nicht zulässig ist, da es an einer dies ermöglichenden Norm fehlt.97 Daher schlug der Bundesrat vor, eine Rechtsgrundlage für die ambulante Zwangsmaßnahme zu schaffen.98 Das Vorhaben scheiterte aber am Widerstand der Bundesregierung.99 2006 beschloss der BGH, dass eine ärztliche Zwangsmaßnahme i.R.d. freiheitsentziehenden Unterbringung des Betreuten nach § 1906 I Nr. 2 zulässig ist.100 Fünf Jahre später beschloss das BVerfG im Zusammenhang mit im Maßregelvollzug Untergebrachten, dass „die wesentlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung […] klarer und bestimmter gesetzlicher Regelungen [bedürfen], […] [was] auch für die Anforderungen an das Verfahren [gilt]“101. 2012 übertrug der BGH diese Rechtsprechung auf das Betreuungsrecht und beschloss unter Aufgabe seiner vorherigen Rechtsprechung102, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber Betreuten mangels klarer gesetzlicher Regelung i.R.d. freiheitsentziehenden Unterbringung unzulässig sind.103 Damit waren ärztliche Zwangsmaßnahmen unter allen Umständen unzulässig.104 Hierauf reagierte der Gesetzgeber mit der Einführung des § 1906 III, IIIa a.F., der die ärztliche Zwangsmaßnahme gegenüber dem Betreuten i.R.d. freiheitsentziehenden Unterbringung unter bestimmten Voraussetzungen erlaubte.105 2016 beanstandete das BVerfG, dass § 1906 III a.F. die ärztliche Zwangsmaßnahme gegenüber dem nicht freiheitsentziehend Untergebrachten nicht regelt.106 Vor dem Hintergrund der stets vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Betreuten und dem Schutz seiner Selbstbestimmung sei es unverhältnismäßig, Betreuten, die nicht freiheitsentziehend untergebracht werden können, den Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit zu versagen.107 Hierauf reagierte der Gesetzgeber 2017 mit der Einführung des § 1906a108, der die ärztliche Zwangsmaßnahme von der freiheitsentziehenden Unterbringung loslöste. Damit ist die Zulässigkeit der stationären Zwangsmaßnahme gesetzlich geregelt. Die ambulante Zwangsmaßnahme ist weiterhin unzulässig.109

III. Der Funktion zugrunde liegende Autonomievorstellung

Die Funktion des natürlichen Willens lässt sich besser verstehen, wenn man sie mit einem in innere und äußere Autonomie geteilten Autonomiebegriff in Verbindung bringt.110 Innere Autonomie beschreibt den Zustand, in dem eine Person rechtsgestaltend tätig sein kann.111 Äußere Autonomie bezieht sich auf das Verhältnis der Person zu ihrer Umwelt.112

Die Funktion des natürlichen Willens liegt auf dem Gebiet der äußeren Autonomie.113 Dies zeigt insbesondere folgender Umstand: Lehnt der Einwilligungsunfähige die Sterilisation oder eine nicht unter § 1906a I 1 Nr. 1 fallende ärztliche Maßnahme ab, hat sie zu unterbleiben. Sie ist aber nicht ohne Weiteres durchzuführen, wenn es der Einwilligungsunfähige verlangt. Dem ablehnenden natürlichen Willen kommt mithin ein großes Gewicht zu, wohingegen dem zustimmenden natürlichen Willen kein Gewicht beigemessen wird. Diese Beobachtung lässt sich mit der Verortung der Funktion des natürlichen Willens auf dem Gebiet der äußeren Autonomie erklären.114 Verortete man sie


95 Spickhoff, FamRZ 2017, 1633 schreibt von einem „Trauerspiel in mehreren Akten“.

96 Es wird zwischen ambulanten und stationären ärztlichen Zwangsmaßnahmen unterschieden. Stationäre Zwangsmaßnahmen gliedern sich in solche gegenüber dem geschlossen (freiheitsentziehende Unterbringung) und dem nicht geschlossen (nicht freiheitsentziehende Unterbringung) Untergebrachten.

97 Vgl. BGH, NJW 2001, 888, 890.

98 Vgl. BT-Drs. 15/2494, S. 7, 30.

99 Ebd., S. 47; Müller-Engels, in: BeckOKBGB (Fn. 78), § 1904 Rn. 14.

100 Vgl. BGH, NJW 2006, 1277; abw. noch OLG Bremen, NJW-Rechtsprechungsreport Zivilrecht (NJW-RR) 2006, 75, 76–77; OLG Celle, BeckRS 2005, 11459, Rn. 7 (nicht rechtskräftig); OLG Jena, Praxis der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGPrax) 2006, 43. Durch diesen BGH-Beschluss manifestierte sich die sich bereits zuvor abzeichnende Verquickung von Zwangsmaßnahme und freiheitsentziehender Unterbringung. Es ist fraglich, ob diese Verquickung vom Gesetzgeber beabsichtigt war; vgl. BT-Drs. 11/4528, S. 141, wo die Zwangsmaßnahme im Kontext des § 1904 BGB-E behandelt wird; vgl. Brilla, in: BeckOGKBGB (Fn. 11), § 1906a Rn. 3.2, der BT-Drs. 11/4528, S. 141 mit § 1906 BGB-E und damit der freiheitsentziehenden Unterbringung in Verbindung bringt; vgl. Schweitzer, FamRZ 1996, 1317, 1319, der in § 1904 keine taugliche Norm für die Beantwortung der Frage nach der Zulässigkeit von Zwangsmaßnahmen sieht, da sie nur „die obere Eingriffsgrenze in bezug [sic] auf den gesundheitlichen Schutz markiert, nicht aber die untere Eingriffsschwelle bestimmt, ab der ein Eingriff in die Autonomie der Betroffenen zulässig erscheint“.

101 BVerfGE 128, 282; bestätigt durch BVerfGE 129, 269; 133, 112; BVerfG, BeckRS 2014, 20265.

102 BGH, NJW 2001, 888; BGH, NJW 2006, 1277.

103 Vgl. BGH, NJW 2012, 2967.

104 Schneider, in: MüKoBGB (Fn. 13), § 1906a Rn. 4.

105 BT-Drs. 17/11513, S. 6–7. Die Voraussetzungen des § 1906 III a.F. entsprachen weitestgehend denen des heutigen § 1906a I 1.

106 Vgl. BVerfGE 142, 313, 313–314.

107 Ebd., Rn. 79–80.

108 Vgl. BT-Drs. 18/11240, S. 12–14.

109 Ebd., S. 15; krit. Spickhoff, FamRZ 2017, 1633, 1639, der die fehlende Möglichkeit der ambulanten Zwangsmaßnahme für verfassungswidrig hält; ebenfalls krit. Lipp, JZ 2001, 825, 828–829. In BVerfGE 142, 313, Rn. 100 ließ das BVerfG explizit offen, ob die aus der mangelnden Regelung resultierende Unzulässigkeit der ambulanten Zwangsmaßnahme verfassungswidrig ist. In BVerfG, BeckRS 2018, 6916 wies das BVerfG eine diesbezügliche Vorlage des AG Hersbruck als unzulässig ab.

110 Vgl. Bumke (Fn. 5), S. 9; Scherhorn, Freiheit im Mitsein, in: Ingensiep/Eusterschulte (Hrsg.), FS Meyer-Abich1, 2002, S. 35–36; Seelmann/Demko (Fn. 7), § 2 Rn. 79, die den Autonomiebegriff in innere (prozedurale) und äußere (relationale) Autonomie aufgliedern; vgl. Ohly (Fn. 17), S. 105–106; Röthel, AcP 2011, 196, 218, die implizit zwischen den beiden Autonomiedimensionen differenzieren. Weitere Autonomiedimensionen, wie die lebensweltliche, werden ausgeklammert; vgl. Bumke (Fn. 5), S. 10 bez. der lebensweltlichen Autonomie.

111 Ebd., S. 9; Scherhorn (Fn. 110), S. 35–36; ähnlich Seelmann/Demko (Fn. 7), § 2 Rn. 78–79, die von einem prozeduralen Autonomieelement schreiben.

112 Bumke (Fn. 5), S. 9; Scherhorn (Fn. 110), S. 35–36; ähnlich Seelmann/Demko (Fn. 7), § 2 Rn. 78–79, die von einem relationalen Autonomieelement schreiben.

113 Vgl. Bumke (Fn. 5), S. 9–10, 31.

114 § 630e V, der suggeriert, dem natürlichen Willen komme auf dem Gebiet der inneren Autonomie eine Funktion zu, ist missverständlich; vgl. Spickhoff, in: Spickhoff (Fn. 76), § 630d Rn. 13; Wagner, in: MüKoBGB (Fn. 42), § 630e Rn. 60–61; Walter, in: Gsell et al. (Hrsg.), Beck’scher Online-Großkommentar, BGB, Stand: 15.3.2020, § 630d Rn. 24–25 bez. des Regelungsgehalts des § 630e V. § 630e V scheint ein Missverständnis des Gesetzgebers bez. der Rechtsprechung des BVerfG zu sein. Die Passage des BVerfG-Beschlusses, auf die sich der Gesetzgeber bezog, hat den Schutz äußerer Autonomie zum Gegenstand; vgl. BVerfGE 128, 282, 309–310; BT-Drs. 17/11710, S. 29. Ähnlich unglücklich ist die Formulierung der §§ 1905, 1906a, die die Frage, ob der Betreuer einwilligen darf, mit dem natürlichen Willen des Betreuten verknüpft. 2006 differenzierte der BGH noch klar zwischen beiden Autonomiedimensionen; vgl. BGH, NJW 2006, 1277, Rn. 20.

Seidel, Der Begriff des natürlichen Willens, BLJ 2/2020, 162-168168

stattdessen auf dem Gebiet der inneren Autonomie, könnte nur schwerlich erklärt werden, weshalb dem ablehnenden, aber nicht dem zustimmenden natürlichen Willen Gewicht beigemessen wird.

Die Einwilligungsfähigkeit liegt auf dem Gebiet der inneren Autonomie. Wer einwilligungsfähig ist, kann rechtsgestaltend tätig werden. Der Einwilligungsfähige ist damit innerlich autonom. Dem einwilligungsunfähigen Betreuten fehlt es mithin an innerer Autonomie. Durch den für ihn einwilligenden Betreuer wird der Betreute an den Zustand innerer Autonomie nächstmöglich herangeführt.115 Der Betreuer substituiert die dem Betreuten fehlende Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit unter Zugrundelegung der subjektiven Wertvorstellung des Betreuten.116 Zudem stärkt das von den §§ 1904, 1905, 1906a vorgegebene Verfahren die substituierte innere Autonomie des Betreuten.

Der Funktion des natürlichen Willens liegt mithin eine Autonomievorstellung zugrunde, die sie auf dem Gebiet der äußeren Autonomie verortet. Obwohl der natürliche Wille als Minus zum freien Willen eine Facette der inneren Autonomie ist, bleibt er auf dem Gebiet der inneren Autonomie funktionslos. Die Funktion des natürlichen Willens entsteht dadurch, dass die äußere Autonomie in bestimmten Fällen gegenüber der substituierten inneren Autonomie als vorrangig angesehen wird.117 So ist zu erklären, weshalb nicht jedem ablehnenden natürlichen Willen Gewicht beigemessen wird.118

D. Fazit

Die Auseinandersetzung mit dem natürlichen Willen hat ergeben, dass seine Funktion von der zugrunde liegenden Autonomievorstellung, der mit der inneren Autonomie verknüpften Willensvorstellung und der Gestaltung des Verhältnisses von äußerer und substituierter innerer Autonomie zueinander abhängt.119

Diese Ergebnisse vermögen die Diskussion um den natürlichen Willen zu ordnen. Indem abgeglichen werden kann, ob den sich aufeinander beziehenden Diskussionsbeiträgen die gleichen Vorstellungen zugrunde liegen, können Missverständnisse vermieden werden.

Überdies lädt die begonnene begriffliche Durchdringung des natürlichen Willens dazu ein, die ihm zugrunde liegenden Vorstellungen zu evaluieren und die dem natürlichen Willen in anderen Rechtsgebieten zugrunde liegenden Vorstellungen zu erarbeiten, um anschließend die Vorstellungen synchronisieren und das Recht systematisieren zu können.


115 Ähnlich Lipp (Fn. 5), S. 51.

116 Ähnlich ebd., S. 49–54.

117 Wann die äußere Autonomie gegenüber der substituierten inneren Autonomie als vorrangig angesehen wird, ist Wertungsfrage.

118 Die Besonderheit betreuter Einwilligungsunfähiger liegt darin, dass ihre beiden Autonomiedimensionen in inhaltlichen Widerspruch zueinander treten können. Der für die innere Autonomie (substituierter freier Wille) und der für die äußere Autonomie (natürlicher Wille) maßgebliche Wille können sich widersprechen.

119 Kritik des natürlichen Willens muss sich somit entweder mit der Existenz der äußeren Autonomie oder bei Anerkennung dieser mit dem partiellen Vorrang der äußeren vor der substituierten inneren Autonomie befassen.Johann