Zwischen Positivismus und Postmoderne: Herausforderungen für das Recht im 21. Jahrhundert

Symposium am 27. Oktober 2016 an der Bucerius Law School

Jonathan Friedrichs*

Am 27. Oktober 2016 fand im Moot Court der Bucerius Law School das Symposium „Zwischen Positivismus und Postmoderne: Herausforderungen für das Recht im 21. Jahrhundert“ statt. Die Initiatoren Dr. Christian Becker, Dr. Gabriele Buchholtz und Dr. Johanna Croon-Gestefeld formulierten als Ziel, einen Beitrag zu einer „Standortbestimmung für das kontinentaleuropäische Rechtsdenken“ leisten zu wollen. Vor dem Hintergrund der sprachanalytischen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts und einer daraus resultierenden Unsicherheit hinsichtlich der Grundlagen auch des Rechts sei auszuloten, in welche Richtung man im 21. Jahrhundert schauen könne. Im Zentrum stand die Frage: Kann ein – möglicherweise modifizierter – Gesetzespositivismus in Zukunft adäquate Antworten auf rechtliche Probleme liefern oder muss langfristig umgedacht werden? Wie ist zu reagieren auf die Forderung eines „starken Staats“ angesichts vielfältiger Bedrohungen von innen und außen?

Dr. Dr. Kai-Michael Hingst, Partner bei der Kanzlei White & Case, eröffnete die Veranstaltung, indem er die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit rechtsphilosophischen Grundlagen aus Sicht der Praxis hervorhob. Grundsätzlich stünden sich Theorie und Praxis zwar als Antagonisten gegenüber; eine einzelne erfolgreiche Beratung, etwa im Bankenaufsichtsrecht, lasse sich auch ohne fundierte rechtsphilosophische Kenntnisse und Überlegungen bestreiten. Jedoch müsse ein Jurist gerade auch die tragenden, möglicherweise schwankenden Säulen seines Fachs erkennen und verstehen lernen, um langfristig praktisch reüssieren zu können. Mit der Fähigkeit zur Reflexion der eigenen Position zeigten sich Relevanz und Potential von Rechtstheorie und -philosophie für die juristische Tätigkeit auf anderer und noch höherer Ebene, als sie bereits etwa im Studium antiker juristischer Texte zur Steigerung eigener rhetorischer Fähigkeiten auszumachen seien.

Prof. Dr. Günther Ortmann vom Reinhard-Mohn-Institut für Unternehmensführung der Universität Witten-Herdecke gab unter dem Titel „Als Ob. Über notwendige Fiktionen im Alltag in der Ökonomie und im Recht“ den ersten Impuls aus nicht juristischer Perspektive. Überall, in allen gesellschaftlichen Prozessen und sicher geglaubten, festen Fundamenten stecke „ein untilgbarer Schuss von Fiktionalität“. Dabei sei zu differenzieren zwischen notwendigen (realisierten) und kontingenten (literarischen etc.) Fiktionen. Diese beiden Arten von Fiktionalität unterschieden sich durch ihren performativen Charakter – während kontingente Fiktionen häufig offen als solche erkennbar seien, müssten notwendige Fiktionen latent bleiben, dürften sich nicht unmittelbar als fiktional offenbaren und hätten den Anspruch auf Realisierung. Notwendige Fiktionen zeigten sich überall – in der „Konsensfiktion“ des Eheversprechens, der „Generierung von Realität“, die jede unternehmerische Planung für die Zukunft voraussetze oder der Annahme der bloßen Möglichkeit richterlicher Unparteilichkeit im Rechtsstaat. So wie Geld erst durch einen performativen Sprechakt, durch das Beimessen von Wert und die Fiktion, es habe diesen tatsächlich, zum Zahlungsmittel werden könne, beruhten auch juristische Begriffe auf einem solchen fiktionalen Moment. Auch die Annahme von Zurechnung, Schuld etc. konstituiere sich erst aus der Fiktion ihres Bestehens. So sei denn auch die juristische Person eine bloße „Tautologie“ im Sinne Max Webers,1 könne es dem Wortsinn nach niemals eine natürliche Person, also eine ohne fiktionale Anteile in ihrer Konstruktion, geben. Keinesfalls sei die Annahme eines solchen Modells jedoch lähmend. Werde ein „starker Staat“ benötigt, so werde er fingiert. Die Funktionsfähigkeit weder von Unternehmen noch irgendwelcher sonstigen Prozesse würde darunter leiden – die einzige Nicht-Fiktion sei die Wirklichkeit. Die darin stattfindende Praxis sei von der außerhalb stehenden Theorie nicht betroffen.

In seinem Vortrag „Kontextabhängigkeit von Recht und Rationalität“ wagte Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem, Affiliate Professor an der Bucerius Law School, einen Blick in die Zukunft und stellte die Vorstellung eines „digitalen Neopositivismus“ vor. Die traditionellen Rationalitätsvorstellungen mit der Voraussetzung eines klar definierten Bezugsystems seien in der fragmentierten, pluralistischen modernen Gesellschaft erschüttert. Deshalb stehe in Frage, ob mit herkömmlichen juristischen Methoden noch eine ausreichende Sicherungswirkung für die Lösung rechtlicher Probleme verbunden sei. Das Recht selbst offenbare verschiedentlich Anstöße für Neuansätze: Die Offenheit von Normen in ihren Formulierungen, die notwendigerweise häufig auf poröse, ausfüllungsbedürftige Begriffe ausweichen müssten, um auf eine Vielzahl von Sachverhalten reagieren zu können, zeige sich heutzutage noch einmal verstärkt im „Pluriversum“ europäischer Rechtsetzung. Angesichts nicht absehbarer Folgen sehe sich der Gesetzgeber immer wieder veranlasst – wie im Fall der Regelung der Präimplantationsdiagnostik und anderer Maßnahmen in der Fortpflanzungsgesetzgebung – Abschätzungen über gesellschaftliche Wirkungsdimensionen mit in die Normsetzung einzubeziehen. Im Lichte dieser Entwicklungen sei Rechtsanwendung zwangsläufig mehr als bloße Subsumtion, sondern bedürfe einer Maßstabsergänzung, um der Optionenvielfalt gleichermaßen gerecht und Herr werden zu können. Rein positivistische Deduktion aus dem gegebenen Normenmaterial reiche nicht mehr aus. Angesichts dessen, dass der Weg einer Entscheidung von ihrer Findung zu ihrer Darstellung häufig einer „Abdunkelung des Herstellungsprozesses“2 gleichkomme, seien


* Der Autor ist Student der Bucerius Law School, Hamburg.

1 Max Weber, Rechtssoziologie, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft5, 1985, 397, 424.

2 Arno Scherzberg, Wird man durch Erfahrung klug? – Altes und Neues zum Klugheitsbegriff, 2008, 14.

Friedrichs, Tagungsbericht45

auch herkömmliche Begründungstheorien nicht ausreichend; der Fokus der Reflexion juristischer Argumentation und Subsumtion müsse sich zur (richterlichen) Entscheidung selbst verschieben. Wohin in der Zukunft der Weg führe, sei ungewiss. Der wachsende Einfluss von Legal Tech auf die Rechtsanwendung sei nicht zu unterschätzen – die Möglichkeiten von Standardverträgen (sog. smart contracts) und prognostizierenden Analysen von Gerichtsurteilen ließen besser vorhersagbare, möglicherweise rationalere gerichtliche Entscheidungen auf der Basis von Algorithmen nicht vollkommen abwegig erscheinen. Sollte die Entwicklung in diese Richtung fortschreiten, könnte dies das Erstarken eines „digitalen Neopositivismus“ bedeuten, im Zuge dessen allerdings der Herstellungsprozess einer Entscheidung auf dem Weg zu ihrer Darstellung möglicherweise nicht nur technisch abgedunkelt sei, sondern gleichsam in einer digitalen „Dunkelkammer“ vonstattengehe.

Dem im Vortrag von Herrn Hoffmann-Riem bereits aufgeworfenen Aspekt der Rationalitätskontrolle bei gerichtlichen Entscheidungen widmete sich Prof. Dr. Dr. Milan Kuhli von der Universität Hamburg aus der Perspektive des Strafrechts („Rationalitätskontrolle bei strafrechtlichen Wertungsakten“). Im Strafprozessrecht biete § 337 StPO eine Revisionsmöglichkeit, wenn eine Norm nicht oder nicht richtig angewendet worden sei. Die Revisionsrechtsprechung lasse den vorinstanzlichen Gerichten in der Regel einen nicht überprüfbaren Beurteilungsspielraum; einen Spielraum, der eingreift, wenn eine andere Beurteilung möglich gewesen wäre (so z. B. bei der Subsumtion unter das Tatbestandsmerkmal der „niedrigen Beweggründe“ des § 211 Abs. 2 StGB). Angesichts dessen stoße die revisionsrechtliche Rationalitätskontrolle in einigen Fällen an ihre Grenzen; zunächst wegen ihres Zwecks, keine zusätzliche Tatsacheninstanz darzustellen. Juristische Subsumtionsarbeit aber erfordere das Nebeneinander von Sachverhalt und Tatbestand, um im Rahmen juristischer Hermeneutik gemeinsam betrachtet werden zu können und durch eine sukzessive Annäherung, im Zuge eines „Hin- und Herwandern“3 des Blicks vom zu konkretisierenden abstrakten Tatbestand und dem zu abstrahierenden konkreten Sachverhalt, zu einer Lösung zu kommen. Die zweite Grenze offenbare sich bei allen vorinstanzlichen richterlichen Wertungsakten und Regelbildungen, denen bei der Ausfüllung normativer Tatbestandsmerkmale evaluative, höchstpersönliche Bedeutung zukomme. Dieser Maßstab des Höchstpersönlichen sei aber auf ein Mindestmaß zu reduzieren und jede Einschränkung der Rationalitätskontrolle bedürfe einer Begründung, damit richterliche Entscheidungen einer Anerkennung würdig seien. Aus einer Analyse der Revisionskriterien von Konsistenz und Vertretbarkeit, die die Grenzen der Entscheidungsfindung des Richters darstellten, könne ein Maßstab entwickelt werden, der höchstpersönliche Anteile des Wertungsaktes zu eliminieren imstande sei. Mithilfe derartiger Kriterien könne die Rationalitätskontrolle strafrichterlicher Wertungsakte in größerem Umfang erfolgen. Entgegen der herkömmlichen Rechtsprechung solle nicht die Überprüfbarkeit, sondern die Nichtüberprüfbarkeit vorinstanzlicher Entscheidungen eine gut begründete Ausnahme bleiben.

Prof. Dr. Jochen Bung von der Universität Hamburg schaute aus der weit geöffneten Perspektive der Rechtsphilosophie auf das Bild des Rechtszustands „zwischen Positivismus und Postmoderne“, versetzte sich dafür in naturrechtliche Zeiten zurück und beschloss das Symposium mit einem Vortrag zu den Perspektiven, die die Lektüre von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts bieten könne. Er stellte damit auch den Bezug zur Eröffnung der Veranstaltung wieder her, indem er der Rechtsphilosophie und den Grundlagen des Rechts genau jene Eigenschaft zuschrieb, sich (als Jurist) in ein anderes, umfassenderes Verhältnis zum Recht setzen zu können, das Herr Hingst zu Anfang als das juristische Theorie und Praxis verbindende Element beschrieben hatte. Ein Aspekt unter den vielen hervorgehobenen – Hegels Vorstellung des Staates als ein in sich Vernünftiger, zu starkem Recht fähiger, (Gemein)wohl als Recht bietender etc. – sei hier herausgegriffen: Hegels spekulative Methode könne dem Juristen ein Anstoß sein, nicht nur das eine, spezielle Moment des Rechts, sondern den ganzen, es einbettenden Kontext, die wesentlichen Zusammenhänge im Blick zu behalten und verstehen zu wollen. Dies nicht nur innerhalb der eigenen Rechtsordnung zu tun, sondern Recht immer auch gleichzeitig als eine Art „Weltrecht“ zu begreifen und damit als ein europäisches, wenn nicht in ein globales Gefüge sich einordnendes Element, könne Hegel mit seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts anregen.


3 Karl Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 1963, 15.