Marco Meyer*
A. Ein „schlechtes“ Beispiel?
„[…] Wenn alle nationalen Gerichte sich, dem schlechten deutschen Beispiel folgend, auf die Suche nach der eigenen Identität machen, um sie zu beschützen, wird die Europäische Union auseinanderbrechen.“ Mit diesen drastischen Worten bewertet Sabino Cassese, ehemaliger Richter der italienischen Corte Costituzionale (Corte) das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Vertrag von Lissabon.1 Tatsächlich äußerten sich bereits zuvor Gerichte zu den Grenzen der europäischen Integration aus Sicht „ihres“ Verfassungsrechts und auch nach dem Verdikt aus Karlsruhe wurden die europäischen Verträge verschiedentlich geprüft.2 Der bisherige Befund lautet offensichtlich: Die Union existiert noch. Handelt es sich bei Casseses Beurteilung also um eine Fehleinschätzung? Oder unterscheiden sich die Richtersprüche schlicht so erheblich, dass man nicht davon sprechen kann, dass dem „deutschen Beispiel“ gefolgt wurde?3
Im Folgenden sollen die Basislinien der Rspr. verschiedener europäischer Verfassungsgerichte nachgezeichnet werden. Aus zwei Gründen geht die Darstellung dabei von der EuropaRspr. des Bundesverfassungsgerichts aus. Zum einen verfolgt der Beitrag das Ziel gerade deutschen Juristen den Blick auf mögliche Alternativen zum Konzept des BVerfG zu ermöglichen. Hierzu bietet es sich m.E. an, die Entscheidungen fremder Verfassungsgerichte zur Rspr. des „eigenen“ Gerichts in Beziehung zu setzen. Letztere wird im Folgenden zumindest in ihren wesentlichen Strukturen als bekannt vorausgesetzt. Zum anderen beziehen sich gerade die Gerichte „jüngerer“ Mitgliedstaaten teilweise ausdrücklich auf die „Lissabon-Rspr.“ aus Karlsruhe, was die Frage aufwirft, inwieweit hier Argumentationen bzw. Ergebnisse geteilt werden oder es sich jeweils um eine bloße nominatio handelt.4 Klargestellt sei noch, dass es sich bei dem vorliegenden Beitrag um eine Momentaufnahme handelt, die keinesfalls einen repräsentativen Anspruch verfolgt: Die Auswahl der untersuchten Rechtsordnungen ist in erster Linie den Sprachkenntnissen des Autors bzw. im Fall Polens und Tschechiens der o.g. Chronologie der sich aufeinander beziehenden Entscheidungen geschuldet.5
B. Vergleichsmaßstab und Rechtsprechungslinien
I. Maßstab – Die Rspr. des BVerfG
In der Judikatur des BVerfG zur europäischen Integration sind derzeit zwei defensive6 Operationsmuster auszumachen, die ihre zentrale normative Anknüpfung in Art. 79 Abs. 3 GG finden. Sie lassen sich anhand ihrer Wirkrichtung unterscheiden: Zum einen wird Art. 79 Abs. 3 GG gegen den Vorrang des Unionsrechts in Stellung gebracht, andererseits dient die Norm zur Kompetenzerhaltung und wird bei innerstaatlichen Prozessen zur Änderung des europäischen Primärrechts relevant.7
Damit sind die Vergleichsmaßstäbe gewonnen: Die erste Konstruktion lässt sich funktional unter dem Begriff Vorrangbegrenzung8 fassen, die das BVerfG der absoluten Vorrangkonzeption des EuGH9 entgegensetzt. Auf die sog. ultra-vires-Kontrolle wird im Folgenden nur am Rande zurückgekommen, hier geht es nicht stets um einen Letztvorbehalt, sondern meist darum, ob eine nicht übertragene Kompetenz wahrgenommen wurde.10 Bez. des Solange-Mechanismus wurde die Frage aufgeworfen, ob dieser obsolet sei und die Grundrechte über ihren Menschenwürdekern11 nun mittels der Identitätskontrolle geschützt werden.12 Dies erscheint mit der neueren Rspr. des BVerfG möglich13 und soll hier ebenfalls berücksichtigt werden.14 Den zweiten Maßstab bilden die verfassungsrechtlichen Grenzen für Kompetenzübertragungen.
II. Rechtsprechungslinien
Um einen Überblick zu erhalten, soll der Blick vor der anschließenden Kontextualisierung auf das jeweilige nationale
* Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Professor Dr. Mehrdad Payandeh, LL.M. (Yale) an der Bucerius Law School, Hamburg.
1 Cassese, Dentro la Corte, S. 126 (eigene Übersetzung), s. dort auch S. 131f., 195.
2 Überblick bei Wendel, International Journal of Constitutional Law (ICON) 2013, 981 (982).
3 Zum Kontext s. Mayer, EuR 2014, 473 (498); Magnon, Revue française de droit constitutionnel (RFDC) 2010, 417 Rn. 36.
4 Zur Praxis der Berufung auf ausländische Rspr. zur Bekräftigung des eigenen Arguments vgl. schon Wendel ICON 2013, 981 (986ff.).
5 hierzu Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 3 Rn. 250; Seiwerth, JURA 2016, 596 (599); Rspr. und Literatur sind berücksichtigt bis zum Stand Oktober 2016.
6 Zur Einordnung als „Defensivgrenzen“ vgl. Wendel, in: Marsch/Vilain/Wendel Französisches und Deutsches Verfassungsrecht, 2015, § 8 Rn. 66, der zu Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG abgrenzt, welche die Integration gerade gestattet und fordert und an das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen seitens der Union knüpft.
7 Vgl. Sauer, Staatsrecht III4, 2016, § 9 Rn. 15ff., 18ff.
8 Schöbener, JA 2011, 885 (889f.).
9 s. EuGH Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 (1135) – Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- u. Vorratsstelle; Corrias, European Papers (EP) 2016, 383 (387); Dobbs, Yearbook of European Law (YEL) 2014, 298 (303f.).
10 Dobbs, YEL 2014, 298 (332); „Kompetenzanmaßung“ so Hufeld, in: Ders./Epiney/Merli (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht 2014, , S. 50, 67f; s.a. Walter, ZaöRV 2012, 177 (183) u. Mayer, EuR 2014 473 (495).
11 Vgl. BVerfG, U. v. 21.06.2016, 2 BvR 2728/13, Rn. 138; B. v. 04.02.2010, 1 BvR 369/04 – Rn. 26.
12 BVerfGE 140, 317 (341); z. Diskussion Sauer, NJW 2016, 1134 (1136, 1138); Nettesheim, JZ 2016, 424 (428); a.A. z.B. Satzger, NStZ 2016, 514 (518).
13 I.d.S. bereits v.Bogdandy/Schill, ZaöRV 2010, 701 (720); vgl. auch den Wandel der Wortwahl, von „seine Gerichtsbarkeit […] nicht mehr ausüben“ (s.o.) in Solange II, hin zu der Aussage, Unionsrecht sei nicht am „Maßstab der im Grundgesetz verankerten Grundrechte zu messen“ in BVerfG, Beschl. v. 06.09.2016 – 2 BvR 890/16 – Rn. 32f., wo die Solange-Konstruktion mit keinem Wort mehr erwähnt wird.
14 S. auch v.Bogdandy/Schill, ZaöRV 2010, 701 (717).
law in books und seine Anwendung durch die Verfassungsgerichte (law in action) wandern.15
1. Frankreich – Eine formelle Anerkennung des Anwendungsvorrangs vor der Verfassung (constiution française, CF) hat in Frankreich nicht stattgefunden.16 Indes konstatierte der Conseil Constitutionnel (Conseil) 2004, der bei den Verfassungsänderungen zum Vertrag von Maastricht eingefügte Art. 88-1 CF – nach dem Frankreich sich an der EU beteiligt – verpflichte zur Umsetzung sekundären Gemeinschaftsrechts.17 Das Unionsrecht wird vom Völkerrecht getrennt und als in das nationale Recht integriert bezeichnet.18 Es erhält dadurch einen verfassungsrechtsähnlichen Rang.19 Hinzu kommt nun, dass seine Umsetzung – so der Conseil – bloß durch eine „disposition expresse contraire de la Constitution“20, also eine ausdrücklich entgegenstehenden Norm gehindert werde.21 Dieses Kriterium wird dahingehend bestimmt, dass die Bestimmung spezifisch („propre, specifique“) für die französische Verfassung ist, d.h. nicht bereits auf europäischer Ebene geschützt ist.22 Modifiziert wurde diese Rspr. durch Entscheidung vom 27.07.2006, nach der die Umsetzung keine Norm verletzen darf, in der sich die „identité constitutionnelle de la France“, die Verfassungsidentität Frankreichs wiederspiegelt.23 Diese Grenze stellt der Conseil allerdings ihrerseits unter den Vorbehalt der Zustimmung des Verfassungsgebers.24 Dass letzterer hiervon umfangrangreich Gebrauch gemacht hat, demonstrieren die Art. 88-2 ff. CF, die einzelne unionsrechtliche Induktionen regeln. Sind diese Grenzen gewahrt, obliegt die Kontrolle (auch der Grundrechte) dem EuGH.25
Ähnlich handhabt der Conseil die Grenzen von Primärrechtsänderungen. Die Rspr. war Folge präventiver Kontrollen von Ratifikationsgesetzen (Art. 61 Abs. 2 CF) oder zu ratifizierender Verträge (Art. 54 CF).26 In der Maastricht I Entscheidung gab er die Unterscheidung zwischen Souveränitätsbeschränkungen und -übertragungen auf.27 Hier folgerte er aus verschiedenen verfassungsrechtlichen Normen28, dass „Kompetenzübertragungen“29 möglich seien, solange keine Bestimmung der CF ausdrücklich dagegen spreche (s.o.) oder das neue Primärrecht eine „condition essentielle d’exercice de la souveraineté nationale“30 beeinträchtige.31 Wird folglich die Ausübung der Souveränität in Form der Übertragung von Entscheidungsbefugnissen beschränkt oder werden bereits übertragene Befugnisse erweitert, setzt dies eine Verfassungsrevision voraus.32 Entspr. gilt, soweit Frankreich ein Vetorecht verliert, d.h. Entscheidungen im Rat qua Mehrheitsbeschluss getroffen werden können.33
Wiederum unterstellt der Conseil die „reserve de constitutionnalité“34 ihrerseits der Ausnahme einer Verfassungsänderung. Gleiches gilt für die – Primärrechtsänderungen in dieser Form beschränkenden – Grenzen der disposition expresse contraire und der Rechte des bloc de constitutionnalité.35 Die Regelung des Art. 89 Abs. 5 CF, die ihrem Wortlaut nach die Staatsform der Republik vor einer Revision schützt, hat der Conseil noch nie aktiviert.36 Dem korrespondiert seine Haltung, nicht zur Kontrolle von Verfassungsänderungen befugt zu sein.37 Im Schrifttum herrscht sowohl, was die Frage nach dem Inhalt der Verfassungsidentität angeht, als auch bez. der Frage nach Gehalt und normativer Reichweite des Art. 89 Abs. 5 CF breite Uneinigkeit.38
2. Italien – Die Corte hat den Vorrang des Unionsrechts im Grundsatz auch vor dem Verfassungsrecht anerkannt.39 Anknüpfungspunkt – wie auch für die europäische Integration insgesamt – ist Art. 11 der Verfassung (costituzione italiana, CI), der „limitazioni di sovranità“ zulässt, die „für eine Rechtsordnung notwendig sind, die Frieden und Gerechtigkeit unter den Nationen sichert“. Italien „fördert und begünstigt die auf diesen Zweck gerichteten internationalen Organisationen“. Der 1973 bzw. 1984 mit der Granital-Entscheidung40 vollständig anerkannte Vorrang findet seine Grenze in
15 Vgl. Kischel, (Fn. 5) § 1 Rn. 6, 16.
16 Ausdrücklich anders z.B. CC déc. n°2004-505 DC, 19.11.2004, cons. 10; Vranes in: Europäisches Parlament (Hrsg.), National Constitutional Law and European Integration – Study 2011, S. 101f.; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 68f.; Martin, RFDC 2012, 13ff. Rn. 8.
17 CC déc. n°2004-496 DC, 10.06.2004, cons. 7; krit. Haguenau-Moizard in: v.Bogdandy/Huber (Hrsg.), Handbuch des Ius Publicum Europaeum, Band II, 2007, § 15 Rn 27.
18 CC (Fn. 16), cons. 11; Vranes (Fn. 16), S. 88.
19 Charpy, RFDC 2009, 621 Rn. 11f.; Chaltiel, Revue du Marché Commun (RMC) 2007, 61 (63); Scheffler, ZaöRV 2007, 43 (61).
20 CC (Fn. 17), cons. 7.
21 Zur Übertragbarkeit auf Sekundärrecht Haguenau-Moizard (Fn. 17), § 15 Rn. 27; Charpy, RFDC 2009, 621 Rn. 58f.
22 Commentaire décisions n° 2004-498 DC, 29.07.2004, D); n° 2004-499 DC, 29.07.2004, B); Reestman, EuConst 2009, 374 (386f.); krit. Haguenau-Moizard (Fn. 17), § 15 Rn. 27.
23 CC déc. n° 2006-540 DC, 27.07.2006, cons. 19, 28; Chaltiel, RMC 2007, 61 (63).
24 so zuletzt CC, déc. n° 2015-727 DC, 21.01.2016, cons. 5.; Charpy, RFDC 2009, 621 Rn. 36ff.; Walter spricht von einem „Vorbehalt zum Vorbehalt“, ZaöRV 2012, 177 (187).
25 CC déc. n° 2004-498 DC, 29.07.2004, cons. 4; déc. n° 2004-497 DC, 01.07.2004, cons. 20; Charpy, RFDC 2009, 621 Rn. 37; vgl. hierzu aber Wendel (Fn. 6), § 8 Rn 46.
26 Wendel (Fn. 6), § 8 Rn. 45; Mayer/Lenski/Wendel, EuR 2008, 63 (72); Babusiaux, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre3, 2015, § 24 Rn. 11.
27 Zum vorherigen Dualismus vgl. CC déc. n° 76-71 DC, 30.12.1976, cons. 2; Scheffler, ZaöRV 2007, 43 (64ff.); Wendel (Fn. 6), § 8 Rn. 46.
28 Zum bloc de constitutionnalité Picod, Le contrôle de constitutionnalité des actes de droit dérivé de l’Union européenne in: Cahiers du Conseil constitutionnel n° 18 – Dossier : Constitution et Europe, 2005 , S. 1; Vilain (Fn. 6), § 3 Rn. 2; Vranes (Fn. 16), S. 88.
29 Scheffler, ZaöRV 2007, 43 (67).
30 CC déc. n° 92-308 DC, 09.04.1992, cons. 14.
31 Wendel (Fn. 6), § 8 Rn. 46.
32 CC déc. n° 2007-560 DC, 20.12.2007, cons. 15f.; Vranes (Fn. 17), S. 97f.
33 CC (Fn. 32), cons. 18ff.; Vranes (Fn. 17), S. 98.
34 Sirinelli, Revue générale du droit on line (RGDD-online) 2008, no. 1933; Rathke, in: Bos/Pócza (Hrsg.), Verfassunggebung in konsolidierten Demokratien – Neubeginn oder Verfall eines politischen Systems?, 2014, S. 127.
35 Wendel (Fn. 6)., § 8 Rn. 46.
36 Walter, ZaöRV 2012, 177 (187); Rousseau, in: Burgorgue-Larsen (Hrsg.), L’identié constitutionelle saisie par les juges en europe, 2011, S. 96f.
37 CC déc. n° 2003-469 DC, 26.03.2003, cons. 2, 3.
38 Walter, ZaöRV 2012, 177 (188f.), Überblick bei Rousseau (Fn. 36), S. 96ff.
39 Caponi/Piekenbrock, in: Riesenhuber (Fn. 26), § 26 Rn. 19; Adinolfi, in: De Luca/Simoni, Fundamentals of Italian law, 2014, S. 64; Kröll (Fn. 16), S. 126; Miccú, in: Beneyto/Pernice (Hrsg.), Europe’s Constitutional Challenges in the Light of the Recent Case Law of National Constitutional Courts, 2011, , S. 117.
40 Corte, sent. n. 170, 05.06.1984; Panara (Fn. 17), § 18 Rn. 36.
sog. „Gegengrenzen“ („controlimiti“).41 Die controlimiti entwickelt die Corte u.a. aus den dem ersten Teil der CI vorangestellten zwölf Artikeln, den principi fondamentali der Verfassungs und den Menschenrechten.42 Sollten Auslegung und Anwendung der Gründungsverträge durch die Unionsorgane dazu führen, dass die controlimiti verletzt werden, sieht die Corte sich in der Pflicht, den Teil des Ausführungsgesetzes des Vertrags aufzuheben, der den Eingang der betroffenen Norm in die eigene Rechtsordnung anordnet.43 Denn nur das Umsetzungsgesetz kann Gegenstand einer Kontrolle sein, nicht dagegen die Unionsrechtsakte selbst.44 Die Begründung für dieses Vorgehen sieht das Gericht im Wortlaut des Art. 11 CI: Er gestatte es nicht, Unionsorgane zu einer Verletzung der controlimiti zu ermächtigen.45
Ebenso entschied die Corte für die Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 11 CI auf: Zwar werde die Souveränität Italiens durch den EWG-Beitritt eingeschränkt, andererseits gewinne es Mitwirkungsrechte in den Organen der EWG.46 Die oben aufgezeigten Grenzen der controlimiti gelten aber auch für weitere Kompetenzübertragungen.47 Insofern wird die tatbestandliche Beschränkung der Kompetenzübertragung dahingehend konkretisiert, dass die Zwecke des Art. 11 CI (s.o.) beim Verstoß gegen die controlimiti nicht gewahrt sind. Aus der dem frz. Art. 89 Abs. 5 CF fast wortgleichen Norm des Art. 139 CI leitet die Corte zwar auch eine Revisionssperre her, stützt die unveränderlichen controlimiti aber bisher in erster Linie auf die o.g. Normen.48
3. Polen – Das Vorrangproblem stellt sich für Polen in der bekannten Form nicht, da der Verfassungsgerichtshof (Trybunał Konstytucyjny – Trybunal) Vorrang nur ggü. einfachem Recht anerkennt. Im Gegenteil wird sogar explizit ein Vorrang der Verfassung (Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej – KP) postuliert.49 Das Gericht argumentiert hier mit Art. 8 Abs. 1 und Art. 91 Abs. 2 und 3: Nach Art. 8 Nr. 1 ist die Verfassung das höchste Gesetz Polens, gem. Art. 91 Abs. 2 und 3 sind internationale Verträge Teil der polnischen Rechtsordnung und das von internationalen Organisationen gesetzte Recht genießt Vorrang bloß – so das Gericht – vor einfachem Recht.50 Drei Reaktionsmöglichkeiten werden formuliert: Die Verfassungsänderung, das Hinwirken auf Änderung des Unionsrechts oder den Austritt Polens aus der EU.51 Allerdings hält der Trybunal eine Konformauslegung für geboten soweit möglich und die Feststellung der Verfassungswidrigkeit wird grds. mit einer Übergangsfrist verbunden, um Gelegenheit zur Verfassungsrevision zu geben.52
Den Anknüpfungspunkt für die Grenze von Kompetenzübertragungen sieht der Trybunal in Art. 90 Abs. 1 KP, wonach „the competence of organs of State authority in relation to certain [!] matters“ auf internationale Organisationen übertragen werden kann.53 Aus certain matters schließt das Gericht „a prohibition to: confer all the competences of a given organ of the state, confer competences in relation to all matters in a given field and confer the competences in relation to the essence of the matters determining the remit of a given state organ“.54 Es formuliert also einen Quantitätsvorbehalt für Organkompetenzen und die Entscheidung über ganze Politikbereiche.55 M.a.W. darf kein Verfassungsorgan derart eingeschränkt werden, dass ihm keine Aufgabe mehr verbleibt, worin ein Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 KP gesehen würde.56 Das Gericht entwickelt diese Schranke aus seinem Souveränitätsbegriff:57 Es betrachtet die Eingehung internationaler Verpflichtungen nicht vordergründig als Beschränkung „of the state’s sovereignty, but it is its manifestation“.58 Im Mittelpunkt steht stattdessen die Handlungsfähigkeit der Verfassungsorgane, die wiederum einen Kern an Befugnissen voraussetze, um das „eigene Schicksal zu bestimmen“.59 Der Trybunal erkennt die Schwierigkeit, einen Katalog zu formulieren, nennt aber u.a. die Entscheidung über Rechte des Einzelnen, die demokratische Regierungsform und die Kompetenz-Kompetenz.60 Diese unübertragbaren Kompetenzen bilden de lege lata die Verfassungsidentität, die Folgefrage nach Grenzen der Verfassungsrevision bleibt offen.61
4. Tschechien – Die tschechische Verfassung (Ústava České republiky – UC) wurde vor dem Beitritt 2004 angepasst.62 Dennoch enthält sie keine spezielle Integrationsklausel, sondern regelt in den Art. 10a, 10b die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen.63 Aus der in Art. 10a Abs. 1 UC angeordneten Möglichkeit der Übertragung „einiger“ Kompetenzen entnimmt das tschechische Verfassungsgericht (Ústavní soud České republiky – UsCr) auch die Öffnung der Rechtsordnung für den Anwendungsvorrang, so wie er sich aus der Rspr. des EuGH ergibt.64 Dieser Vorrang ist allerdings nach dem UC – unter Bezugnahme u.a. auf die Corte und das
41 Calvano, FOCUS – FONTI DEL DIRITTO (FOCUS) 1/2016, S. 2; Magnon, RFDC 2010, 417 Rn. 5.
42 Corte, sentenze n. 170, 05.06.1984, cons. in diritto 7; n. 183, 18.12.1973, cons. in diritto 9.; Ordinanza n. 103, 15.04.2008, Cartabia, in: Walker (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003, S. 316 .
43 Corte, sent. n. 232, 13.04.1989, cons. in diritto 3.1ff.; Panara (Fn. 17), § 18 Rn. 34; Wendel, Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht, 2011, S. 443f.; Kröll (Fn. 16), S. 114.
44 Bifulco/Paris (Fn. 17), Band VI, 2016, § 100, Rn. 177 f.
45 Panara (Fn. 17), § 18 Rn. 34; Di Martino, In: Haratsch (Hrsg.), Nationale Verfassungen und Europarecht, 2014, S. 43f.; Wendel (Fn. 43), S. 443.
46 Corte, sent. n. 183, 18.12.1973, cons. in diritto 5; Miccú (Fn. 39), S. 115f.
47 Corte, sent. n. 183, 18.12.1973, cons. in diritto 9.; Calvano, FOCUS 1/2016, S. 17; Kröll (Fn. 16), S. 114; Wendel (Fn. 43), S. 329.
48 Cartabia (Fn. 42), S. 316; vgl. a. Corte, sent. n.1146, 15.12.1988, cons. in diritto 2.1.
49 Tryb., K 18/04, 11.05.2005, Abs. 11, 13; K 32/09, 24.11.2010, Abs. 2.4; Biernat (Fn. 17) § 21 Rn. 45; Piqani, EJLS 2007, 213 (222f.); Kowalik-Bańczyk, GLJ 2005, 1355 (1360f.).
50 Tryb. (Fn. 49), Abs. 11; Kruis (Fn. 16), S. 70.
51 Tryb. (Fn. 49), Abs. 13.
52 Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts, 2009, S. 152; Ernst (Fn. 26), § 28 Rn. 15.
53 Tryb., EuR 2006, 236 (238, 241); Arnold, in: FS Schroeder, 2011, S. 309, 314.
54 Tryb., K 32/09, 24.11.2010, Abs. 2.1 S. 22, Abs. 2.5 S. 32f.; s.a. Fn. 53.
55 Hufeld, in: Bos/Dieringer (Hrsg.), Die Genese einer Union der 27, 2008, S. 56; Arnold (Fn. 53) S. 309, 315.
56 Tryb., EuR 2006, 236 (238)
57 Tryb. (Fn. 54), Abs. 2.1 S. 20ff.; Laulhe Shaelou in: Burgorgue-Larsen (Hrsg.) (Fn. 36), S. 145.
58 Tryb. (Fn. 54), Abs. 2.1 S. 21.
59 Tryb. (Fn. 54), Abs. 2.1 S. 22 (eigene Übersetzung).
60 Tryb. (Fn. 54), Abs. 2.1 S. 22f.; Laulhe Shaelou, (Fn. 57), S. 145f.
61 s. auch Steinbeis, VerfBlog, 2016/6/03; zur Lit. s. Biernat (Fn. 17), § 21 Rn. 16 ff.
62 „Euro-amendment” Act no. 395/2001 Coll.; Laulhe Shaelou (Fn. 57), S. 137.
63 UsCr, Pl. ÚS 19/08, 26.11.2008, Abs. 90; Arnold (Fn. 54), S. 312.
64 UsCr, Pl. ÚS 50/04, 08.03.2006, VI.; Kruis (Fn. 16), S. 67.
BVerfG – kein absoluter.65 Die Begrenzung sei Ausfluss der tschechischen Souveränität, die auf Art. 1 Abs. 1 UC („Die Tschechische Republik ist ein souveräner, einheitlicher und demokratischer Rechtsstaat, der die Achtung der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers zur Grundlage hat“) beruhe.66 So dürfen auch übertragene Hoheitsbefugnisse nur in mit den Grundlagen der Souveränität konformer Weise und nur so ausgeübt werden, dass „the very essence of the substantive law-based state“ nicht bedroht wird.67 Sollte dies bei Wahrnehmung derart bedingt68 übertragener Kompetenzen durch die Union nicht mehr der Fall sein, sei es wieder an den tschechischen Staatsorganen, diese Hoheitsrechte wahrzunehmen.69 Die o.g. Gehalte des Art. 1 Abs. 1 UC entzieht das Gericht unter Verweis auf die Ewigkeitsklausel des Art. 9 Abs. 2 UC der Verfügung des Gesetzgebers.70 Nicht eindeutig beantwortet wird die Frage, ob sich diese Vorrangbegrenzung auf das Verfassungsrecht insgesamt bezieht oder – wofür die verwendeten Formulierungen essential attributes, constitutive principles, the very essence sprechen – nur auf einen integrationsfesten Kern.71 Für letzteres spricht die Einlassung, europäische Rechtsakte und hierdurch determiniertes Recht würden nicht mehr am Maßstab der Verfassung überprüft, wenn nicht die o.g. außergewöhnlichen Umstände vorlägen.72
Zu Grenzen für Verfassungsrevisionen liest man Folgendes: Das Gericht definiert einen von der Ewigkeitsklausel geschützten „material core“73 mittels des zentralen Gedankens eines demokratischen Rechtsstaats.74 Inhärent letzterem der Schutz unveräußerlicher Grundrechte.75 Zudem nennt es Demokratie, Volkssouveränität und Gewaltenteilung. Weitere Kompetenzübertragungen seien ausgeschlossen, wenn damit die Souveränität Tschechiens i.S.d. Art. 1 Abs. 1 UC vollständig aufgehoben würde.76 Auch das UsCr begreift Souveränität nicht als vollständige Unabhängigkeit77 , sondern angesichts der Interdependenzen einer globalisierten Welt als die Fähigkeit an internationalen Mechanismen zu partizipieren und selbstbestimmt über Beschränkung zu entscheiden.78 Das Konzept der „pooled sovereignty“ könne unter den o.g. Bedingungen gerade Stärkung der Souveränität bedeuten.79 Aus den umrissenen Gründen geht das Gericht davon aus, die Frage nach der Grenze für Übertragungen gem. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. 10a Abs. 1 i.V.m. Art. 9 Abs. 2 UC sei in erster Linie eine politische, dem Gesetzgeber zugewiesene Frage, sodass das Gericht keinen Katalog unübertragbarer Kompetenzen aufstellen könne, sondern sich vielmehr auf individuelle nachgängige Kontrolle zu beschränken habe.80
C. Integrationsschranken im europäischen Vergleich
Im Folgenden soll – anknüpfend an die Vorranggrenzen (I.) – die Frage behandelt werden, bis zu welchem Grad auch im Hinblick auf mögliche Änderungen des europäischen Primärrechts Verfassungsrevisionen möglich sind (II.) und welche materiellen Gehalte hier in Ansatz gebracht werden (III.), bevor ein Blick auf die prozessualen Umstände geworfen wird (IV.).
I. Vorrangbegrenzung durch Verfassungsrecht
Wie oben gezeigt, wird ganz überwiegend ein Vorrang vor der Verfassung anerkannt, der nur durch einige Höchstwerte beschränkt wird. In Frankreich geschieht dies – anders als in Deutschland oder Italien – nicht expressis verbis, sondern durch Auslegung des Integrationsartikels 88-1 CF.81 Durch diesen – nicht unumstrittenen82 – Kunstgriff vermeidet der Conseil die offene Konfrontation.83 Die verfassungsrechtliche Umsetzungsverpflichtung erlaubt es dem Conseil nicht nur, europäisches Recht (theoretisch84) am Maßstab der Verfassung zu überprüfen, sondern auch die Untersuchung auf mögliche Kollisionen mit der identité constitutionnelle zu beschränken,85 die zunächst in der Formulierung des Verfassungsvertrags bzw. des Vertrags von Maastricht „identité nationale“ Eingang in seine Rspr. fand.86 Mit der Bezugnahme auf die europarechtliche Schutzklausel wählt der Conseil einen Ansatz, den auch das BVerfG zunächst bei Vertragskontrollen in Stellung brachte und nun als Vorranggrenze aktivierte.87 Es bestehen freilich erhebliche Diskrepanzen zwischen den Gerichten, was Inhalte und insb. Flexibilität dieser Grenze angeht (dazu sogleich).
Interessant ist insb. mit Blick auf das bisherige und neue deutsche Modell88 die Vorrangbegrenzung, wie sie die Corte seit den 1970er Jahren in Italien vollzieht: Der Vorrang wird in beiden Staaten ausdrücklich auch gegenüber der Verfassung grds. bejaht, findet seine Grenze aber in Höchstwerten. 89 Auf den ersten Blick nahezu identisch, offenbaren sich aber Differenzen im Fall der – bislang in beiden Staaten nur hypothetischen – Situation eines Verstoßes. Die Gemeinsamkeit erschöpft sich darin, dass dem betreffenden Rechtsakt die Geltung auf dem jeweiligen Staatsgebiet abgesprochen werden würde. Das BVerfG geht davon aus mit dem Zugriff auf Identitätsgehalte läge zugleich auch ein ultra-vires-Akt
65 Ausdrücklich UsCr, Pl. ÚS 66/04, 03.05.2006, Abs. 53.
66 UsCr (Fn. 64), VI, B.; Laulhe Shaelou (Fn. 57), S. 142.
67 UsCr (Fn. 64), VI, B.
68 UsCr (Fn. 64), VI, B; Mayer in: v.Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht2, 2009, S. 582.
69 UsCr (Fn. 65), Abs. 53; (Fn. 64), VI, B.
70 UsCr (Fn. 65), Abs. 82; (Fn. 64), VI, B.
71 Wie hier: Kruis (Fn. 16), S. 61, 67; Lindner, Richter der Integration, 2016, S. 205; Vyhnánek, ICL 2015, 240 (241); Pítrová, TLQ 2/2013, 86 (95f.); Wendel (Fn. 43), S. 456, 458; Arnold (Fn. 53), S. 314; a.A. Hufeld, JOR 2007, 263 (277).
72 UsCr (Fn. 65), Abs. 52, 54; (Fn. 64), VI, B.
73 UsCr (Fn. 63), Abs. 90; in der Regierungsstellungnahme ist bereits von der „identity of the constitution“ die Rede, ibid. Abs. 35.
74 UsCr (Fn. 63), Abs. 93; Laulhe Shaelou (Fn. 57), S. 139.
75 UsCr (Fn. 63), Abs. 93.
76 UsCr (Fn. 63), Abs. 107.
77 UsCr (Fn. 63), Abs. 107.
78 UsCr (Fn. 63), Abs. 100ff.; Arnold (Fn. 53), S. 316f.
79 UsCr (Fn. 63), Abs. 104, 108; Pl. ÚS 29/09, 03.11.2009, Abs. 114.
80 UsCr (Fn. 63), Abs. 109; (Fn. 79), Abs. 111.
81 Charpy, RFDC 2009, 621 Rn. 11f.
82 Krit. Haguenau-Moizard (Fn. 17) § 15 Rn 27; s. a. Platon, Revue de l’union européenne (RUE) 2012, 150 (151) dort Fn. 7.
83 Hufeld (Fn. 10), S. 46; Walter, ZaöRV 2012, 177 (185): „Modellierung“ des Vorrangs.
84 s. Charpy, RFDC 2009, 621 Rn. 32ff.
85 CC (Fn. 23), cons. 19; Chaltiel, RMC 2007, 61 (61).
86 CC déc. n° 2004-505 DC, 19.11.2004, cons. 12; Picod (Fn. 28), I.
87 BVerfGE 140, 317 (337ff.); Dobbs, YEL 2014, 298 (333); Pernice, AöR 2011, 185 (214f.).
88 Aufgabe des Solange-II Ansatzes? dazu supra Fn. 13.
89 Corte, sent. n. 170, 05.06.1984, cons. in diritto 7.
vor, mithin ein Handeln, das nicht gestattet wurde, worauf sich der Rechtsanwendungsbefehl im Zustimmungsgesetz also gar nicht beziehe.90 Es schließt mithin zum einen vom rechtlichen Dürfen des Übertragungsgesetzgebers auf sein Können.91 Zum anderen versucht es, durch den o.g. Verweis auf Art. 4 Abs. 2 EUV die Unionsrechtskonformität seiner Konstruktion zu belegen um ein Auseinanderfallen von Verfassungsrecht und externen Verpflichtungen zu vermeiden.92 Die Corte wählt einen anderen Weg: Sie geht von der grds. Übertragung der Hoheitsgewalt auf die EU aus. Sollte diese in einer den controlimiti widersprechenden Weise ausgeübt werden, schaltet sie einen Schritt zwischen Unionsrechtsakt und seiner Unanwendbarkeit: Unter der Prämisse, dass das die Geltungsanordnung enthaltene Zustimmungsgesetz beliebig oft teilbar ist, würde sie den Teil des Gesetzes aufheben, der dem Unionsrechtsakt innerstaatliche Geltung verleiht.93 Durch die Aufspaltung vermeidet die Corte die grds. Infragestellung der EU-Mitgliedschaft.94
Die tschechische Haltung scheint ambivalent: In der Entscheidung zum europäischen Haftbefehl positionierte das Gericht sich dahingehend, dass Unionsrecht und determiniert darauf beruhendes nationales Rechts nicht am Maßstab der Verfassung überprüfbar seien, wenn nicht eine ultra-vires Konstellation vorliege oder die Verfassungskerne verletzt seien.95 Insoweit entspräche die Position i.E. der des Corte und des BVerfG. In der gleichen Entscheidung äußert das Gericht freilich auch, dass internationale Verpflichtungen, deren Verfassungswidrigkeit nicht durch Konformauslegung vermieden werden können, eine Verfassungsänderung erfordern.96 Diese scheinbare Diskrepanz lässt sich auflösen, wenn man die strittige Natur von Rahmenbeschlüssen und die Betonung ihres intergouvernementalen Charakters durch das Gericht berücksichtigt.97 Dafür spricht auch die Bezugnahme des Gerichts auf andere Vorrangbegrenzungen (insb. der Corte und des BVerfG) in Verbindung mit den „core principles“.98 Bez. der Rechtsfolgen eines Verstoßes bleibt das Gericht vage. Offensichtlich ist, dass es einem solchen Rechtsakt die Gefolgschaft verweigern würde. Fraglich ist die Konstruktion. Die Ausführungen, die Übertragung von Hoheitsrechten sei ein „conditional loan“ und bei Bedrohung der „very essence of state sovereignty“ müssten diese Befugnisse „be once again taken up by the […] state bodies“, sprechen für die Annahme einer Bedingung und den automatischen Rückfall,99 i.E. also für einen Mittelweg zwischen den vorgenannten Varianten.
Ersichtlich weitergehend als die Rspr. der Gerichte, die dem unionsrechtlichen Anwendungsvorrang lediglich bestimmte Höchstwerte entgegensetzen, ist die Praxis in Polen.100 Unter Berufung auf die Verfassung, wird dem Unionsrecht ein Rang zwischen dieser und dem einfachem Recht zugewiesen, sodass bei Kollision erstere den Ausschlag gibt.101
II. Identitätsschutz und Verfassungsrevision
Die Feststellung, dass in jeder der verglichenen Rechtsordnungen eine Vorrangbegrenzung praktiziert wird, führt zu der Frage der Flexibilität. Mit der Anpassung der Verfassung an das (zunächst sekundäre) Unionsrecht wird zudem relevant, wo in letzter Konsequenz die Grenzen der Integration im Hinblick auf weitere Änderungen der Verträge verlaufen.
In Frankreich wird der Komplex schlicht durch Verfassungsänderung gehandhabt. Der Conseil hält wie gesehen sekundärem Unionsrecht zunächst die o.g. drei Kriterien, letztlich aber die Entscheidung des Verfassungsgebers102 entgegen. Das führt freilich zu der Frage, ob eine solche Revision ihrerseits Grenzen kennt. Der Conseil verneint dies.103 Damit ist die „identité constitutionnelle“ keine statische Größe, sondern Frage von politischen, verfassungsändernden Mehrheiten.104 Was Identität ist, entscheidet letztlich der pouvoir constituant originaire im Wege des Referendums oder sein Vertreter, der Congrès.105 Der von Teilen der Literatur ins Feld geführte Art. 89-5 CF, der aus historischen Gründen eine spezielle Absage an die Monarchie enthält, vermag in dieser Konzeption keine Wirkung zu entfalten.106
Auf eine textuell ähnliche Norm beruft sich dagegen das BVerfG mit Art. 79 Abs. 3 GG. Die Gemeinsamkeit mit der Rspr. des Conseil erschöpft sich also darin, dass beide Verfassungen nur eine Reaktion sowohl für die Begrenzung des Vorrangs, wie für Änderungen des Primärrechts bereitshalten: Wo in Frankreich der Verfassungsgesetzgeber stets gezwungen wird, sich die Folgen seines Handelns bewusst zu machen, endet in Deutschland stets die politische Entscheidungsmacht.107
Die italienische Vorranggrenze geht inhaltlich in eine ähnliche Richtung wie die deutsche (s.u.), unterscheidet sich jedoch u.a. in der Herleitung. Art. 139 CI wird – trotz seines vermeintlichen Potenzials108 – nur am Rande bemüht, die Corte leitet die controlimiti vielmehr aus den Art. 1 und 2 CI (Demokratie, Volkssouveränität, Rechtsstaatlichkeit, unveräußerliche
90 BVerfGE 140, 317 (336f.); 134, 366 (384f.).
91 Krit. hierzu Sauer, NJW 2016, 1134 (1136f.).
92 Vgl. Herdegen, Europarecht19, 2017, § 10 Rn. 25; krit. Sauer, NJW 2016, 1134 (1136f.).
93 Wendel (Fn. 43), S. 445f.
94 Panara (Fn. 17), § 18 Rn. 34.
95 UsCr (Fn. 65), Abs. 53f.; Bestätigung u.a. in (Fn. 64), VI.
96 UsCr (Fn. 65), Abs. 82.
97 UsCr (Fn. 65), Abs. 55ff.; hierzu Claes in: Arnull/Chalmers (Hrsg.), The Oxford Handbook of European Union Law, 2015, S. 183.
98 UsCr, (Fn. 64), VI. A.
99 UsCr, (Fn. 64), VI, B; (Fn. 63), Abs. 94, 113, 130.
100 Hufeld, (Fn. 10), S. 47.
101 Kowalik-Bańczyk, GLJ 2005, 1355 (1365f.).
102 Wenn der Conseil die Kontrolle von Revisionen der CF verweigert, folgt er der Ansicht, der „pouvoir constitué originaire“ verfüge nicht über mehr Befugnisse als der ihn vertretende Congrès; s. Wittekindt, Materiell-rechtliche Schranken von Verfassungsänderungen im deutschen und französischen Verfassungsrecht, 2000, S. 122f.; Vedel, Revue française de droit administratif, (RFDA) 1992, 173 (179).
103 CC déc.s n° 92-312 DC du 02.09.1992, cons. 19; n° 92-313 DC du 23.09.1992, cons. 5.
104 Walter, ZaöRV 2012, 177 (187ff.); s. auch Nettesheim, EuR Beiheft 1/2010, 101 (113f.); Rousseau (Fn. 36), S. 99, der Recht als Prozess begreift.
105 CC déc. n°92-312 DC, 02.09.1992, cons. 19; Reestman, EuConst 2009, 374 (388).
106 Wendel (Fn. 6), § 8 Rn. 61, ders. (Fn. 43), S. 333; Rousseau (Fn. 36), S. 96.
107 Wendel, EuConst 2011, 96 (133).
108 Den Begriff „Republik“ entsprechend „aufladen“ will Klamt, Die Europäische Union als streitbare Demokratie, 2011, S. 95.
Menschenrechte) her, die sie auch ausdrücklich einer Verfassungsänderung entzieht.109
An die Solange-Rspr. des BVerfG erinnert dagegen die Rspr. des UsCR, wenn es konstatiert, dass der Grundrechtsstandard der EU derzeit keinen Anlass gebe den Vorrang zu begrenzen.110 Allerdings behält es sich eine Überprüfung vor,111 denn auch der Kernbestand der Grundrechte gehöre zu den Verfassungsprinzipien, auf die es die Ewigkeitsklausel des Art. 9 Abs. 2 UC bezieht.112 Wenn das hier vertretene Verständnis dieser Rspr. geteilt wird, findet der Anwendungsvorrang demnach eine Grenze in den von der o.g. Norm umfassten Prinzipien. In seiner Wirkweise entspricht Art. 9 Abs. 2 UC mithin dem italienischen und dem deutschen Modell: Formal erfährt die Übertragung von Hoheitsrechten zumindest theoretisch eine absolute Grenze. Im Gegensatz zu der dynamischen Handhabung durch Corte und BVerfG fordert das UsCr aber bei Primärrechtsänderungen eine explizite Verfassungsänderung, soweit eine Kollision zwischen Verfassungs- und Vertragstext nicht durch Konformauslegung vermieden werden kann.113
Mangels Anerkennung eines Vorrangs auch vor Verfassungsrecht besteht dieses Erfordernis in Polen stets im Fall der Kollision mit Sekundärrecht.114 Das Fehlen einer expliziten Ewigkeitsklausel in der polnischen Verfassung wirkt sich zudem dergestalt aus, dass man zwar einige Höchstwerte der geltenden Verfassungsordnung benennt, die einer Übertragung von Hoheitsrechten im Wege stehen. Ähnlichkeiten zum französischen Modell bestehen insoweit, als dass auf die Möglichkeit einer Verfassungsänderung zur Herstellung der Unionsrechtskonformität verwiesen wird.115 Das Gericht legt großen Wert, auf die Einhaltung verfassungsrechtlicher Verfahrensschritte für Übertragungen, es fehlt aber eine ausdrückliche Positionierung, ob bestimmte materielle Gehalte einer Revision entzogen sind.116
Erneut sei darauf hingewiesen, dass zum Teil bereits tatbestandliche Grenzen der Kompetenzübertragung bestehen (CI, KP, UC), die aber unterschiedlich berücksichtigt werden: Während die Corte final argumentiert, fokussiert der Trybunal den Wortlaut und das UsCr füllt die Tatbestandbegrenzung systematisch117 durch die Ewigkeitsklausel aus. Normen dieser Art operationalisieren nur zwei Gerichte, im Modus bestehen allerdings auch hier große Unterschiede (sogleich). Ein drittes Gericht, das italienische, postuliert dagegen unantastbare Höchstwerte, relativ unabhängig von einer geschriebenen Ewigkeitsklausel. In Polen werden dagegen zwar der Supremat der Verfassung und auch im Rahmen der geltenden Verfassungsordnung unantastbare Höchstwerte betont, eine explizite Stellungnahme zu änderungsfestem Verfassungsrecht erfolgt jedoch nicht.118
III. Inhalte der verfassungsgerichtlichen Identitätskonzepte
Vorangestellt sei bereits, dass alle verglichenen Staaten einen grundrechtlichen Mindeststandard zur Verfassungsidentität zählen. Übereinstimmend genannt werden das demokratische Prinzip, das Rechtsstaatsprinzip und die Ausübung der Grundlagen der Souveränität.119 Die Sicherung dieser Inhalte im Mehrebenensystem, sowie weitere staatsorganisationsrechtliche Vorbehalte unterscheiden sich z.T. erheblich. Angesichts des teilweise enormen Detailreichtums einiger Entscheidungen kann hier nur auf einige Hauptcharakteristika eingegangen werden. Sonderfälle bilden Frankreich und Italien allerdings insoweit, als dass die Ausführungen der Corte und des Conseil diesbez. erheblich knapper ausfallen, als in Deutschland und den „jungen“ Mitgliedstaaten. Das mag in Frankreich an den traditionell sehr knappen Urteilsbegründungen120 sowie am Konzept der Verfassungsidentität des Conseil (dazu sogleich) liegen und in Italien am Alter der gefestigten controlimiti-Lehre121 , zumal die Corte keine Entscheidungen zu den reformierten Verträgen treffen musste.122 Feststellen lässt sich einzig, dass sie über die o.g. Formulierung der abstrakten controlimiti bisher nicht hinausgegangen ist und mangels Verstoß, auch noch keinen Anlass für eine Konkretisierung hatte.123 Insofern stellt sich die Frage, ob der Übertragung überhaupt materielle Grenzen entgegengehalten würden, solange die Ausübung der Kompetenzen die controlimiti nicht tangiert.
Angesichts des Politikvorbehalts stellt es sich für den Conseil kompliziert dar, vom Ergebnis her denkend, abstrakt festzustellen, welche Bestimmungen eigentlich die identité constitutionnelle ausmachen: Mit jeder Revision der Verfassung kann sie sich ändern. Dementsprechend sucht der Conseil keinen statischen Zugang, sondern einen dynamisch-induktiven. Dies wird besonders deutlich, wenn er danach fragt, was denn die CF noch vom europäischen Verfassungsrecht unterscheide (Kriteria der spécifité und der disposition expresse contraire) bzw. in welchen Punkten Souveränität derart eingeschränkt würde, dass ein wesentlicher Teil an Entscheidungsbefugnis wegfiele.124 Die Aufzählung von Sachbereichen in den Entscheidungen zu den Verträgen von Maastricht und Lissabon ist insofern dergestalt zu betrachten, dass diese bloß unter Revisionsvorbehalt stehen.125
109 Corte, sent. n.1146, 15.12.1988, cons. in diritto 2.1; Tarli Barbieri/Federico in: De Luca/Simoni (Fn. 39), S. 14; Wendel (Fn. 43), S. 329; Cartabia (Fn. 42), S. 316.
110 UsCr (Fn. 79), Abs. 104; vgl. Vyhnánek, ICL 2015, 240 (241).
111 Wendel (Fn. 43), S. 458; Piqani, EJLS 2007, 213 (225).
112 Insofern ähnlich, der neue Ansatz des BVerfG, s.o. Fn. 12, 13.
113 UsCr (Fn. 63), Abs. 85, 91; vgl. Wendel (Fn. 43), S. 160; Hufeld (Fn. 10), S. 50; 54ff.; Arnold (Fn. 53), S. 318.
114 Tryb., 45/09, 16.11.2011, Abs. 2.7; Kowalik-Bańczyk, GLJ 2005, 1355 (1360f.).
115 Piqani, EJLS 2007, 213 (221).
116 Zur Diskussion um Ewigkeitsgarantien in Polen s. Marciniak, VerfBlog, 2016/6/28.
117 UsCr (Fn. 63), Abs. 97.
118 Wendel, EuConst 2011, 96 (124ff.).
119 Walter, ZaöRV 2012, 189 (193); v.Bogdandy/Schill, ZaöRV 2010, 701 (715f.).
120 Magnon, RFDC 2010, 417 Rn. 9.
121 Bereits bei Herausbildung der controlimiti-Lehre, hielt man es für unwahrscheinlich, dass ein Eingriff erfolgen würde, vgl. Caponi/Piekenbrock (Fn. 39), § 26 Rn. 20 m.w.N.
122 S. Wendel, ICON 2013, 981 (982); Miccú (Fn. 39), S.112; s.a. Bifulco, in: Huber (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon und das nationale Verfassungsrecht, 2013, S. 58f.
123 Caponi/Piekenbrock (Fn. 39), § 26 Rn. 23; Wendel, EuConst 2011, 96 (126).
124 CC déc. n° 2007-560 DC, 20.12.2007, cons. 15, 16, 18, 20, 23.
125 Rathke (Fn. 34), S. 127f.; Wendel, EuConst 2011, 96 (133).
Dieser sehr offenen Konzeption stellt das BVerfG nicht nur einen Katalog „seit jeher“126 besonders sensibler Sachbereiche entgegen (s.o.), sondern entwickelt aus dem Demokratieprinzip auch ein Individualrecht auf bzw. die Garantie der Staatlichkeit per se.127 Insb. dürfe die Übertragung von Hoheitsrechten nicht zur Kompetenz-Kompetenz der EU führen.128
Letzteres findet sich auch in den Urteilen des polnischen bzw. tschechischen Gerichts.129 Sind sich die Gerichte diesbez. auch einig, lenken sowohl UsCR und Trybunal – z.T. unter direkter Bezugnahme auf die Lissabon-Entscheidung des BVerfG – den Blick auf die Schwierigkeit, was die Aufstellung eines solch detaillierten Katalogs angeht.130 Das polnische Gericht unternimmt denn zwar den Versuch, der sich aber schließlich auch nur in einer Aufzählung allgemeiner Prinzipien erschöpft.131 Bemerkenswert scheint die Annahme, zumindest einer Teilidentität von polnischer Verfassungsidentität und den inArt. 2, 3 EUV formulierten Werten der Union.132 Das tschechische Gericht belässt es vollständig, bei der Aussage, dem Gesetzgeber stehe ein weiter politischer Einschätzungsspielraum zu und beschränkt sich auf eine Kontrolle im Einzelfall.133 Insb. fällt auf, dass sowohl das tschechische als auch das polnische Gericht mehr in Prozessen denken und die Souveränität ihrerseits über die freie Entscheidung definieren, Hoheitsrechte zu übertragen.134
IV. Verfassungsidentität vor Gericht
Anschließend soll noch auf einige prozessuale Umstände eingegangen werden. Häufige Tendenzen sind die Beanspruchung eines Letztvorbehalts für die zumindest mittelbare Kontrolle des betroffenen EU-Rechts am Maßstab der Verfassung, unter gleichzeitiger Betonung des ultima ratio-Charakters bzw. der geringen Wahrscheinlichkeit dieses Schritts135 , sowie die Beschränkung der eigenen Kontrolle auf den nicht determinierten Teil des Umsetzungsrechtsakts.136
Wie auch in den anderen Staaten vollzieht sich die gerichtliche Kontrolle der Integrationsgrenze in Deutschland über die allgemeinen Verfahrensarten.137 Besondere Beachtung verdient allerdings die Konstruktion mittels derer das BVerfG eine Individualverfassungsbeschwerde gegen Primärrechtsänderungen gewährt: Neben der „Menschenwürdebeschwerde“138 führt es eine Kontrolle ein, in der es die Behauptung des Klägers, es sei zu einer Kompetenzentleerung gekommen, überprüft, denn „der Wahlakt verlöre seinen Sinn, wenn das gewählte Staatsorgan nicht über ein hinreichendes Maß an Aufgaben und Befugnissen verfügte“.139 Mangels eines rügefähigen Rechts wird das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG dahingehend aufgeladen, dass es dem Wähler zustehe, einen Abgeordneten mit hinreichenden Befugnissen zu wählen.140 Dies ist bemerkenswert. Zum Einen verfügen Frankreich und Italien über keine Verfassungsbeschwerde, sodass Individualkläger verfassungsgerichtliche Kontrolle ausschließlich innerhalb eines einfachgerichtlichen Verfahrens – es geht regelm. um die Wirkungen europäischen Sekundärrechts – im Rahmen einer Art „konkreter Normenkontrolle“ erlangen können.141 Zum anderen ist in Frankreich, wie auch in Polen und Tschechien der Kreis der möglichen Antragsteller i.R.d. ex-ante Kontrolle völkerrechtlicher Verträge exklusiv auf organschaftliche Kläger beschränkt.142 Indem das BVerfG den Einzelnen zum quasi-Staatsorgan macht,143 vergrößert es den ohnehin vergleichsweise weiten Kreis der Antragsberechtigten und damit auch die Wahrscheinlichkeit einer Kontrolle.144
D. Sagt das Bundesverfassungsgericht „ja zu Europa“?145
Die nationalen Verfassungsgerichte und der EuGH bewegen sich inzwischen in einem hybriden Verbundsystem, das – auch und gerade im Hinblick auf Art. 4 Abs. 3 EUV – ein Höchstmaß an Kooperations- und Diskursbereitschaft sowie insb. auf mitgliedstaatlicher Seite richterliche Selbstbeschränkung, Rücksichtnahme und Deeskalation146 voraussetzt um Konflikte zu vermeiden.147 Zur Operationalisierung der nationalen Identität zugunsten der Mitgliedstaaten haben auch der EuGH und seine Generalanwälte inzwischen Kooperationsangebote gemacht.148 Konfliktvermeidung erfolgt zudem durch europarechtskonforme Auslegung, wie sie inzwischen Gang und Gäbe ist.149 Hinzu kommen Tendenzen, Werte, insb. Grundrechte als auf unionsrechtlicher Ebene bereits garantiert zu betrachten
126 BVerfGE 123, 267 (359ff.), krit. Halberstam/Möllers, GLJ 2009, 1241 (1250f.).
127 Böse, ZIS 2010, 76 (76); Nettesheim, NJW 2009, 2867 (2869).
128 BVerfGE 123, 267 (349f., 353, 381ff.).
129 Tryb. (Fn. 54), Abs. 2.1 S. 23; vgl. Dobbs, YEL 2014, 298 (312) m.w.N.
130 Tryb. (Fn. 54), Abs. 2.1 S. 22f.; UsCr (Fn. 79), Abs. 111.
131 Tryb. (Fn. 54), Abs. 2.1 S. 23; Arnold (Fn. 53), S. 316.
132 Tryb. (Fn. 54), Abs. 2.2 S. 28.
133 UsCr (Fn. 79), Abs. 111.; Laulhe Shaelou (Fn. 57), S. 142f.
134 Rathke (Fn. 34), S. 121f.; Hufeld (Fn. 10), S. 51.
135 Tryb. (Fn. 114), 2.7; UsCr (Fn. 65), 53.; Corte, sentenza 170, 05.06.1984, cons. in diritto 7; ordinanza 454, 13.12.2006.
136 Wendel (Fn. 43), S. 458; Charpy, RFDC 2009, 621 Rn. 34.
137 BVerfGE 123, 267 (354f.); Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht10, 2015, Rn. 360b.
138 Vgl. insb. BVerfGE 140, 317.
139 BVerfGE 123, 267 (330); sowie jüngst BVerfG, U.v. 21.06.2016, 2 BvR 2728/13, Rn. 80ff.
140 BVerfG, U.v. 21.06.2016, 2 BvR 2728/13, Rn. 81ff., jetzt Kontrollanspruch auch bei verfassungswidrigem Unterlassen.
141 Mayer/Lenski/Wendel, EuR 2008, 63 (65); Marsch (Fn. 6), § 6 Rn. 73f.; Caponi/Piekenbrock (Fn. 39), § 26 Rn. 11; Sommermann, DÖV 1999, 1017.
142 Vranes (Fn. 17), S. 89; Kustra, GLJ 2015, 1543 (1546); Laulhe Shaelou (Fn. 58), S. 137, 143f.
143 Mayer, EuR 2014, 473 (501ff.); krit. Sondervota zu BVerfGE 134, 366 der „Lissabon-Richter“ Lübbe-Wolff (Rn. 15ff.) und Gerhardt (Rn. 21).
144 Hufeld (Fn. 10), S. 52; krit. Mayer, EuR 2014, 473 (501ff.).
145 Voßkuhle: „Das Grundgesetz sagt ‚Ja’ zu Lissabon[…]“, FAZ vom 30.06.2009; dagegen Halberstam/Möllers : „The GCC says ‚Ja zu Deutschland’“, GLJ 2009, 1242ff.
146 Insb. zu erwogenen „Identitätskontrollverfahren“ Sauer, ZRP 2009, 195 (197f.).
147 Haratsch, EuR 2016, 131 (139f.); Mayer, EuR 2014, 473 (499); Mayer/Walter, VerfBlog 2013/7/12; Martin, RFDC 2012, 13ff. Rn. 64; Pernice, AöR 2011, 185 (211ff., 214f.); v.Bogdandy/Schill, ZaöRV 2010, 701 (705, 735f.).
148 Z.B. EuGH, Rs C-208/09, Slg. 2010, I-13693, Rn. 83 – Sayn-Wittgenstein/LH v. Wien; Corrias, EP 2016, 383 (388ff.); Dobbs, YEL 2014, 298 (308f.); z. älteren Rspr. s. Platon, RUE 2012, 150 (153ff.); zur Haltung der Generalanwälte s. Martin, RFDC 2012, 13 Rn. 5, 54, 68.
149 Caponi/Piekenbrock (Fn. 39), § 26 Rn. 16; Gänswein (Fn. 52), S. 152f.
und damit nicht mehr zu prüfen.150 Neben solche Äquivalenzannahmen können Homogenitätserwägungen i.d.S. treten, dass das Europarecht Kernprinzipien der eigenen Verfassung übernimmt und so die Grenzen dessen, was internen Schutzes bedarf, verschwimmen, tatsächlich auftretende Konflikte unwahrscheinlich werden.151
Die Europarechtsprechung des BVerfG zeichnet ein ambivalentes Bild. Zwar wird das Gericht nicht müde, die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und das „Hand in Hand“-Gehen im europäischen Verfassungsgerichtsverbund zu betonen; so findet sich in fast jeder dieser Entscheidungen auch die Warnung, im Ausnahmefall werde man gegen das Europarecht entscheiden.152 Es geht (unter Verweis auf Art. 4 Abs. 2 EUV) zudem davon aus, dass ihm eine solche Letztentscheidung auch kraft Europarechts zustehe.153 Allein steht es in Europa damit jedoch nicht: Letztvorbehalte finden sich auch in den Urteilen anderer europäischen Verfassungsgerichte.154 Die Vorlagepraxis zum EuGH ist ebenfalls uneinheitlich, wenn das BVerfG auch als Nachzügler dasteht und insb. der Conseil auf Machtdemonstrationen verzichtet.155 Zurückhaltung ggü. dem eigenen Gesetzgeber, d.h. Zurückhaltung in politischen Fragen, wie sie dem Konzept des Conseil innewohnt und wie sie z.B. das UsCr übt, sucht man in Karlsruhe vergebens.156 Zudem wird wie gezeigt die Möglichkeit einer de facto Popularklage gegen die weitere Integration eröffnet.157 Dies gilt erst Recht für die Garantie des Staates als solchem: Zwar taucht die Staatlichkeit auch in anderen158 Entscheidungen – namentlich der polnischen und tschechischen Gerichte – auf, die im Stil der Ausführungen an das BVerfG erinnern, sie findet sich jedoch weitaus seltener, und auch hier lediglich in Aufzählungen, nicht als zentrales Argument.159 Es fragt sich also, ob – insb. angesichts der restriktiven Handhabung derartiger Klauseln andernorts – Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG wirklich zwingend eine nationalstaatliche Demokratie fordert, oder ob der Norm nicht auch anders genüge getan werden kann, solange ihr Schutzzweck gewahrt ist.160 Insofern scheint der Vorwurf, das BVerfG betreibe Staatstheorie angesichts dieser detaillierten Vorgaben und Vorbehalte jedenfalls nicht aus der Luft gegriffen.161 Im Hinblick auf die geforderte richterliche Zurückhaltung kann die Frage gestellt werden, ob angesichts der unbestimmten Begriffe162, mit denen im Verfassungsrecht operiert wird und die Notwendigkeit ihrer Ausfüllung durch gesetzgeberische Entscheidung, eben diese „von dem freien Ermessen eines politisch mehr oder weniger willkürlich zusammengesetzten Kollegiums, wie es das Verfassungsgericht ist, abhängig[…]“163 sein sollte.
150 CC déc. n° 2010-79 QPC, 17.12.2010,cons. 3; Dobbs, YEL 2014, 298 (312); Walter, ZaöRV 2012, 177 (195);Charpy, RFDC 2009, 621 Rn. 37; UsCr (Fn. 65), 52.
151 51]Tryb. (Fn. 54), Abs. 2.2 S. 28; Rousseau (Fn. 37), S. 98f.; Corrias, EP 2016, 383 (390f.); Walter, ZaöRV 2012, 177 (194); Nicolaysen, EuR Beiheft 1/2010, 9 (17).
152 BVerfGE 123, 267 (354f.) sowie jüngst BVerfG, U. v. 21.06.2016, 2 BvR 2728/13, Rn. 154ff.
153 BVerfG, U. v. 21.06.2016, 2 BvR 2728/13, Rn. 140; vgl. aber Sauer, VerfBlog, 2016/4/7.
154 Überblick bei Mayer (Fn. 68), S. 579ff; Piqani, EJLS 2007, 213 (229).
155 Z. Stil ggü. d. EuGH: Sauer, VerfBlog, 2015/6/17; Mayer/Walter, VerfBlog, 2013/7/12; u. 2013/4/15; v.Bogdandy/Schill, ZaöRV 2010, 701 (716) „rhetorische“ Diskussion.
156 Wendel, ICON 2013, 981 (989); v.Bogdandy/Schill, ZaöRV 2010, 701 (721); s.a. Bifulco (Fn. 122), S.61;s. Lübbe-Wolff u. Gerhardt, Sondervota zu BVerfGE 134, 366 (420ff. bzw. 430ff.).
157 Mayer, EuR 2014, 473 (501); Haratsch, ZJS 2010, 122(123f.); Nettesheim, NJW 2009, 2867 (2869).
158 I.d.R. BVerfGE 123, 267 zeitlich nachfolgenden.
159 Wendel, EuConst 2011, 96 (136); krit. Cassese (Fn. 1), S. 126, 130f.
160 Herdegen (Fn. 92), § 10 Rn. 27; Pernice, AöR 2011, 185 (219); Böse, ZIS 2010, 76 (79f.) vgl. a. Sauer (Fn. 7), § 9 Rn. 16.
161 Nettesheim, NJW 2009, 2867 (2868); Jestaedt, Der Staat 2009, S. 510f.; Schönberger ibidem S. 542f.; Walter, ZaöRV 2012, 177 (193); Sauer, in: Schröder /v.Ungern-Sternberg (Hrsg.), 2011, S. 256ff., 259; s.a. Mayer, in: Burgorgue-Larsen (Hrsg.) (Fn. 36), S. 77ff.
162 Walter, ZaöRV 2012, 177 (189, 190ff.); Nicolaysen, EuR Beiheft 1/2010, 9 (18); s. auch Mayer, EuR 2014, 473 (501ff.) sowie Pernice, AöR 2011, 185 (197f.).
163 Hans Kelsen, VVDStRL 5, 1929, 30 (70).