Willensfreiheit, Schuldprinzip und grundgesetzliches Menschenbild

von Max Joite*

Die Diskussion um die Freiheit des menschlichen Willens wird in breiter Fächerung interdisziplinär geführt.1 Dabei ist weitgehend konsentiert, dass sie auch für das Recht nicht ohne Konsequenz sein kann. Worin die Konsequenz aber liegt, ist umstritten. Ihrer Verwobenheit mit den Feldern der Philosophie und Naturwissenschaften geschuldet ist die rechtswissenschaftliche Diskussion unübersichtlich. Dem versucht sich der vorliegende Aufsatz zu entziehen, indem er sich auf die rechtlichen Diskursfelder beschränkt. Derer gibt es zwei: Wie verweist das Recht auf die Willensfreiheit (sogleich A)? Und wie kann das Recht auf den Streit um die Willensfreiheit reagieren (unten B)? Damit werden die beiden Schnittstellen des Rechts mit dem Problem der Willensfreiheit behandelt. Nicht versucht wird dagegen eine Antwort auf die philosophische Grundfrage selbst. Ob der menschliche Wille als frei oder unfrei zu betrachten ist, wird im Folgenden nicht entschieden.

A. Die Willensfreiheit als Prämisse des Rechts

Das Problem der Willensfreiheit ist nur dann ein Problem des Rechts, wenn das Recht nach dieser Freiheit verlangt. Fast einhellig nimmt die Literatur an, dass das strafrechtliche Schuldprinzip einen solchen Verweis enthält. Dieser Annahme wird sogleich (unter I) nachgegangen. Der Begriff der Willensfreiheit ist jedoch nicht eindeutig. Verweist das Schuldprinzip auf die Willensfreiheit, muss deshalb untersucht werden, welche Aussagen über diese Freiheit sich ihm entnehmen lassen (unten II): Wie stellt sich das Recht die Willensfreiheit vor?

I. Wo sind Recht und Willensfreiheit verknüpft?

Die strafrechtliche Schuld ist der Vorwurf personalen Fehlverhaltens.2 Dieser Vorwurf verbindet Täter und Tat, er begründet die Zurechnung letzterer zu ersterem: Wenn3 und soweit4 ihm die Tat vorgeworfen werden kann, ist der Täter strafbar. Dieser Vorwurf ist freilich noch formaler Natur, es bedarf eines materiellen Schuldbegriffs, um ihn mit Inhalt zu füllen: Wann ist ein Verhalten vorwerfbar?5

Hinweise auf den Inhalt des materiellen Schuldbegriffs lassen sich den Schuldausschließungsgründen des § 20 StGB entnehmen. Diese sind Störungen6 der Fähigkeit, „das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“. Letzteres setzt voraus, seinen Willen nach der Einsicht auszurichten und alsdann seine Handlungen zu steuern. Gestört wird also die Willensbildung des Täters. § 20 StGB setzt damit eine Form der Willensfreiheit voraus:7 Der Täter muss seinen Willen frei von bestimmten Störungen bilden können.

II. Welches Freiheitsmodell sieht das Recht vor?

Die Diskussion um die Willensfreiheit hat eine Vielzahl an Freiheitsmodellen hervorgebracht. Der Satz, „der menschliche Wille ist frei“, hat deshalb mannigfaltige Bedeutungen. Aus strafrechtlicher Perspektive lassen sich diese Freiheitsmodelle als Versuche verstehen, den materiellen Schuldbegriff mit Inhalt zu füllen. Auf welche dieser Freiheiten aber verweist das Schuldprinzip? Diese Frage ist umstritten und bildet den Kern des ersten hier behandelten Diskursfeldes. Schon einen Maßstab zu finden gestaltet sich schwierig. Das Gesetz enthält keinen eindeutigen Verweis auf den einen oder anderen Freiheitsbegriff.8 Vorliegend soll der Maßstab aus dem Rechtfertigungsdruck entwickelt werden, der auf dem Schuldprinzip lastet (sogleich 1). Alsdann soll er an die verschiedenen Freiheitsbegriffe angelegt werden (unten 2).

1. Maßstabsbildung

Der Zwang, das Schuldprinzip zu rechtfertigen, ergibt sich aus seinen Funktionen: der Begründung und Begrenzung von Strafe.9 Strafbegründend ist die Schuld der wichtigste Strafzweck: Vor allen Zwecken der Prävention rechtfertigt die Schuld des Täters seine Bestrafung.10 Strafbegrenzend verbietet das Schuldprinzip eine Strafe dort, wo keine Schuld (mehr) besteht.11 Weder darf Strafe also ohne Schuld verhängt werden, noch darf sie über die Schuld hinausgehen (§ 46 Abs. 1 S. 1 StGB). Hier setzt die Schuld präventiven Strafzwecken eine absolute Grenze:12 Sie wirkt freiheitsverbürgend.13


* Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.

1 Sie wurde auch an dieser Stelle bereits aufgegriffen, vgl. Schulenberg, Bucerius Law Journal (BLJ) 2007, 23-30.

2 Vgl. nur Lampe, Strafphilosophie, 1999, S. 226; Roxin, Strafrecht AT I4, 2006, § 19 Rn. 11-14. Dies ist nur eine von einer Vielzahl inhaltsgleicher Fassungen des normativen Schuldbegriffs, dessen Ursprung wohl im Begriff des Dafürkönnens liegt. Die Feststellung, dass die Schuld zur Erfüllung ihrer Funktionen nicht nur die Geisteshaltung des Täters ermitteln, sondern auch bewerten muss, führte zur Ablösung des psychologischen Schuldbegriffs (Schuld als Entscheidung für das Unrecht) durch den normativen Schuldbegriff (Schuld als Vorwerfbarkeit des Unrechts). Der normative Schuldbegriff ist wohl Grundlage sämtlicher noch vertretener Theorien der Schuld, er wird deshalb hier nicht begründet.

3 Vgl. die Schuldausschließungsgründe des § 20 StGB.

4 Vgl. die Strafmaßbestimmung auf Basis der Schuld nach § 46 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2 Var. 2 und 3 StGB.

5 Vgl. Roxin, (Fn. 2), § 19 Rn. 19.

6 Streng, in: Münchener Kommentar zum StGB2, 2011, § 20 Rn. 31-47.

7 A.A. wohl nur Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, 2010, S. 109-111, 127.

8 Dies ist umstritten. Herrschend nimmt man an, ein Umkehrschluss aus § 20 StGB („nach dieser Einsicht zu handeln“) sei möglich. Diesem Umkehrschluss nach hätten jene, die im Tatzeitpunkt nicht durch die in § 20 StGB genannten Gründe gehemmt waren, sich tatsächlich auch gegen die Tat entscheiden können (indeterministische Interpretation, so etwa Maurach/Zipf, Strafrecht AT I8, 1992, § 36 Rn. 5; Spilgies, Die Bedeutung des Determinismus-Indeterminismus-Streits für das Strafrecht, 2004, S. 56; Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008, S. 110-118, 134; Duttge, JuristenZeitung [JZ] 2010, 412; Keil, Willensfreiheit2, 2012, S. 160). Nach a.A. enthält der letzte Halbsatz des § 20 StGB nur eine Angabe über die Wirkung der zuvor genannten Schuldausschließungsgründe: Nur wenn diese so wirkten, sei die Schuld ausgeschlossen. Ein Umkehrschluss gehe daher fehl (offene Interpretation, so Tiemeyer, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht [GA] 1986, 203 [221]; ders. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft [ZStW] 1988, 527 [554]; Herzberg [Fn. 7], S. 106;). Dieser Streit ist wohl nicht überzeugend zu lösen. Deshalb wird der Maßstab hier unabhängig vom Wortlaut des Gesetzes gebildet.

9 Sog. Zweiseitigkeit des Schuldprinzips, vgl. Roxin, ZStW 1984, 641 (654); Freund, in: MüKoStGB (Fn. 6), Vor §§ 13 ff. Rn. 239; Keil (Fn. 8), S. 159.

10 Vgl. zuletzt BVerfGE 109, 133 (173).

11 Ebd.

12 Diese Grenze ist nicht lückenlos, wie das Maßregelstrafrecht zeigt. Wird sie überschritten, entsteht aber ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis, vgl. BVerfGE 109, 133 (174-176).

13 Begriff nach Roxin (Fn. 2), § 19 Rn. 49; zust. Pauen, in: Lampe/Pauen/Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, 2008, S. 57; Herzberg (Fn. 7), S. 86.

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Art. 104 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 2 Abs. 2 Sätze 2 und 3 GG ermächtigen den Staat zur Freiheitsentziehung durch richterliches Strafurteil.14 Diese Strafe ist ein Eingriff in die Freiheit der Person15 und bedarf somit der Rechtfertigung. Diese ist die Schuld des Täters in ihrer strafbegründenden Funktion. Zur Rechtfertigung dieser Schuldfunktion muss der materielle Schuldbegriff also die Strafe selbst rechtfertigen. Die strafbegrenzende Schuldfunktion ist für den Täter positiv, somit ihm gegenüber nicht rechtfertigungsbedürftig. Sie führt indes zu einer Ungleichbehandlung von Tätern, bei denen das Präventionsbedürfnis die gleiche Strafbemessung verlangen würde. So wäre auch ein nur strafbegrenzendes Schuldprinzip rechtfertigungsbedürftig, diesmal vor dem allgemeinen Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 GG.16 Die Erfüllung beider Schuldfunktionen bedarf also der Rechtfertigung, einmal gegenüber dem Täter (Strafbegründung), einmal gegenüber Dritten (Strafbegrenzung).

2. Anwendung des Maßstabs

Diese Vielfalt der Freiheitsmodelle trägt erheblich zur Verworrenheit der Debatte bei. Hier sollen sie anhand zweier Begriffspaare geordnet werden: absolut/relativ und objektiv/subjektiv.17

a) Objektiv absolute Freiheit

Häufig mit dem Begriff der Willensfreiheit gleichgesetzt wird das Modell einer objektiv absoluten Freiheit: Der Mensch hat danach in einer gegebenen Situation alternative Möglichkeiten der Entscheidung.18 Er ist also nicht – auch nicht durch eigene Präferenzen – bestimmt, sondern absolut frei. Der menschliche Wille bricht nach diesem Modell mit der Kausalgebundenheit der Physik, mit dem Determinismus.19 Dabei ist nur seine Entscheidung indeterminiert, seine Handlungen aber sind von der Entscheidung selbst determiniert,20 mithin ist „Freiheit zur Selbstbestimmung“21 der diese Freiheit wohl treffendste Begriff. Diese freie Entscheidung mache den freien, verantwortlichen und sittlich selbstbestimmten Menschen zur letzten Ursache der Tat. Dass auf Basis einer solchen Freiheit die Schuld des Täters begründet werden kann, ist unstreitig.22

b) Subjektiv absolute Freiheit

Die subjektive Freiheit besteht nur in der Selbstwahrnehmung des Entscheidenden.23 Ihr Bestehen wird häufig mit den menschlichen Schuldgefühlen begründet, die ohne eine empfundene Entscheidungsfreiheit nicht bestünden.24 Kann das Schuldprinzip aber unmittelbar ein subjektives Empfinden zur Voraussetzung und Grenze von Strafe erklären?

Gegen eine solche Rolle des Freiheitsempfindens spricht dessen Subjektivität. Die Voraussetzungen der Schuld sind von Richtern und Gutachtern festzustellen, mithin aus der Außenperspektive.25 Ist dem Täter auch seine Freiheit die „gewisseste Realität“26, solange sie per definitionem nur in der Innenperspektive besteht, muss der Richter ihn für determiniert erkennen und erklären.27 Darüber hinaus ist die subjektive Freiheit auch zu undifferenziert: Der nach § 20 StGB Schuldunfähige, gar jedes Kind kann von seiner Freiheit überzeugt sein.28 Je stärker ihre Vertreter also die Universalität der subjektiven Freiheit hervorheben,29 desto schwerer können sie Schuld rechtfertigen.

c) Objektiv relative Freiheit

Eine Entscheidung wird relativ frei genannt, wenn der Entscheidende nur durch seine eigenen „personalen Präferenzen“30 bestimmt ist. Diese Präferenzen können dabei durch das Vergangene vollständig determiniert (also nicht absolut frei) sein. Dennoch wird auch diese Freiheit als Willensfreiheit bezeichnet und als Bezugspunkt der Schuld vorgeschlagen. Die menschliche Person, so das Argument, werde durch ihre Präferenzen gebildet. Unabhängig von der


14 Vgl. BVerfGE 33, 1 (9-10).

15 Vgl. BVerfGE 29, 312 (316); Freund, in: MüKoStGB (Fn. 6), Vor §§ 13 ff., Rn. 37, 243; Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz Kommentar67, 2012, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Rn. 34, 61.

16 Das Gleichheitsproblem sehen auch Detlefsen, Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Perspektiven des Schuldprinzips, 2006, S. 115; Merkel (Fn. 8), S. 106; Duttge, JZ 2010, 412.

17 Ein drittes Kategorienpaar in der Debatte ist immanent/transzendental. Das Modell eines transzendentalen freien Willens entspringt dem deutschen Idealismus, insbesondere der Lehre Kants. Danach ist der Mensch als Teil der erfahrbaren Welt determiniert (vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft [Bearbeitung von Raymund Schmidt], 1978, S. 120), als metaphysisches Wesen dagegen frei. Eine angemessene Darstellung und Kritik des transzendentalen Indeterminismus würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen (eine solche versucht etwa Merkel [Fn. 8], S. 61 – 64). Vorliegend werden deshalb nur die neueren Modelle subjektiver und relativer Freiheit betrachtet.

18 Diese Form der Freiheit wird mithin als Prinzip alternativer Möglichkeiten („principle of alternate possibilities“) beschrieben, Begriff geprägt von Frankfurt, The Journal of Philosophy, Vol. 66, No. 23. (Dec. 4, 1969), 829; aufgenommen von Merkel (Fn. 8), S. 17.

19 Der Begriff des Determinismus wird nicht einheitlich verwendet. Die Kernthese der meisten deterministischen Lehren ist, dass von einem Weltzustand jeder andere Weltzustand ableitbar ist, die Kenntnis sämtlicher Eigenschaften dieses Weltzustandes und sämtlicher Naturgesetze vorausgesetzt (vgl. van Inwagen, Philosophical Studies 1975, 185 (186); Nida-Rümelin, Über menschliche Freiheit, 2005, S. 92-94; Libet, in: Hillenkamp [Hrsg.], Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht?, 2006, S. 122).

20 Diese „autonome Urheberschaft“, „Autonomie“ oder „Akteurskausalität“ („agent causation“) genannte Form der Kausalität will sich von der in der Naturwissenschaft gebräuchlichen Ereigniskausalität (jedes Ereignis ist Folge eines anderen) lösen und den Einzelnen zum „unbewegten Beweger“ machen, siehe Griffel, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (ARSP) 1983, 340 (355); Merkel (Fn. 8), S. 14-15, 29, 51. Von dieser Form der Determinierung durch den Willen hat schon Kant die Determinierung des Willens (bei ihm „Prädeterminismus“) unterschieden, vgl. Bojanowski, in: Brandhorst/Hahmann/Ludwig (Hrsg.), Sind wir Bürger zweier Welten?, 2012, S. 74.

21 Kaufmann, in: FS Lange, 1976, S. 27 (28).

22 Vgl. nur BGHSt 2, 194 (200).

23 Die subjektive Freiheit ist also lediglich eine Wahrnehmungsverschiebung, so auch Tiemeyer, GA 1986, 203 (223). Krit. zum Ganzen Merkel ([Fn. 8], S. 38), der meint, die Gehirnprozesse, auf denen die Entscheidung beruht, erlebe der Mensch weder als determiniert noch indeterminiert, sondern überhaupt nicht.

24 So etwa Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache, 1987, S. 55; Griffel, ARSP 1983, 340 (353); Planck, in: ders., Vom Wesen der Willensfreiheit und andere Vorträge, 1991, S. 161. Eine weitere Begründung bildet der besonders von Planck vertretene epistemische Indeterminismus: Nach diesem ist der Mensch dem eigenen zukünftigen Verhalten gegenüber in einer besonderen Erkenntnissituation. Er kann es nicht nur praktisch, sondern logisch nicht erkennen. Versuchte er, die eigene Zukunft vorherzusehen, würde jede gewonnene Erkenntnis über die eigene Zukunft deren Inhalt ändern, die gewonnene Erkenntnis also hinfällig machen (vgl. Kargl, Handlung und Ordnung im Strafrecht, 1991, S. 189 Fn. 135; Planck, [Fn. 24], S. 112-113, 160).

25 Vgl. Detlefsen (Fn. 16), S. 42; Merkel (Fn. 8), S. 66, 121; Duttge, JZ 2010, 412.

26 Griffel, ARSP 1983, 340 (353).

27 Vgl. Detlefsen (Fn. 16), S. 44.

28 Vgl. Griffel, ARSP 1983, 340 (357); Detlefsen (Fn. 16), S. 42; Merkel (Fn. 8), S. 66-68. Dies übersieht etwa Roxin (Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht [SchwZStR] 1987, 356, 369), wenn er seine Theorie auf das Selbstverständnis des „normalen Menschen“ gründet; ähnlich wie dieser Grasnick (Fn. 24), S. 55.

29 Griffel (ARSP 1983, 340 [357]) etwa nennt es ein „fundamentales Erlebnis jedes Menschen“, ähnl. Hirsch, ZStW 1994, 746 (763).

30 Pauen (Fn. 13), S. 55; Pauen/Roth, Freiheit, Schuld und Verantwortung, 2008, S. 33, 35.

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Determiniertheit dieser Präferenzen sei der Mensch als Person frei, wenn er tun könne, wie es seinen Präferenzen entspricht.31

Ob schon eine relative Freiheit den Schuldvorwurf rechtfertigen kann, ist umstritten. Ein erster Kritikpunkt ist ihre Zirkularität: Die Theorie anerkennt nämlich, dass sich die personalen Präferenzen in der Straftat unmittelbar niederschlagen. Die Schuld würde dem Täter also weniger seine (vorbestimmte) Tat als „sein ‚Sosein’ ankreiden“.32 Hier wird der Zirkel offenbar: Um dem Täter sein Sosein vorzuwerfen, bedarf die Schuldstrafe der schuldhaften Tat, anhand derer sie seine schuldhafte Persönlichkeit erkennt. Die Tat wiederum ist aber nur schuldhaft, weil des Täters Persönlichkeit schuldhaft ist.33

Die Theorie sieht sich darüber hinaus dem Vorwurf der Inkonsequenz ausgesetzt: Nach ihren Maßstäben ist eine Zurechnung zum Täter gerechtfertigt, wenn das Zugerechnete auf den personalen Präferenzen des Täters beruht. Diese Präferenzen hat sich der Täter aber nicht wiederum aufgrund personaler Präferenzen ausgesucht.34 Dies wird von der Theorie nicht beachtet: Die Suche nach der letzten Ursache wird aus begrifflichen Gründen35 bei einer zuvor definierten „Persönlichkeit“ abgebrochen.

II. Zusammenführung

Die Diskussion um die Freiheitsmodelle lässt sich hier nicht umfassend wiedergeben. Jene Autoren, die ein subjektives oder relatives Modell der Willensfreiheit als Prämisse der Schuld genügen lassen, sehen sich jedoch mit erheblichen Einwänden konfrontiert, die auszuräumen bisher nicht gelungen ist. Im Folgenden wird deshalb davon ausgegangen, dass das Schuldprinzip auf eine objektiv absolute Willensfreiheit verweist.

B. Die Willensfreiheit als rechtliche Fiktion

Wurde soeben der Austritt des Problems der Willensfreiheit aus dem Recht behandelt, so soll es nun um ihren Widereintritt gehen: Wie muss das Strafrecht auf die Diskussion um die Willensfreiheit reagieren? Um zum Kernproblem dieser Frage zu gelangen, werden zunächst drei Prämissen eingeführt. Erstens wird vorausgesetzt, dass die philosophische Diskussion um die Willensfreiheit noch zu keiner befriedigenden Lösung gelangt, ihr das Bestehen dieser Freiheit somit unsicher ist. Zweitens wird angenommen, dass das Strafrecht, um nicht Gefahr zu laufen vom Täter eine Unmöglichkeit zu verlangen, diese Freiheit fingieren sollte. Mit einer solchen Fiktion entledigte sich der Gesetzgeber freilich nicht seiner Rechtfertigungspflicht. Er fingierte die Voraussetzungen der Schuld. Diese Fiktion bedarf deshalb der gleichen Rechtfertigung wie die Schuld selbst, sie ist gleichsam derivativ rechtfertigungsbedürftig. Dies ist die dritte Prämisse der folgenden Darstellung.

Auf dieser Basis kann die Frage gestellt werden, die den Schwerpunkt des zweiten Teils dieser Arbeit bildet: Darf das Recht die Willensfreiheit als Voraussetzung der Schuld fingieren? Prüfungsmaßstab ist dabei jenes Rechtfertigungsbedürfnis, welches oben an die Rechtfertigung der Schuld selbst gestellt wurde.36

I. Rechtfertigung der Fiktion in der Literatur

1. Wiederherstellung der Normgeltung

Auf Jakobs geht eine dreistufige systemtheoretische37 Begründung der Freiheitsfiktion zurück:38 Verbrechen könnten durch Einübung der Bürger in Rechtstreue vermieden werden (erste Stufe). Diese Einübung erfordere, dass das durch deliktisches Verhalten gestörte Ordnungsvertrauen wiederhergestellt werde (zweite Stufe). Die Allgemeinheit sehe den Täter als verantwortlich an. Das Recht müsse ihn entsprechend behandeln, um das Ordnungsvertrauen wiederherzustellen (dritte Stufe).39

Jakobs’ Begründung der Schuld fußt allein auf dem Zweck der Generalprävention. Der Einzelne wird instrumentalisiert,40 er ist Objekt der Bedürfnisse der Allgemeinheit. So kann man im Jakobs’schen Schuldprinzip nach der Kant’schen Objektformel ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG sehen.41 Zu diesen verfassungsrechtlichen Bedenken gesellt sich ein dogmatisches Problem: Die Schuld nach Jakobs kann die Bedürfnisse der Generalprävention nicht begrenzen, denn sie ist von ihr erfüllt.42 Eine Begründung der Schuld nach Jakobs würde sich kaum von einem Recht ohne Schuld43 unterscheiden, das Schuldprinzip mithin hinfällig machen. Neben diesen konzeptionellen Einwänden zeigen sich praktische Probleme: Welche Strafe ist zur Stabilisierung des Ordnungsvertrauens nötig?44 Kann das davon abhängen, wie bekannt Tat und Täter sind? Und basiert nicht die Anschauung der Allgemeinheit auf dem bestehenden Normensystem, verteidigt nicht das Jakobs’sche Schuldprinzip deshalb indifferent das jeweils vorhandene System?45

2. Subjektives Freiheitsempfinden

Zur Fiktion der Freiheit dient Manchen der Rekurs auf das subjektive Freiheitsempfinden.46 Auf dieses Empfinden gründete man so mittelbar die Schuld. Damit stellen sich hier die gleichen Schwierigkeiten, die bereits oben eine unmittelbare Begründung der Schuld durch die subjektive Freiheit infrage stellten.47

 


31 Vgl. Figueiredo Dias, ZStW 1983, 220, (237, 243); Pauen (Fn. 13), S. 55; Pauen/Roth (Fn. 30), S. 29; ähnl. die „bedingte Freiheit“ nach Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, 2005, S. 159.

32 Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, 1963, S. 48; Merkel (Fn. 8), S. 108; Duttge, JZ 2010, 412.

33 So auch Engisch (Fn. 32), S. 50-51; ähnl. Herzberg (Fn. 7), S. 43.

34 Ähnl. Engisch (Fn. 32), S. 48; Roxin, ZStW 1984, 641 (647-648); Tiemeyer, GA 1986, 203 (206); Herzberg (Fn. 7), S. 13-14, 43; Feldmann, Das Problem der Neurowissenschaften mit dem freien Willen, 2011, S. 124.

35 Vgl. Pauen (Fn. 13), S. 54.

36 Vgl. zu diesen oben A.II.1. Dies ergibt sich aus der dritten der eben aufgestellten Prämissen.

37 Jakobs nimmt insbesondere Anleihen bei der Systemtheorie Luhmanns, vgl. Schuld und Prävention, 1976, S. 9 Fn. 19; S. 17 Fn. 48.

38 Vgl. Jakobs (Fn. 38); aufgenommen von Merkel (Fn. 8), S. 122-133.

39 Wenn und soweit aber eine anderweitige Konfliktverarbeitung möglich sei, könne der Täter als unschuldig gelten. Jakobs ([Fn. 38], S. 11) verweist dabei beispielhaft auf die medizinische Behandlung von Triebtätern. Tiemeyer bemerkt hierzu zutreffend, dass Jakobs so mittelbar die von den Bürgern verinnerlichte Freiheit des Täters in genau dem Maße voraussetze, in dem ihm diese von den Bürgern zugeschrieben werde, GA 1986, 203 (213).

40 Vgl. Roxin, SchwZStR 1987, 356 (365).

41 Ähnlich Roxin, (Fn. 2), § 3 Rn. 57.

42 So auch Streng, in: MüKoStGB (Fn. 6), § 20 Rn. 22. Jakobs ([Fn. 38], S. 32) meint, zumindest der Spezialprävention Grenzen zu setzen. Krit. dazu Roxin (SchwZStR 1987, 356 [367]), mit dem Hinweis, dass das Ordnungsvertrauen der Bevölkerung gerade durch ungehemmte Spezialprävention bestärkt werden könne.

43 Siehe sogleich B.II.1

44 Vgl. Roxin, SchwZStR 1987, 356 (366).

45 Vgl. Roxin, SchwZStR 1987, 356 (367).

46 Vgl. Roxin, SchwZStR 1987, 356, 369; Maurach/Zipf (Fn. 8), § 36 Rn. 9.

47 Siehe oben A.II.2.b.

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3. Gesellschaftliche Anschauung

Eine wichtige Strömung rechtfertigt die Fiktion durch Rekurs auf die gesellschaftliche Anschauung. Die Rechtswissenschaft habe sich an den „Erscheinungen des sozialen Lebens“48 zu orientieren. Eine solche sei die „wechselseitige Zuschreibung von Freiheit“49. In der Fiktion der Freiheit verfahre das Recht also wie Jedermann, und dies dürfe es auch.50

Man kann dieses Modell sowohl in seinen empirischen Prämissen, als auch in seiner Schlussfolgerung angreifen. Empirisch lässt sich ein gesellschaftlicher Konsens erkennen, dass jemandem, der erkennbar nicht anders handeln konnte, sein Handeln nicht vorgeworfen werden darf. Schreiben die Menschen einander Verantwortung zu, so müssen sie also glauben, dass sie hätten anders handeln können, um nicht gegen diesen zweiten Konsens zu verstoßen. Die gesellschaftliche Anschauung fingiert also nicht die Willensfreiheit der Menschen, sondern geht von dieser als Tatsache aus. Ein Strafrecht, das gerade zur Fiktion greift, weil ihm die Willensfreiheit als Tatsache zweifelhaft ist, kann dies nicht kopieren.

Auf einer normativen Ebene zeigt sich ein kategorialer Unterschied zwischen gesellschaftlicher und strafrechtlicher Fiktion: Das Recht muss vor der Verfassung bestehen, welche eine Rechtfertigung der Strafe verlangt. Die Bestimmung von Strafwürdigkeit als normative Aufgabe des Strafrechts kann nicht an die Gesellschaft ausgelagert werden.51 Zugleich würde sonst die gestaltende Aufgabe des Rechts unterlaufen, um derentwillen es sich gerade nicht „überkommenen Denkgewohnheiten“52 unterwerfen darf.

II. Versuch einer funktionalen Rechtfertigung

Wie dargestellt, lassen sich gegen jede der in der Literatur vertretenen Rechtfertigungstheorien schwerwiegende Einwände erheben. Deshalb soll im Folgenden versucht werden, auf einem anderen Wege die Fiktion zu rechtfertigen. Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass der Rechtfertigungsdruck verfassungsrechtlicher Art ist.53 Verlangt die Verfassung selbst nach einem Schuldstrafrecht, so muss die Fiktion von dessen Voraussetzungen deshalb gerechtfertigt sein. Um dies festzustellen wird geprüft, ob das Grundgesetz die Willensfreiheit voraussetzt, sich den Menschen also frei und verantwortlich vorstellt (sogleich 1). Alsdann ist zu fragen, ob es eines Schuldstrafrechts bedarf, um dieses grundgesetzliche Menschenbild54 zu achten (unten 2).

1. Die Willensfreiheit im grundgesetzlichen Menschenbild

Anfragen an das Menschenbild des Grundgesetzes sind schwierig. Hier soll versucht werden, der Menschenwürdegarantie entsprechende Hinweise zu entnehmen. Deren Aussagegehalt wird dabei insbesondere im Lichte ihrer Ideengeschichte betrachtet.55

Den Begriff der Würde prägend, verstanden Cicero und Seneca diese nicht als bloße Regel, sondern als Seinsgegebenheit, welche die Regel erst begründe.56 Das Wesen der Menschenwürde als Aussage über das tatsächliche Sein des Menschen, als „ontologische Größe“57, wurde seitdem nicht in Frage gestellt.58

Ihre Begründung dagegen unterlag stetem Wandel. Seneca59 und ihm folgend die christliche imago-dei-Lehre60 verwiesen auf die Gottesähnlichkeit des Menschen. Schon Albertus Magnus und Thomas von Aquin begründeten die Würde jedoch mittelbar mit der menschlichen Willensfreiheit, die ihm seine Gottesebenbildlichkeit verleihe.61 In der Renaissance trat diese Freiheit in den Vordergrund, und verdrängte mit der Aufklärung die imago-dei-Lehre vollständig. Mit der Aufklärung fand mit Pufendorf eine auf Willensfreiheit beruhende Würdekonzeption Einzug auch in die deutsche Staatstheorie.62 Auch die für die das Grundgesetz stark prägende63 Menschenwürdetheorie Kants löst sich vom imago dei und gründet sich ganz auf die Freiheit zur Selbstbestimmung.64 Dieser Ideengeschichte folgend liegt auch Art. 1 Abs. 1 GG die Vorstellung eines Menschen zugrunde, der „darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten.“65 Diese Freiheit begründe seine Freiverantwortlichkeit, und diese wiederum


48 Hirsch, ZStW 1994, 746 (763).

49 Roxin, SchwZStR 1987, 356 (369). Diese sei ein „Grundgesetz des sozialen Daseins“, so grundlegend Graf von Dohna, ZStW 1954, 503 (509); ähnl. Jescheck, Das Menschenbild unserer Zeit und die Strafrechtsreform, 1957, S. 20; Roxin, SchwZStR 1987, 356 (369); Grasnick (Fn. 24), S. 55; Maurach/Zipf (Fn. 8), § 36 Rn. 12; Hirsch, ZStW 1994, 746 (763); Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre3, 2008, S. 144.

50 Vgl. Röhl/Röhl (Fn. 49) S. 144.

51 Ansonsten könnte jede Form von staatlicher Rache, soweit diese von der Gesellschaft gewollt ist, gerechtfertigt werden.

52 Tiemeyer, GA 1986, 203 (205).

53 Dazu schon oben A.II.1.

54 Zum Begriff des Menschenbildes Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 11 Fn. 9 m.w.N.

55 Die Menschenwürde ist von ihrer Ideengeschichte besonders geprägt, vgl. BVerfGE 45, 187 (229); Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 15), Art. 1, Rn. 7. Dies gilt in besonderem Maße für das ihr zugrundeliegende Menschenbild, vgl. Häberle (Fn. 54), S. 19.

56 Der Mensch sei für den anderen eine heilige Sache (sacra res), so Seneca, Epistulae, 95, 33, zit. nach Lausberg, Untersuchung zu Senecas Fragmenten, 1975, S. 146 Fn. 54.

57 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 15), Art. 1, Rn. 10, Begriff nach Giannozo Manetti.

58 Dürig, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz Kommentar (Altaufl.)39, Art. 1, Rn. 18; Häberle (Fn. 54), S. 12; Wachtendorf, Die Würde des Menschen, 2004, S. 12. Ähnlich heißt es auch in BVerfGE 25, 269 (285), in Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG zeige sich, dass das Grundgesetz Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen voraussetze.

59 Seneca glaubt, die Menschen seien Teil eines großen (göttlichen) Körpers (membra sumus corporis magni), Seneca, Epistulae, 95, 52, zit. nach Stelzenberger, Die Beziehungen der frühchristlichen Sittenlehre zur Ethik der Stoa, 1989, S. 44 Fn. 59.

60 Dazu eingehend Wildfeuer, in: ders./Nicht (Hrsg.): Person – Menschenwürde – Menschenrechte im Disput, 2002, S. 41. Diese Lehre gründete sich wesentlich auf die biblische Schöpfungsgeschichte, vgl. Genesis 1 (26/27); 9 (6).

61 So gilt Albertus Magnus die Willensfreiheit als „das wichtigste Zeugnis des imago-Verhältnisses“, Wildfeuer (Fn. 60), S. 41 Fn. 57. Für Thomas von Aquin konstituiert die Entscheidungsfreiheit des Menschen seine Gottesähnlichkeit, vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 15), Art. 1 Rn. 9.

62 Vgl. Pufendorf, De iure naturae et gentium, 1672, 2. Buch, 1. Kapitel, § 5, dt. Übersetzung nach Wesel, in: Artinger (Hrsg.): Die Grundrechte im Spiegel des Plakats, 2000, S. 9.

63 Siehe Häberle (Fn. 54), S. 10; Nida-Rümelin (Fn. 19), S. 127; Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 15), Art. 1, Rn. 12; Krit. Frister (Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts, 1988, S. 19 Fn. 56), der sich gegen eine Auslegung der Menschenwürde anhand einer bestimmten Philosophie ausspricht.

64 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bearbeitung auf Grundlage der zweiten Originalausgabe (1886), 1978, S. 254.

65 BVerfGE 45, 187 (227); ähnl. BVerfGE 27, 1 (6); 32, 98 (107-108); Dürig, Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 1956, 117 (125, 131); Stratenwerth, Leitprinzipien der Strafrechtsreform, 1970, S. 9; Otto, GA 1981, 481 (486); Lampe (Fn. 2), S. 225; Schünemann in: ders./Müller/Philipps (Hrsg.): Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, 2002, S. 4-5 m.w.N.; Wildfeuer (Fn. 60), S. 51; Wachtendorf (Fn. 58), S. 12; Hillenkamp, in: ders. (Hrsg.), Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht?, 2006, S. 7; Roxin (Fn. 2), § 3 Rn. 55; Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2009, S. 233.

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mache seine Würde aus.66 Damit ist zugleich eine Aussage über das Wesen der in Art. 1 Abs. 1 GG angelegten menschlichen Freiheit getroffen: Diese soll Verantwortlichkeit begründen. Verantwortung ist nur durch objektiv absolute Freiheit zu begründen,67 diese wird somit von Art. 1 Abs. 1 GG vorausgesetzt.

2. Ein Schuldprinzip zur Achtung dieses Menschenbildes

Mit der Menschenwürde entscheidet sich das Grundgesetz für ein Menschenbild, demzufolge der Wille frei und der Mensch verantwortlich ist. Mit seiner Würde hat der Staat also auch die „Eigenverantwortlichkeit des Menschen (…) bei der Ausgestaltung des Strafrechts zu achten und zu respektieren“.68 Diese Pflicht trifft den Staat als individueller Achtungsanspruch des Einzelnen sowie als von den Grundrechten geprägte objektive Werteordnung.69

Kann auf dieser Grundlage das Schuldprinzip bestehen bleiben? Zur Beantwortung dieser Frage werden zunächst Bedenken gegen die Koppelung von Menschenwürde und Schuld ausgeräumt (sogleich a). Alsdann wird untersucht, ob das oben entwickelte Menschenbild die Erfüllung der Schuldfunktionen erfordert (unten b). Ist nur eine der Schuldfunktionen rechtfertigungsfähig, stellt sich die Frage, ob diese unabhängig voneinander bestehen können (unten c).

a) Zur Koppelung von Schuld und Menschenwürde

Gegen eine Koppelung von Schuld und Menschenwürde bestehen Einwände: Basiere das Schuldprinzip auf der auch von Art. 1 Abs. 1 GG vorausgesetzten Willensfreiheit, so könne niemandem die Schuldfähigkeit ab- und dennoch die Menschenwürde zugesprochen werden.70 Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung könne zwar abstrahiert, also auch bei jenen, denen sie fehle, als vorhanden gedacht werden.71 Dann müsste man aber auch die Schuldfähigkeit abstrahieren, und könne sie nicht in Fällen des § 20 StGB ausschließen.72

Der zweite Schritt entlarvt sich bei näherer Betrachtung als Fehlschluss. Er verkennt den Grund, aus dem die gleiche Würde aller Menschen angenommen wird. Zur Begründung eines Menschenbildes genügt die Freiheit „des Menschen an sich“.73 Vorausgesetzt ist damit nur eine abstrakte Freiheit, eine Eigenschaft des idealtypischen Menschen. Warum vermag diese abstrakte Freiheit auch die Würde desjenigen zu begründen, bei dem sie konkret nicht vorliegt? Nicht nur die Freiheit des Menschen, auch seine Gleichheit ist eine in der Menschenwürde enthaltene Teilgegebenheit. Schon deshalb muss die Freiheit, die sie postuliert, als Freiheit jedes Menschen gedacht werden. Mit der Freiheit jedes Menschen ist auch die Würde jedes Menschen begründet. Somit haben auch jene, bei denen die tatsächlichen Voraussetzungen zur Selbstbestimmung fehlen, einen Anspruch darauf, als würdig behandelt zu werden. Ein Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG darf freilich nicht zulasten seines Trägers gehen. Somit kann die Menschenwürde nicht die Verantwortlichkeit der nach § 20 StGB schuldlos Handelnden begründen.

b) Rechtfertigung der Schuldfunktionen

Grundsätzlich ist es also möglich, Schuld und Menschenwürde zu koppeln. Nun kann untersucht werden, ob das Schuldprinzip erforderlich ist, um den Menschen so zu behandeln, wie die Menschenwürde ihn sich vorstellt: frei, verantwortlich und gleich.

aa) Exkurs: Strafrecht ohne Schuld

Um zu verstehen, was das Schuldprinzip leistet, muss die Möglichkeit eines Strafrechts ohne Schuld skizziert werden. Ein solches richtete sich nach Prävention und Verhältnismäßigkeit: Ein Wegfall der strafbegründenden Schuldfunktion ließe die Prävention in ihren beiden Varianten ins Zentrum der Strafzwecke vorstoßen (Strafrecht als défense sociale74). Ein Wegfall ihrer strafbegrenzenden Funktion ließe das staatliche Präventionsbedürfnis nicht ohne Hemmnis, würde doch das Verhältnismäßigkeitsprinzip die Strafzumessungsschuld substituieren.75 Dieses berücksichtigte jedoch neben vom Täter begangenen Taten auch von ihm zu erwartende.76 Außerdem setzte es diese nur ins Verhältnis zur Strafe, bildete keine absolute Schranke der Strafhöhe.77

Will man das Bedürfnis nach Schuld aus der Verfassung herleiten, so muss man Folgendes darlegen: Schreibt das Grundgesetz ein Strafen aufgrund der Täterschuld vor, in Abgrenzung zu einem Strafen aus Präventionsgesichtspunkten? Dies führte zur Rechtfertigung der strafbegründenden Schuldfunktion. Verlangt das Grundgesetz eine Strafbegrenzung gerade durch das Schuldprinzip, und nicht nur durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz? Dies führte zur Rechtfertigung der strafbegrenzenden Schuldfunktion.

bb) Strafbegründende Funktion

Der Strafbegründungsfunktion der Schuld folgend wird durch die Strafe die Verantwortlichkeit des Täters anerkannt und abgegolten.78 Das grundgesetzliche Menschenbild wird so geachtet. Aber ist damit schon die Strafbegründungsschuld gerechtfertigt? Dem muss auf Ebene der Grundrechtsdogmatik widersprochen werden: Art. 1 Abs. 1 GG vermittelt einen Anspruch auf Achtung und Schutz.79 Er kann aber keinen Eingriff in Grundrechte seines Trägers rechtfertigen. Auch die grundrechtsgeprägte objektive Werteordnung soll nur den Schutzanspruch des Individuums erweitern,80 sie


66 Vgl. nur BVerfGE 25, 269 (285); 32, 98 (107); 45, 187 (228); ähnl. Lampe (Fn. 2), S. 225; Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 15), Art. 79 Rn. 116.

67 Siehe oben A.II.

68 BVerfGE 25, 269 (285); ähnlich BVerfGE 45, 187 (228).

69 Vgl. BVerfGE 7, 198 (205); 35, 202 (225); 39, 1 (43); 50, 290 (337).

70 So Detlefsen (Fn. 16), S. 102-104, 117-118.

71 So die wohl herrschende Meinung zur Menschenwürde, siehe Dürig, AöR 1956, 117 (125).

72 Vgl. Detlefsen (Fn. 16), S. 103.

73 Dürig, in: Maunz/Dürig (Fn. 58), Art. 1 Rn. 18.

74 Vgl. Ellenscheid/Hassemer, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Seminar: Abweichendes Verhalten II, Bd. 1, 1975, S. 282; Kaufmann (Fn. 21), S. 27 (35). Bedeutungsgleich finden auch die Begriffe des Zweckstrafrechts (etwa Liszt, in: ders., Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, 1905, S. 25), des Schutzstrafrechts (Wulff, Die Existenziale Schuld, 2008, S. 11) und des Sanktionenrechts (Detlefsen [Fn. 16], S. 345) Verwendung.

75 Vgl. zu diesem nur BVerfGE 23, 127 (133). Das Schuldprinzip kann als spezielle Ausprägung der Verhältnismäßigkeit gelten, vgl. Kaufmann (Fn. 21), S. 27 (34); Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT11, 2003, § 3 Rn. 35; Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Fn. 15), Art. 20 Rn. 124. Weil der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dem präventiven Strafbedürfnis Grenzen setzen würde, darf es als verfehlt gelten, die Befürwortung eines schuldfreien Strafrechts als „Plädoyer für das Wegsperren“ zu kennzeichnen. So aber Pawlik, FAZ v. 12.10.2007, S. 45.

76 Vgl. Kaufmann (Fn. 21), S. 27 (34).

77 Vgl. Kaufmann (Fn. 21), S. 27 (34-35).

78 Dies beruht auf Hegels Verständnis von Schuld und Menschenwürde, vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 2009, § 100; zust. Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 97.

79 Vgl. nur BVerfGE 109, 133 (149-150).

80 Vgl. BVerfGE 7, 198 (205).

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kann mithin die Schuldstrafe ebenfalls nicht rechtfertigen.81 Auf das Menschenbild der Menschenwürde vermag sich also kein zur Strafbegründung geeignetes Schuldprinzip stützen.82

cc) Strafbegrenzende Funktion

Die strafbegrenzende Funktion der Schuld birgt eine Ungleichbehandlung der Täter anhand ihrer von Gesetzgeber und Richter bestimmten Verantwortlichkeit. Dies bedarf vor Art. 3 Abs. 1 GG der Rechtfertigung. Eine solche Rechtfertigung könnte in dem von Art. 1 Abs. 1 GG vorausgesetzten und geschützten Menschenbild liegen.

Wehrt sich ein Täter gegen eine Ungleichbehandlung durch das Schuldprinzip, so muss er geltend machen, alle Menschen seien gleichermaßen determiniert. Nur auf Basis dieses tertium comparationis (verantwortungsloser, determinierter Mensch) verstieße die Ungleichbehandlung anhand der individuellen Verantwortlichkeit gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Der Gleichheitssatz ist jedoch Ausdruck der Menschenwürde. Als solcher muss er sich auch auf das von der Menschenwürde vorausgesetzte Menschenbild gründen. Dieses kann deshalb selbst nicht Gegenstand der Überprüfung anhand von Art. 3 Abs. 1 GG sein. Aus demselben Grund kann eine von diesem Menschenbild abweichende Auffassung nicht als tertium comparationis zur Verfügung stehen. Der determinierte Mensch ist also keine Grundlage des Art. 3 Abs. 1 GG. Differenziert man die Täter anhand ihrer Verantwortlichkeit, so werden mithin nicht gleiche Sachverhalte ungleich behandelt: Sie waren nie gleich.

Art. 3 Abs. 1 GG steht einer Differenzierung nach Verantwortlichkeit also nicht entgegen. Ist eine solche Differenzierung sogar geboten? Hierfür spricht das Rechtsstaatsgebot: Die Schuld ist ein Mittel bürgerlicher Freiheitswahrung.83 Sie begrenzt die staatliche Strafgewalt in rechtsstaatlich angemessener Weise.84 Das Rechtsstaatsgebot gebietet, dass jede Strafe in gerechtem Verhältnis zur Schwere der Straftat und zur Schuld des Täters steht.85 Ohne das oben begründete Menschenbild könnten diese Aussagen nicht sinnvoll bestehen. Worin sollte auch ausgleichende Gerechtigkeit, Schuldangemessenheit liegen, ohne die Verantwortlichkeit des Täters als Grundlage? Mit dem Menschenbild des Art. 1 Abs. 1 GG als Grundlage wird eine Differenzierung anhand der Schuld dagegen zwingend. Schaffte der Gesetzgeber die Strafbegrenzungsschuld ab, so verstieße er gegen zwei Verfassungsnormen: Erstens ignorierte er damit den Anspruch des Einzelnen auf Achtung seiner Verantwortlichkeit, verstieße also gegen Art. 1 Abs. 1 GG. Immer dann, wenn die vom Staat gefundene Strafe die Verantwortlichkeit des Einzelnen überschritte, verletzte der Staat außerdem das Gebot materieller Gerechtigkeit, also das Rechtsstaatsprinzip.86 So verlangen Art. 1 Abs. 1 GG (als Grundlage der Verantwortlichkeit) und das Rechtstaatsprinzip (als Pflicht, diese Verantwortlichkeit in der Strafe zu berücksichtigen), dass die Strafe das Maß der Schuld nicht überschreite.87

c) Zur Trennung der Schuldfunktionen

Das grundgesetzliche Menschenbild vermag also die Strafbegrenzung durch Schuld zu begründen. Damit ist die Abschaffung der Schuld als Strafbegründung eingeläutet. Ist diese Trennung der Schuldfunktionen aber überhaupt möglich? Der Schuld ist ihre Janusköpfigkeit gegenüber dem Täter keineswegs immanent.88 Im Gegenteil: Ihrer Ideengeschichte89 und ihrer Aufnahme in das StGB90 liegen fast allein liberale, täterfreundliche Gedanken zugrunde. Insbesondere dann, wenn man die Schuld auf Grundrechte zurückführt, so ist ihr gerade die Einseitigkeit zugunsten des Grundrechtsträgers immanent. Die Schuldfunktionen sind mithin voneinander lösbar.

III. Zusammenführung

Die hier vorgeschlagene Lösung des zweiten Diskursfeldes kann die Schuld nur zur Strafbegrenzung aufrechterhalten. Die Strafe selbst kann danach nur durch präventive Zwecke gerechtfertigt werden. Schuld und Prävention stehen danach im Verhältnis wechselseitiger Begrenzung.91

C. Schlussbetrachtung

Der hier versuchte Überblick wollte sich auf die beiden juristischen Kernfragen des Themas beschränken, die Darstellung blieb deshalb notwendig lückenhaft. Ob man eine Fiktion der Willensfreiheit für notwendig hält, ist abhängig davon, welchen Standpunkt man in der Diskussion um das Bestehen der Willensfreiheit einnimmt. Geht man aber von der Notwendigkeit einer Fiktion aus, so muss sich auch das Grundverständnis des Strafrechts ändern. Fingiert man nämlich die Voraussetzungen der Schuld, dann kann eine Verurteilung kein Vorwurf, kein staatliches Werturteil mehr sein.92


81 So auch Detlefsen (Fn. 16), S. 109.

82 Eine Strafbegründung durch das Prinzip des Schuldausgleichs verstößt darüber hinaus gegen das der Demokratie zugrundeliegende staatsvertragliche Denkmodell: Die „Verwirklichung von Ideen“ gehört nicht zum dem Staat übertragenen Aufgabenkreis, siehe nur Roxin, ZStW 1984, 641 (645); menschliche Schuld durch Übelzufügung auszugleichen sei dem Menschen nicht möglich, ders. SchwZStR 1987, 356 (371); die Strafe sei auch schon deshalb nicht mit dem Verbrechen aufrechenbar, weil sie gerecht sei, Pauen (Fn. 13), S. 60.

83 Vgl. Roxin (Fn. 2), § 3 Rn. 55.

84 Vgl. Roxin, ZStW 1984, 641 (639, 645).

85 Vgl. BVerfGE 6, 389 (439); 45, 187 (228).

86 BVerfGE 20, 323 (331).

87 Diesem Gedankengang folgend auch BVerfGE 25, 269 (285): Es sei ein rechtsstaatlicher Grundsatz, dass keine Strafe ohne Schuld verwirkt werde. Dieser wurzele „in der in Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG verfassungskräftig geschützten Würde und der Eigenverantwortlichkeit des Menschen“.

88 A.A. Detlefsen (Fn. 16), S. 108.

89 Vgl. Roxin, ZStW 1984, 639; Weber (Fn. 75), § 3 Rn. 54.

90 Dieser lag insbesondere die Erfahrung des Nationalsozialismus zugrunde, unter welchem der Täter zum Objekt der Verbrechensbekämpfung gemacht, der Prävention also unbedingter Vorrang eingeräumt wurde, vgl. Stratenwerth (Fn. 65), S. 8; Lackner, in: FS Kleinknecht, 1985, S. 245 (246-248).

91 Roxin, ZStW 1984, 641 (654-655).

92 So auch Tiemeyer, GA 1986, 203 (227); Roxin, SchwZStR 1987, 356 (371); Maurach/Zipf (Fn. 8), § 36 Rn. 7.