Die offenbare Unrichtigkeit nach § 129 AO

Zulässigkeit der Berichtigung von Steuerverwaltungsakten

Melina Kammerer *

A. Einführung

Einer Entscheidung des Finanzgerichts Nürnberg aus dem Jahr 2009 zufolge wendet ein Sachbearbeiter des Finanzamts durchschnittlich zwei Minuten auf, um eine elektronisch übermittelte Einkommensteuererklärung zu bearbeiten.1 Angesichts einer so kurzen Bearbeitungsdauer ist es nicht weiter verwunderlich, dass den Sachbearbeitern regelmäßig Fehler unterlaufen. So stellte der Landesrechnungshof Nordrhein-Westfalen zwei Jahre später fest, dass die Fehlerquote bei den vom Risikomanagementsystem als prüfungswürdig angesehenen Sachverhalten zwischen 28 % und 46 % lag.2 Diese Fehlerquote wurde jedoch nicht auf eine mangelnde Rechtskenntnis der Sachbearbeiter, sondern auf eine absichtliche oder versehentliche Nichtbeachtung der aufgeworfenen Hinweise zurückgeführt.3

Derartige Fehler können jedoch gemäß § 129 S. 1 Abgabenordnung (AO) berichtigt werden. Dieser lautet: „1Die Finanzbehörde kann Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. 2Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen. 3Wird zu einem schriftlich ergangenen Verwaltungsakt die Berichtigung begehrt, ist die Finanzbehörde berechtigt, die Vorlage des Schriftstücks zu verlangen, das berichtigt werden soll.“

Angesichts der genannten Fehlerquoten erscheint eine solche Berichtigungsmöglichkeit zunächst auch sachgerecht. Eine ausufernde Berichtigung von Steuerbescheiden nach ihrem Erlass stünde jedoch dem Schutz des Vertrauens des Betroffenen in die Bestandskraft des Bescheids4 entgegen. Die Vorschrift des § 129 AO soll daher einen Ausgleich schaffen. Aufgrund der weiten Formulierung gestaltet sich die Auslegung der Norm allerdings schwierig. Die Anwendungspraxis des § 129 AO stellt daher seit Einführung der Vorschrift einen konstanten Streitpunkt in Rechtsprechung und Literatur dar. Im Fokus steht dabei vor allem das Merkmal der offenbaren Unrichtigkeit.

B. Anwendungsbereich und Regelungsinhalt des § 129 AO

§ 129 AO ist auf alle Steuerverwaltungsakte (§ 118 AO) anwendbar.5 Während § 129 AO nur Berichtigungen betrifft, richtet sich die Änderung von Steuerverwaltungsakten nach den §§ 130 ff. und §§ 172 ff. AO.6 Eine Änderung liegt vor, wenn ein Steuerverwaltungsakt einen anderen Regelungsinhalt erhält, wohingegen eine Berichtigung nur eine Unrichtigkeit beseitigt, ohne eine andere Entscheidung in der Sache selbst zu treffen.7 Die Berichtigung von Steuerbescheiden ist dabei der häufigste und meist diskutierte Anwendungsfall des § 129 AO,8 weswegen die nachfolgenden Erläuterungen sich auf diesen Bereich konzentrieren.

Gemäß § 124 Abs. 1 S. 2 AO werden Steuerverwaltungsakte durch Bekanntgabe mit dem Inhalt wirksam, mit dem sie bekanntgegeben wurden. Mit Ausnahme von Fällen der Suspendierung der materiellen Bestandskraft nach §§ 164 und 165 AO werden Steuerverwaltungsakte demnach durch Bekanntgabe inhaltlich verbindlich, also materiell bestandskräftig.9 Nach Ablauf eines Monats (§ 355 AO) werden Steuerverwaltungsakte zudem formell bestandskräftig.10 Der Betroffene darf dann auf die Wirksamkeit des Steuerverwaltungsakts vertrauen.11 Eine Korrektur von Steuerverwaltungsakten darf nur erfolgen, soweit dies durch eine gesetzliche Vorschrift zugelassen ist.12

Gegenstand der Berichtigung können Erklärungsfehler wie Verschreiben oder Verrechnen sowie ähnliche „mechanische Versehen“13 wie Verwechseln, Vergreifen, Übersehen oder Ähnliches sein. Bewusste Denkfehler wie Rechtsanwendungs- und Sachaufklärungsfehler, die sich schon bei der Entscheidung gebildet haben, können hingegen nicht nach § 129 AO berichtigt werden.14

Die Berichtigung nach § 129 S. 1 AO, die sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten des Steuerpflichtigen erfolgen kann,15 hat nach pflichtgemäßem Ermessen der Finanzbehörde (vgl. § 5 AO) zu erfolgen. Dies ergibt sich aus dem Wort „kann“. Durch § 129 S. 2 AO wird das behördliche Ermessen bei berechtigtem Interesse des Beteiligten an einer Berichtigung allerdings eingeschränkt. Das Interesse muss kein rechtliches sein. Es liegt insbesondere dann vor, wenn der Steuerbescheid für andere Feststellungen bindend ist oder wenn sich die Unrichtigkeit auf die Höhe der Steuerfestsetzung auswirkt.16


* Die Autorin ist Studentin an der Bucerius Law School, Hamburg.

1 FG Nürnberg, EFG 2011, 500, 502.

2 Landesrechnungshof NRW, Jahresbericht 2011, B.23.6.2.

3 Landesrechnungshof NRW, Jahresbericht 2011, B.23.9.2.

4 Ziegler, in: Ax/Große/Melchior/Lotz/Ziegler, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung20, 2010, Rn. 1984.

5 Seer, in: Tipke/Kruse, Kommentar zur AO (ohne Steuerstrafrecht) und FGO143, 2016, § 129 Rn. 2.

6 Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 201522, § 21 Rn. 388; Birkenfeld, DStR 1991, 729.

7 Ziegler, in: Ax/Große/Melchior (Fn. 4), Rn. 1971.

8 Wedelstädt, DB 1985, 1761.

9 Grashoff/Kleinmanns, Aktuelles Steuerrecht 2015 – Alle wichtigen Steuerarten, Verfahrensrecht, Aktuelle Gesetzesänderungen 201511, 2015, Rn. 515, 553; Seer, in: Tipke/Lang (Fn. 6), § 21 Rn. 80-81.

10 Tehler, DStR 2009, 1019, 1020.

11 Ziegler, in: Ax/Große/Melchior (Fn. 4), Rn. 1984.

12 Ziegler, in: Ax/Große/Melchior (Fn. 4), Rn. 1973; Weber, DStR 2007, 1561, 1562.

13 Vgl. BFHE 242, 302, 304; Seer, in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 129 Rn. 10.

14 Seer, in: Tipke/Lang (Fn. 6), § 21 Rn. 390; Birkenfeld, DStR 1991, 729.

15 Birkenfeld, DStR 1991, 729, 732; Hering, DStZ 1984, 220, 226; Zaumseil, AO-StB 2012, 311.

16 Seer, in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 129 Rn. 31; Ziegler, in: Ax/Große/Melchior (Fn. 4), Rn. 1996.

Kammerer, Unrichtigkeit20

C. Auslegung des Tatbestandsmerkmals der „ähnlich offenbaren Unrichtigkeit“

Obwohl § 129 AO an erster Stelle Schreib- und Rechenfehler aufzählt, stellen die „ähnlich offenbaren Unrichtigkeiten“ in der Praxis die Hauptanwendungsfälle der Norm.17 Als Unrichtigkeiten gelten dabei alle Mängel eines Steuerbescheids, soweit es sich nicht um Rechtsfehler handelt.18 In Rechtsprechung und Literatur ist jedoch umstritten, wie das Tatbestandsmerkmal der „ähnlich offenbaren Unrichtigkeit“ auszulegen ist.

Der Streit knüpft an die Rechtslage bezüglich der Vorgängerbestimmung des § 92 Abs. 2 RAO an.19 Hauptstreitpunkt ist dabei, ob sich die Offenbarkeit der Unrichtigkeit aus den dem Betroffenen zugänglichen Unterlagen selbst oder aus der gesamten Aktenlage ergeben muss bzw. ob die Unrichtigkeit für den Betroffenen selbst erkennbar sein muss oder nicht.20 Der BFH und die ihm folgende herrschende Meinung vertreten eine weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals der „ähnlich offenbaren Unrichtigkeit“ und wenden § 129 AO auch auf Fälle an, in denen die offenbare Unrichtigkeit des Steuerbescheids für den Betroffenen nicht erkennbar ist.21 So kann dem BFH zufolge zum Beispiel die Anordnung eines Nachprüfungsvorbehalts nach § 164 Abs. 1 AO „nachgeholt“ werden, wenn das Finanzamt einen Feststellungsbescheid ohne Nachprüfungsvorbehalt bekannt gibt und nur die in der Akte befindliche Durchschrift des Bescheids einen dahingehenden Stempelaufdruck enthält.22 Demgegenüber vertritt eine Mindermeinung die Ansicht, die Unrichtigkeit müsse aus dem Steuerbescheid selbst oder zumindest aus den dem Steuerpflichtigen vorliegenden Unterlagen ersichtlich sein.23

Im Folgenden soll zu dem Problem der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der ähnlichen offenbaren Unrichtigkeiten Stellung genommen werden, indem § 129 AO anhand der Auslegungsgesichtspunkte Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik und Telos untersucht wird.24 Die verschiedenen Auslegungsgesichtspunkte können nicht immer isoliert betrachtet werden, sondern müssen teilweise zusammenwirken und sich gegenseitig ergänzen.25

I. Grammatikalische Auslegung

Der Wortlaut einer gesetzlichen Norm legt die äußersten Grenzen der möglichen Auslegungsmöglichkeiten fest. Eine Auslegung durch den Rechtsanwender darf sich daher nur innerhalb dieser Wortsinnsgrenzen bewegen.26 Insbesondere sind dabei auch der allgemeine juristische Sprachgebrauch und der besondere Sprachgebrauch des Gesetzes zu berücksichtigen, in das die Vorschrift durch den Gesetzgeber eingefügt wurde.27

Für eine Interpretation der Norm nach dem Gesetzeswortlaut sind vor allem die Wörter „offenbar“ und „beim Erlass“ in § 129 S. 1 AO relevant für die Frage, für wen die Unrichtigkeit offenbar sein muss.28

1.  „Offenbar“

Das Adjektiv „offenbar“ bedeutet auch „offen zutage tretend“ oder „klar ersichtlich“.29 Eine Kategorie von Tatsachen, die per se und daher für jedermann ersichtlich ist, gibt es nicht.30 Durch die Verwendung dieses Begriffs allein wird daher noch nicht klar, für wen die Unrichtigkeit offenbar sein muss. Da den am Erlass des Steuerbescheids beteiligten Behördenangehörigen in der Regel mehr Unterlagen zur Verfügung stehen, die Zwischenrechnungen und andere Notizen erhalten, als dem Betroffenen selbst, ist davon auszugehen, dass Unrichtigkeiten zunächst für die Behördenangehörigen klar ersichtlich, mithin offenbar, sind. Ließe man eine hypothetische Erkenntnismöglichkeit Dritter genügen, wäre jedoch festzustellen, dass eine in der Steuerakte dokumentierte Grundlage für eine Unrichtigkeit, wie zum Beispiel eine fehlerhafte Berechnung, nicht nur den Behördenangehörigen, sondern auch jedem der Grundrechenarten fähigen Dritten offenbar im Sinne der oben genannten Bedeutung wäre.31 Letztendlich führt eine Wortlautinterpretation des Begriffs „offenbar“ nicht weiter, da beide Auffassungen vom Wortlaut gedeckt sind.

Da das Wort „offenbar“ in anderen Vorschriften der Abgabenordnung nicht noch einmal verwendet wird, kommt die fachsprachliche Verwendung dieses Tatbestandsmerkmals nicht als Anhaltspunkt in Betracht.32 Lediglich der im allgemeinen Sprachgebrauch synonym verwendete Begriff „offenkundig“ findet sich in § 125 Abs. 1 AO, welcher die Nichtigkeit eines Verwaltungsakts definiert. Nach herrschender Meinung kommt es bei § 125 AO nicht auf die Erkennbarkeit durch den Betroffenen an, sondern vielmehr auf die Beurteilung eines verständigen, aufmerksamen, alle in Betracht kommenden Umstände würdigenden Durchschnittsbetrachters.33 Ob diese Auslegung ausschließlich auf der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Offenkundigkeit beruht, ist jedoch umstritten. Grund für dieses Verständnis des Tatbestandsmerkmals „offenkundig“ ist nach Ansicht eines Teils der Literatur nämlich der weitere Wortlaut des


17 Vgl. Tehler, DStR 2009, 1019.

18 Hering, DStZ 1984, 220, 222.

19 Vgl. Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung231, 2015, § 129 Rn. 5; Wedelstädt, DB 1984, 1761, 1764.

20 Vgl. Seer, in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 129 Rn. 6; Ziegler, in: Ax/Große/Melchior (Fn. 4), Rn. 1995.

21 BFH, BStBl. II 1987, 588, 589; 1988, 164, 165; 2006, 401, 402-403; Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler (Fn. 19), § 129 Rn. 69-70; Ziegler, in: Ax/Große/Melchior (Fn. 4), Rn. 1995; Birkenfeld, DStR 1991, 729, 730; Musil, DÖV 2001, 947, 952; Wedelstädt, DB 1985, 1761, 1765.

22 BFH, BStBl. II 2006, 400, 402-403.

23 Seer, in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 129 Rn. 6; Seer, in: Tipke/Lang (Fn. 6), § 21 Rn. 391; Hering, DStZ 1984, 220, 224; Kuhfus, Die Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten nach § 129 Abgabenordnung, 1999, S. 140; Nothnagel, StuW 1984, 60, 69; Tehler, DStR 2009, 1019, 1020; Weber, DStR 2007, 1561, 1563.

24 Vgl. den Methodenkanon von Larenz und Canaris: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3, 1995, S. 140 ff.

25 Larenz/Canaris (Fn. 24), S. 140.

26 BVerfGE 1, 299, 312; Larenz/Canaris (Fn. 24), S. 145; Lang, in: \linebreak Tipke/Lang (Fn. 6), § 5 Rn. 53.

27 Larenz/Canaris (Fn. 24), S. 145.

28 Vgl. Nothnagel, StuW 1984, 60, 63.

29 Duden Online-Wörterbuch, http://www.duden.de/node/642671/\linebreak revisions/1391712/view.

30 Nothnagel, StuW 1984, 60, 63.

31 Nothnagel, StuW 1984, 60, 63.

32 Kuhfus (Fn. 23), S. 122.

33 Vgl. BFH/NV 2001, 355, 356; BVerwGE 19, 287; Seer, in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 125 Rn. 6.

Kammerer, Unrichtigkeit21

§ 125 Abs. 1 AO, wonach alle in Betracht kommenden Umstände zu würdigen sind.34 Somit kann auch das zu § 125 Abs. 1 AO bestehende Gesetzesverständnis nicht die Grundlage für eine einheitliche Verwendung der Merkmale „offenbar“ und „offenkundig“ bilden. Wollte man aus der herrschenden Ansicht zu § 125 AO folgern, dass es auch bei § 129 AO nicht auf die Erkennbarkeit durch den Betroffenen ankommen könne, wäre dies letztlich ein unzulässiger Umkehrschluss.35 Somit ist auch die Auslegung des synonym verwendeten Begriffs „offensichtlich“ nicht weiterführend.

2.  „Beim Erlass“

Allerdings könnte durch die Formulierung „beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen“ in § 129 S. 1 AO indiziert sein, wem die Unrichtigkeit offenbar sein muss. Wie sich aus der Gesetzesbegründung ergibt, wurde § 129 AO bewusst abweichend von § 42 VwVfG formuliert,36 wonach die Behörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten in einem Verwaltungsakt jederzeit berichtigen kann. Der BFH und die ihm folgende herrschende Meinung ziehen aus dem im Vergleich zu § 42 VwVfG weiten Wortlaut des § 129 AO das Argument, dass die Unrichtigkeit für den Adressaten nicht erkennbar sein muss.37 Dem ist jedoch nicht ohne Weiteres zu folgen.

a) Uneinheitliche Verwendung der Formulierung „beim Erlass“

Erstens kommt durch die Formulierung „beim Erlass“ schon nicht klar zum Ausdruck, dass § 129 AO alle im Entstehungsprozess38 des Steuerbescheids unterlaufenen Unrichtigkeiten mit einbezieht. „Erlass“ ist keineswegs ein einheitlich verwendeter Begriff für den Entstehungsvorgang. Vielmehr wird darunter oft nur der Akt der Verkündung einer Entscheidung verstanden.39

b)  Verzicht auf eindeutige Formulierung

Zweitens wurde der Tatbestand des § 129 S. 1 AO vage formuliert, obwohl eine klarere Formulierung durchaus möglich gewesen wäre. Zum Beispiel wäre es möglich gewesen, eine gesetzliche Fiktion entsprechend der Regelung in § 175 Abs. 2 S. 2 AO zu schaffen. Eine solche hätte zum Beispiel folgendermaßen lauten können: „Die Abweichung von einer Aktenverfügung gilt als offenbare Unrichtigkeit.“40 Da auf eine derartige Formulierung jedoch verzichtet wurde, lässt sich anhand des Wortlauts „beim Erlass“ nicht klar bestimmen, für wen die Unrichtigkeit erkennbar sein muss.

c) Keine Relevanz für die Bestimmung der Bezugsperson

Letztlich bestimmt das Tatbestandsmerkmal „beim Erlass“ lediglich, zu welchem Zeitpunkt die Unrichtigkeit unterlaufen sein muss, nicht aber, für wen diese Unrichtigkeit erkennbar sein muss. Es lassen sich zwar gewisse Schlussfolgerungen ziehen, diese sind aber nicht zwingend. Ob der Formulierung „beim Erlass“ eine über die Bestimmung des relevanten Zeitpunkts hinausgehende Bedeutung zukommt, lässt sich folglich nicht durch eine rein grammatikalische Auslegung klären, sondern muss mit Hilfe der weiteren Auslegungsmethoden ermittelt werden.41

3. Ergebnis

Mittels der grammatikalischen Auslegung lassen sich keine Erkenntnisse zur Beantwortung der Frage gewinnen, wann eine Unrichtigkeit als offenbar anzusehen ist. Insbesondere bieten die in § 129 S. 1 AO enthaltenen Formulierungen „offenbar“ und „beim Erlass“ keine Anhaltspunkte dafür, dass zwingend eine Interpretation im Sinne der herrschenden Meinung zu fordern ist.

II. Historische Auslegung

Im Rahmen der historischen Auslegung wird erörtert, welche Deutung des Tatbestandsmerkmals der „ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit“ der Regelungsabsicht des Gesetzgebers oder seiner eigenen Normvorstellung am besten entspricht.42 Da konkrete Normvorstellungen am ehesten bei den Verfassern des Gesetzestextes und den Mitgliedern beratender Gremien zu erwarten sind, hat sich die historische Auslegung vor allem an deren Meinungen zu orientieren.43

Im Folgenden wird zunächst auf die historische Entwicklung der Vorschrift im Kontext der damaligen Umstände eingegangen, bevor der Wille des historischen Gesetzgebers ergründet wird.

1. Entwicklung der Norm im rechtlichen Gesamtkontext

Schon die Vorgängervorschrift des § 129 AO, § 92 Abs. 2 RAO 1931, wurde von der herrschenden Meinung so ausgelegt, dass die Unrichtigkeit dann offenbar war, wenn der Fehler für einen Dritten in Kenntnis der Sachlage – insbesondere des Inhalts der bei der Finanzbehörde befindlichen Akten – als solcher eindeutig erkennbar war.44 Dieses Verständnis von der Norm beruhte jedoch auf Umständen, die sich seitdem grundlegend verändert haben. Nach der Rechtsprechung aus der Zeit vor Einführung der AO im Jahre 1977 kam es nicht auf das von der Behörde Erklärte, sondern auf das von der Behörde Gewollte an (Willenstheorie).45 Nach dieser Theorie galt nicht das dem Steuerpflichtigen übermittelte Dokument als Verwaltungsakt, sondern die beim Finanzamt verbliebene Originalausfertigung. Für die Bestimmung des Inhalts des Verwaltungsakts war somit allein das bei den Akten befindliche Dokument maßgeblich. Die Bekanntgabe war lediglich Voraussetzung für das Wirksamwerden des bei den Akten befindlichen Verwaltungsakts. Daraus folgte, dass es für eine Berichtigung gegenüber dem Empfänger keiner speziellen Vorschrift bedurfte, sondern die dem Steuerpflichtigen bekanntgegebene Ausfertigung


34 Vgl. Nothnagel, StuW 1984, 60, 63; Kuhfus (Fn. 23), S. 123.

35 Nothnagel, StuW 1984, 60, 63.

36 Musil, DÖV 2001, 947, 952.

37 Vgl. BFH, BStBl. II 1987, 588, 589; 2006, 401, 402-403; Seer, in: Tipke/Lang (Fn. 6), § 129 Rn. 6.

38 Wedelstädt, DB 1985, 1761, 1764.

39 Hering, DStZ 1984, 220, 222; Nothnagel, StuW 1984, 60, 63; Weber, DStR 2007, 1561, 1564.

40 Weber, DStR 2007, 1561, 1562.

41 Kuhfus (Fn. 23), S. 123-124.

42 Larenz/Canaris (Fn. 24), S. 149.

43 Larenz/Canaris (Fn. 24), S. 150.

44 Kuhfus (Fn. 23), S. 125.

45 Seer, in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 129 Rn. 5.

Kammerer, Unrichtigkeit22

jederzeit richtiggestellt werden durfte. Nur für die Berichtigung des bei den Akten befindlichen Verwaltungsakts bedurfte es der durch § 92 Abs. 2 RAO 1931 eingeräumten Berichtigungsmöglichkeit.46 Bei einem solchen Verständnis von der Entstehungsweise von Verwaltungsakten war nur konsequent, die Berichtigung einer Unrichtigkeit nicht von der Erkennbarkeit durch den Betroffenen abhängig zu machen. Da inzwischen allerdings gemäß § 124 Abs. 1 S. 2 AO das dem Empfänger übermittelte Dokument als Verwaltungsakt angesehen wird, kommt es nunmehr auf das von der Behörde Erklärte an (Erklärungstheorie).47 Die Willenstheorie ist damit veraltet,48 sodass die frühere Auslegung der Berichtigungsvorschrift nicht ohne weitere Begründungen übernommen werden kann. Vielmehr sollte die Auslegung des § 129 AO unabhängig von der Auslegung des § 92 Abs. 2 RAO 1931 erfolgen.49

2. Wille des historischen Gesetzgebers

Der BFH stützt sich zur Begründung seiner Ansicht, wonach es nicht auf die Erkennbarkeit für den Steuerpflichtigen ankommt, auf den vermeintlichen subjektiven Willen des Gesetzgebers.50 In Drucksache 7/4292 des Bundestags führte der Finanzausschuss zu § 129 AO aus:

„Die Abweichung [im Wortlaut] ist wegen der unterschiedlichen Vorschriften über die Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten sachlich gerechtfertigt und bestätigt die unterschiedliche Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesfinanzhofs zum Begriff der offenbaren Unrichtigkeit. Für das Besteuerungsverfahren als Massenverfahren ist es erforderlich und von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs auch anerkannt, dass offenbare Unrichtigkeiten, die sich im Laufe der Entstehung des Verwaltungsaktes ergeben haben, berichtigt werden können, soweit der Fehler lediglich auf mechanische Versehen zurückzuführen und die Möglichkeit eines Rechtsirrtums ausgeschlossen ist. Solche Fehler treten z. B. bei der Erstellung von Steuerbescheiden mittels EDV-Anlagen auf.“51

In dieser Begründung wies der Finanzausschuss des Bundestags jedoch nur noch einmal darauf hin, dass an der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte festgehalten und die Verfahrensordnungen somit nicht vereinheitlicht werden sollten. Weiterhin wurde noch einmal klargestellt, dass Unrichtigkeiten unabhängig von dem Zeitpunkt ihrer Entstehung berichtigungsfähig sein sollten und somit insbesondere EDV-Fehler grundsätzlich berichtigungsfähig seien.52 Dass der Gesetzgeber durch die weitere Formulierung dem Tatbestandsmerkmal der Offenbarkeit einen bestimmten Sinn beimessen wollte, lässt sich jedoch weder aus der oben zitierten Passage noch aus der restlichen Gesetzesbegründung ableiten. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Gesetzesmaterialien keinerlei Aussage treffen, durch die sicher darauf geschlossen werden könnte, dass eine Unrichtigkeit schon dann offenbar ist, wenn sie bei Offenlegung des gesamten Sachverhalts für jeden unvoreingenommenen Dritten erkennbar ist.53

Etwas anderes könnte sich höchstens aus der Gesetzesbegründung zu § 124 AO (früher § 133 AO) ergeben, in welcher der historische Gesetzgeber auch eine Aussage zu § 129 AO trifft. Dort heißt es:

„Der Verwaltungsakt wird nach Satz 2 mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekanntgegeben wird. Damit wird die im Zivilrecht geltende Erklärungstheorie übernommen. Weicht der ausgefertigte und bekanntgegebene Verwaltungsakt von der getroffenen Aktenverfügung ab, so liegt eine offenbare Unrichtigkeit im Sinne des § 133 vor.“54

Daraus könnte man schließen, dass es nach dem Willen des historischen Gesetzgebers eben nicht auf die Erkennbarkeit auf Seiten des Empfängers ankommt.55 Aufgrund der Tatsache, dass der Gesetzgeber oft nicht sauber zwischen der Unrichtigkeit an sich und der Offenbarkeit der Unrichtigkeit trennt,56 kann allerdings auch hier nicht mit absoluter Sicherheit festgestellt werden, dass der Gesetzgeber die Offenbarkeit gerade für den Betroffenen ablehnt. Vielmehr könnte es sich dabei nur um die Feststellung handeln, dass eine Abweichung des bekanntgegebenen Verwaltungsakts von der Aktenverfügung eine Unrichtigkeit gleich den in § 129 S. 1 AO exemplarisch genannten Schreib- und Rechenfehlern darstellt und somit tatbestandsmäßig ist.57 Somit lässt auch der Wille des historischen Gesetzgebers keine eindeutigen Rückschlüsse auf die korrekte Auslegung des Tatbestandsmerkmals der „ähnlich offenbaren Unrichtigkeit“ zu.

3. Ergebnis

Weder die Entwicklung des § 129 AO im rechtlichen Gesamtkontext noch der Wille des historischen Gesetzgebers lassen sicher darauf schließen, dass es für die Beurteilung der Offenbarkeit ausreicht, wenn die Unrichtigkeit bei Offenlegung des gesamten Sachverhalts für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und deutlich als Unrichtigkeit im Sinne der Vorschrift erkennbar ist. Somit ist die historische Auslegung für die Frage nach der Bezugsperson für die Erkennbarkeit der Unrichtigkeit nicht weiterführend.

III. Systematische Auslegung

Die Bedeutung des Tatbestandsmerkmals der „ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit“ könnte sich jedoch aus dem Zusammenhang ergeben, in dem es gebraucht wird. Denn der Sinn einer einzelnen Rechtsnorm erschließt sich meistens erst dann, wenn man sie als Teil der Regelung betrachtet, zu der sie gehört.58


46 Kuhfus (Fn. 23), S. 126 m.w.N.

47 Kuhfus (Fn. 23), S. 126-127.

48 Weber, DStR 2007, 1561, 1562.

49 Kuhfus (Fn. 23), S. 127.

50 Seer, in: Tipke/Lang (Fn. 6), § 21 Rn. 391; Weber, DStR 2007, 1561, 1563.

51 BT-Drucks. 7/4292, S. 29 zu § 129 AO.

52 Kuhfus (Fn. 23), S. 129-131.

53 Kuhfus (Fn. 23), S. 133.

54 BT-Drucks. VI/1982, S. 141 f. zu § 130 (heute § 124) AO.

55 Nothnagel, StuW 1984, 60, 64.

56 Kuhfus (Fn. 23), S. 132 m.w.N.

57 Kuhfus (Fn. 23), S. 132.

58 Larenz/Canaris (Fn. 24), S. 146.

Kammerer, Unrichtigkeit23

1. Verhältnis zu § 124 Abs. 1 S. 2 AO

Die Berichtigungsvorschrift des § 129 AO befindet sich im zweiten Abschnitt zusammen mit der Vorschrift des § 124 Abs. 1 S. 2 AO, wonach der Verwaltungsakt mit dem Inhalt wirksam wird, mit dem er bekannt gegeben wird. § 124 Abs. 1 S. 2 AO stellt eine Verkörperung der Erklärungstheorie dar, wonach nur das von der Behörde Erklärte, nicht aber das von ihre Gewollte gilt. Auch § 155 Abs. 1 S. 2 AO stellt auf die Bekanntgabe von Steuerbescheiden ab. Geht man daher von einer zwingenden Anwendung der Erklärungstheorie aus, kann es sich im Rahmen des § 129 S. 1 AO nur insofern um eine bloße Berichtigung der durch den Steuerbescheid getroffenen Regelung handeln, als dem Betroffenen die offenbare Unrichtigkeit „ins Auge springt“. Dürften Unrichtigkeiten unabhängig davon, ob sie für den Steuerpflichtigen erkennbar sind oder nicht, beseitigt werden, würde die veraltete Willenstheorie „durch die Hintertür“ wieder eingeführt werden.59 § 129 AO stünde dann in einem Gegensatz zu § 124 Abs. 1 S. 2 AO. Der Steuerpflichtige könnte dann gerade nicht mehr darauf vertrauen, dass ihm später nicht doch noch ein „berichtigter“ Inhalt aufgezwungen würde.60

2. Ergebnis

Dies spricht dafür, § 129 AO so auszulegen, dass er sich folgerichtig in die Systematik der Abgabenordnung einfügt. Konsequenterweise dürfte es dann nicht auf das vom Finanzamt Gewollte, sondern bloß auf das im Steuerbescheid Offenbarte und damit für den Adressaten Erkennbare ankommen.61

IV. Teleologische Auslegung

Im Rahmen der teleologischen Auslegung wird der Zweck ergründet, den der Gesetzgeber durch das Gesetz zu verwirklichen sucht. Damit kann zum Beispiel eine ausgewogene Regelung unter optimaler Berücksichtigung aller Interessen oder eine möglichst sachgemäße Regelung gemeint sein. Insbesondere sind dabei die rechtsethischen Prinzipien zu berücksichtigen, die hinter einer Regelung stehen.62

1. Materielle Gerechtigkeit und Rechtssicherheit als widerstreitende Prinzipien

Im Anwendungsbereich des § 129 AO geraten zwei Gesetzeszwecke in ein Spannungsfeld: das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit und das Prinzip der Rechtssicherheit.

a) Materielle Gerechtigkeit

Mit materieller Gerechtigkeit ist die Durchsetzung des Gleichheitssatzes in Anwendung des materiellen Steuerrechts gemeint. Ziel ist es hierbei, gleiche Sachverhalte auch gleich zu behandeln.63 Nach §§ 3 Abs. 1 S. 1, 85 AO,\linebreak Art. 3 Abs. 1 GG hat die Besteuerung gleichmäßig zu erfolgen (Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung).64

b) Rechtssicherheit

Unter Rechtssicherheit versteht man die Sicherheit der Rechtslage. Sie stellt einen wesentlichen Bestandteil des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit aus Art. 20 Abs. 2 S. 2 und \linebreak Abs. 3 GG dar.65 Rechtssicherheit umfasst zum einen die Gewissheit (bzw. die Möglichkeit zur Verschaffung von Gewissheit) über die Rechtsfolgen verwirklichter oder beabsichtigter Sachverhalte. Zum anderen umfasst sie die Gewissheit darüber, dass rechtliche Entscheidungen im Einzelfall (fortdauernd) Gültigkeit besitzen.66 Das Prinzip des Vertrauensschutzes leitet sich ebenfalls aus dem Rechtssicherheitsprinzip ab.67

2. Auflösung des Prinzipienwiderspruchs

a) Notwendigkeit einer Interessenabwägung

Grundsätzlich ist weder das Prinzip der Rechtssicherheit noch das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit per se vorrangig.68 Überwiegt das öffentliche Interesse an der Berichtigung das schützenswerte Vertrauen des Steuerpflichtigen in den Fortbestand des Steuerbescheids in seiner ursprünglichen Form, darf ein bestandskräftiger Steuerbescheid korrigiert werden. Überwiegt allerdings das Vertrauensschutzinteresse des Steuerpflichtigen (im Fall einer Unrichtigkeit zu seinen Gunsten), führt dies zu einem entsprechenden Bestandsschutz.69

Da beide Prinzipien Verfassungsrang haben, musste der Gesetzgeber im Spannungsfeld des § 129 AO einen Kompromiss zwischen den beiden Grundsätzen finden.70 Die Anwendungspraxis versucht, den Prinzipienwiderspruch zu Gunsten der materiellen Gerechtigkeit aufzulösen.71 Diese Praxis erscheint jedoch fragwürdig angesichts der Tatsache, dass das Merkmal der Offensichtlichkeit typischerweise gerade der Gewährung von Vertrauensschutz und damit der Rechtssicherheit dienen soll, soweit ein schützenswertes Interesse des Steuerpflichtigen am Fortbestand des Steuerbescheids besteht und er nicht mit einer Änderung rechnen musste.72


59 Seer, in:Tipke/Kruse (Fn. 5), § 129 Rn. 6; Jakob, Abgabenordnung – Steuerverwaltungsverfahren und finanzgerichtliches Verfahren5, 2010, Rn. 566.

60 Seer, in:Tipke/Kruse (Fn. 5), § 129 Rn. 6; Hering, DStZ 1984, 220, 222; a.A. BFH, BStBl. II 1987, 588, 589; Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler (Fn. 19),§ 129 Rn. 21; Kuhfus (Fn. 23), S. 139, denen zufolge § 129 AO und § 124 Abs. 1 S. 2 AO gleichrangig nebeneinanderstehen.

61 Seer, in:Tipke/Kruse (Fn. 5), § 129 Rn. 6; Seer, in:Tipke/Lang (Fn. 6), § 21 Rn. 391.

62 Larenz/Canaris (Fn. 24), S. 153-154.

63 Nothnagel, StuW 1984, 60, 64.

64 Gersch, in: Klein, Kommentar zur Abgabenordnung einschließlich Steuerstrafrecht12, 2014, § 3 Rn. 12; Kuhfus (Fn. 23), S. 143.

65 BVerfGE 2, 380, 381, 403; 15, 313, 319; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu, Kommentar zum Grundgesetz13, 2014, Art. 20 Rn. 88.

66 Nothnagel, StuW 1984, 60, 65.

67 Vgl. BVerfGE 72, 175, 196; Nothnagel, StuW 1984, 60, 65; Kuhfus (Fn. 23), S. 141.

68 BVerfGE 15, 313, 320; Kuhfus (Fn. 23), S. 144.

69 Kuhfus (Fn. 23), S. 143-144.

70 Loose, in: Tipke/Kruse (Fn. 5), Vorb. zu §§ 130-133 Rn. 3; Kuhfus (Fn. 23), S. 142.

71 Tehler, DStR 2009, 1019, 1020.

72 Vgl. Kuhfus (Fn. 23), S. 146.

Kammerer, Unrichtigkeit24

b) Vorrangigkeit des Prinzips der materiellen Gerechtigkeit als Ausnahme

Gegen eine generelle Bevorzugung des Prinzips der materiellen Gerechtigkeit spricht, dass eine solche dem Korrektursystem der Abgabenordnung im Wesentlichen fremd ist. Lediglich in den Ausnahmefällen der Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO), der vorläufigen Steuerfestsetzung (§ 165 AO) und des Widerrufsvorbehalts (§ 131 Abs. 2 Nr. 1 AO) wird die materielle Richtigkeit als vorrangig angesehen. Da der Adressat in diesen Fällen mit einer Änderung rechnen muss, hat er kein schutzwürdiges Interesse am Fortbestand des Steuerverwaltungsakts.73 Liegt kein solcher Ausnahmefall vor, darf der Betroffene jedoch auf die Wirksamkeit des Bescheids vertrauen74 und muss nicht mit einer möglichen Berichtigung rechnen.

c) Fehlendes schutzwürdiges Vertrauen als Anknüpfungspunkt

Auch der Vergleich zu den speziell für Steuerbescheide geltenden Korrekturvorschriften zeigt, dass diese die Berechtigung zur Änderung bzw. Aufhebung an das fehlende schutzwürdige Vertrauen des Steuerpflichtigen knüpfen. Anknüpfungspunkt ist dabei die Erkennbarkeit des Fehlers (§ 174 Abs. 3 AO) oder die Mitveranlassung der rechtswidrigen Steuerfestsetzung (§§ 172 Abs. 1 Nr. 2 c, 173 AO).75 Ein derartiger Anknüpfungspunkt ist im Anwendungsbereich des § 129 AO jedoch nicht ersichtlich. In den hier streitigen Anwendungsfällen, in denen sich die Unrichtigkeit lediglich aus der Aktenlage und nicht für den Betroffenen selbst ergibt, ist der Fehler weder für den Betroffenen erkennbar, noch knüpft § 129 AO an ein Verhalten des Betroffenen an, durch welches er die Unrichtigkeit verursacht hat.

d) Zwischenergebnis

Somit ist nicht ersichtlich, warum das öffentliche Interesse an der Berichtigung das schützenswerte Vertrauen des Steuerpflichtigen in den Fortbestand des Steuerbescheids in seiner ursprünglichen Form derart überwiegen sollte. Die Mindestanforderungen des Grundsatzes der Rechtssicherheit können vielmehr nur dann eingehalten werden, wenn die Offenbarkeit der Unrichtigkeit sich nach der Erkennbarkeit für den Steuerpflichtigen richtet. Eine konkrete Schutzwürdigkeit des Vertrauens in den Fortbestand des unrichtigen Steuerbescheids ist dabei nicht zu fordern.76

3. Ergebnis

Nur eine Auslegung, die auf die Offenbarkeit für den Steuerpflichtigen abstellt, wird der Interessenabwägung zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit und dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit gerecht, welche sich auch in den übrigen Korrekturvorschriften der Abgabenordnung manifestiert.77 Nach dem Telos des § 129 AO ist die Berichtigung eines Steuerbescheids nur möglich, wenn auf Seiten des Betroffenen kein schutzwürdiges Vertrauen gebildet wurde. Dies ist nur dann der Fall, wenn die Unrichtigkeit für ihn erkennbar ist.

V. Fazit

Legt man die Berichtigungsvorschrift des § 129 AO nach ihrem Wortlaut, ihrer Entstehungsgeschichte, der zugrundeliegenden Systematik und ihrem Zweck aus, kommt man zu dem Schluss, dass das Tatbestandsmerkmal der „ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit“ entgegen der herrschenden Meinung eng auszulegen ist. Nur so kann die Systematik der Abgabenordnung im Sinne der Erklärungstheorie aufrechterhalten und Rechtssicherheit bzw. Vertrauensschutz für den Steuerpflichtigen erreicht werden.

VI. Folgefragen einer engen Auslegung

Geht man grundsätzlich davon aus, dass die Unrichtigkeit für den Steuerpflichtigen erkennbar sein muss, bleibt zu klären, welche konkreten Anforderungen an diese Erkennbarkeit zu stellen sind.

Im Hinblick auf die Formulierung „bei Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen“ erscheint es sinnvoll, nicht nur den Steuerbescheid selbst, sondern auch andere Unterlagen und Umstände mit einzubeziehen, die dem Steuerpflichtigen bekannt sind oder bekannt sein müssen.78 Da der Steuerbescheid nicht nur zu Lasten, sondern auch zu Gunsten des Steuerpflichtigen berichtigt werden kann, kann dies für den Adressaten durchaus von Vorteil sein. Diese Einbeziehung darf allerdings nicht so weit führen, dass der Steuerpflichtige alle vom Finanzamt erhaltenen Dokumente darauf überprüfen muss, ob sie nicht eine versteckte Unrichtigkeit enthalten.79

Weiterhin kann die Frage, ob die Unrichtigkeit offenbar ist, nicht von den individuellen Erkenntnisfähigkeiten der einzelnen Adressaten abhängig gemacht werden. Eine ausschließlich subjektive Betrachtungsweise würde sonst zu Zufallsergebnissen führen und beispielsweise Adressaten mit steuerrechtlichen Vorkenntnissen, welche Unrichtigkeiten tendenziell leichter erkennen können und für die Unrichtigkeiten somit eher „offenbar“ wären, schlechter stellen.80 Zudem würde es in der Praxis einen erheblichen Aufwand verursachen, in jedem einzelnen Fall die individuellen Erkenntnisfähigkeiten des Steuerpflichtigen zu ermitteln. Schließlich sprechen auch der verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz und das Gebot einer gleichmäßigen Besteuerung dafür, die Berichtigung nicht von dem individuellen Erkenntnisvermögen des Adressaten abhängig zu machen.81 Somit ist es vorzugswürdig, die Erkenntnisfähigkeit eines durchschnittlichen Betroffenen für die Bewertung der Offenbarkeit zugrunde zu legen.82 Dies könnte zwar in einzelnen Fällen dazu führen, dass Behörden und Gerichte je nach gewünschtem Ergebnis fiktive Personen mit jeweils unterschiedlichen Fähigkeiten


73 Kuhfus (Fn. 23), S. 146.

74 Ziegler, in: Ax/Große/Melchior (Fn. 4), Rn. 1984.

75 Kuhfus (Fn. 23), S. 147-148.

76 Weber, DStR 2007, 1561, 1565; Kuhfus (Fn. 23), S. 151.

77 Kuhfus (Fn. 23), S. 152.

78 Weber, DStR 2007, 1561, 1563.

79 Seer, in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 129 Rn. 7; Kuhfus (Fn. 23), S. 164.

80 Vgl. Hering, DStZ 1984, 220, 224.

81 Kuhfus (Fn. 23), S. 159.

82 Seer, in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 129 Rn. 8; Hering, DStZ 1984, 220, 224; Weber, DStR 2007, 1561, 1563; Kuhfus (Fn. 23), S. 158-159, 164-165.

Kammerer, Unrichtigkeit25

erfinden. Dem kann jedoch dadurch entgegengewirkt werden, dass an das steuerrechtliche Fachwissen des Durchschnittsbürgers möglichst geringe Anforderungen gestellt werden.83 Zudem lässt sich nur durch eine solche teilweise objektivierte Betrachtungsweise die Berichtigungsvorschrift des § 129 AO konsistent und widerspruchsfrei anwenden.84


83 Hering, DStZ 1984, 220, 224.

84 Kuhfus (Fn. 23), S. 160.