Analogie im Steuerrecht – eine verfassungsrechtlich zulässige Methode gegen „Steuerschlupflöcher“?

von Christian Kahf*

A. Einleitung

Wie kaum ein anderes Rechtsgebiet zeichnet sich das Steuerrecht durch seine Komplexität aus; prägend sind die „regelungsbedürftige und von einer Regelung erfasste Wirklichkeit“1 und ein hieraus resultierendes beziehungsreiches Normengebilde. Dabei verwundert es nicht, dass der Steuergesetzgeber trotz eines hohen Abstraktionsgrades nicht alle Lebenssachverhalte voraussehen und positivrechtlich erfassen kann. Jüngst mehren sich in Deutschland die Presseberichte über auch dadurch bedingte Regelungslücken in Steuergesetzen, die dem Steuerpflichtigen die Senkung der Bemessungsgrundlagen ermöglichen und nicht selten negativ konnotiert als „Steuerschlupflöcher“ bezeichnet werden. Hierdurch steigt der öffentlichen Druck auf die Legislative stetig.

Dieser Aufsatz nimmt die aktuelle Entwicklung zum Anlass, um – die Perspektive auf die anderen Staatsgewalten wechselnd – die Möglichkeiten und Grenzen der zulässigen Rechtsfortbildung durch die Exekutive und Judikative im Steuerrecht zu untersuchen. Ziel dieses Beitrags ist es, eine Antwort auf die Frage, ob die Finanzverwaltung und die Finanzgerichte im Wege der Analogie bestehende Gesetzeslücken schließen können, zu finden. Zwar kommt den Rechtsanwendern die „im modernen Staat geradezu unentbehrlich[e]“2 „Aufgabe und Befugnis zur schöpferischen Rechtsfindung“3 zu, mit Blick auf die Steuerschlupflöcher ist jedoch die Kernfrage nach der Zulässigkeit der Analogie zulasten des Steuerpflichtigen besonders prononciert. Nachfolgend soll deshalb zunächst die zugrunde liegende rechtliche Problematik aufgezeigt werden (B.). Sodann kann diese nach einem Überblick über die finanz- und verfassungsgerichtliche Rechtsprechung (C.I.) im Hinblick auf die Fragestellung analysiert und bewertet werden (C.II.).

B. Problemverortung: Lückenausfüllung zwischen Rechtssicherheit und Gleichbehandlung

Um das Problem der Analogie zulasten des Steuerpflichtigen zu verorten, ist vorab eine Auseinandersetzung mit den methodischen Grundlagen der Analogiebildung und ausgewählten, der Besteuerung zugrunde liegenden Verfassungsprinzipien erforderlich.

I. Die Methode der Analogie und ihre Voraussetzungen

Ausgangspunkt jeder Rechtsanwendung im Einzelfall ist die Gesetzesauslegung (Wortlaut, Gesetzessystematik, Teleologie und Genese),4 die durch den äußersten noch möglichen Wortsinn der Norm begrenzt ist.5 Über diese Grenze hinaus dient die Analogie als Methode der Rechtsfortbildung der Ausfüllung von Gesetzeslücken,6 indem eine Norm, ein Rechtsprinzip oder -gedanke auf einen nicht geregelten Sachverhalt übertragen wird.7 Voraussetzung hierfür ist die Lückenhaftigkeit des Gesetzes. Eine Gesetzeslücke ist die „Unvollständigkeit des positiven Rechts“8 und liegt vor, wo es „gemessen an seiner eigenen Regelungsabsicht“ und „immanente[n] Teleologie“9 ergänzungsbedürftig ist.10 Ferner setzt eine Analogie die Planwidrigkeit der Lücke voraus. Beruht die Unvollständigkeit des Gesetzes auf einer bewussten Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers („beredetes Schweigen“), durch welche dieser den Rechtssatz auf bestimmte Tatbestände beschränken wollte, ist eine Rechtsfortbildung durch den Rechtsanwender unzulässig.11

Diese von Larenz begründete Lehre zur Ausfüllung von Gesetzeslücken ist fester Bestandteil der ständigen höchstrichterlichen finanzgerichtlichen Rechtsprechung.12

II. Verfassungsrechtliche Prinzipien der Besteuerung

1. Das Rechtsstaatsprinzip und seine Ausprägungen

Als „eines der elementaren Prinzipien des Grundgesetzes“13 gehört das Rechtsstaatsprinzip zu den zentralen Verfassungsgrundsätzen und konstituiert die Rahmenbedingungen jeder Rechtssetzung, Rechtsanwendung und Rechtsfindung.14 Es gilt somit auch im Steuerrecht. Neben der Gewährung der Grundrechte (materielle


* Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.
1 Fischer, StuW 1995, 303, 307 – Rechtschreibung durch Verfasser angepasst.

2 BVerfGE 69, 188, 203.

3 BVerfGE 34, 269, 287; so auch Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar zum GG18, 2013, Art. 20 Rn. 158; Jachmann, in: Maunz/Dürig (Begr.), Kommentar zum GG68, 2013, Art. 95 Rn. 13.

4 BVerfGE 1, 299, 312; Gern, NVwZ 1995, 1145, 1146.

5 BFH, IV R 76/70, BStBl. II 1974, 295, 296; Woerner, in: Tipke (Hrsg.), DStJG 5, Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung und Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, 1982, S. 23, 27; Völker, DStZ 1989, 235, 236.

6 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, 1991, S. 381; Barth, Richterliche Rechtfortbildung im Steuerrecht, 1996, S. 80 f.; Heller, Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, 1961, S. 76.

7 Völker, DStZ 1989, 235, 236; Gersch, in: Klein/Orlopp (Begr.), Kommentar zur AO11, 2012, § 4 Rn. 37.

8 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz2, 1983, S. 30.

9 Larenz (Fn. 6), S. 374.

10 Abzugrenzen ist die Ergänzungsbedürftigkeit von der im Steuerrecht nicht selten kontrovers diskutierten rechtspolitischen Verbesserungsbedürftigkeit (BFH, I R 164/68, BStBl. II 1972, 858, 859; BFH, VI R 167/74, BStBl. II 1977, 154, 155; Drüen, in: Tipke/Kruse (Hrsg.), Kommentar zur AO und FGO132, 2013, § 4 AO Rn. 345).

11 Offerhaus, BB 1984, 993, 996; Rhinow, Rechtsetzung und Methodik, 1979, S. 39 f.; Larenz (Fn. 6), S. 373.

12 Vgl. BFH, GrS 4/78, BStBl. II 1979, 375, 378; BFH, I R 184/76, BStBl. II 1980, 119, 120; BFH, IV R 76/70, BStBl. II 1974, 295, 297; BFH, VI R 167/74, BStBl. II 1977, 154, 155.

13 BVerfGE 20, 323, 331.

14 Woerner, in: DStJG 5 (Fn. 5), S. 23, 25; Jarass/Pieroth, Kommentar zum GG12, 2012, Art. 20 Rn. 29; Robbers, in: Dolzer (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG162, 2013, Art. 20 I Rn. 1718.

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Rechtsstaatlichkeit) konkretisiert sich der Grundsatz in dem Gebot der Rechtssicherheit, welches seinerseits in der Gesetzmäßigkeit staatlicher Handlungen und der Gewaltenteilung, im Gebot des Vertrauensschutzes und der Vorhersehbarkeit hoheitlicher, freiheitseinschränkender Eingriffe (formelle Rechtsstaatlichkeit) Ausdruck findet.15

Als Eingriffsrecht „in seiner reinsten Form“16 ist das Steuerrecht an den Vorbehalt des Gesetzes gebunden und „nur erträglich, wenn es […] auf Grund eines Tatbestandes vorausberechenbar ist“17. Einfachgesetzlicher Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips ist der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung gemäß §§ 3 Abs. 1 und 38 AO („Tatbestand […], an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft“).18

2. Gleichmäßigkeit der Besteuerung

Ferner liegt dem Steuerrecht das Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung zugrunde. Dieser auf dem allgemeinen Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG beruhende Grundsatz verpflichtet den Steuergesetzgeber zur Rechtssetzungsgleichheit19 und die Finanzverwaltung und Finanzgerichte zur Rechtsanwendungsgleichheit20 (siehe für erstere auch § 85 S. 1 AO).

Überdies ist Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit konkretisiert, welches als fundamentaler Vergleichsmaßstab steuerlicher Lastengerechtigkeit Einzug in das moderne deutsche Steuerrecht gefunden hat.21 Das Leistungsfähigkeitsprinzip gilt für sämtliche Steuerarten,22 ist jedoch insbesondere dem Einkommensteuerrecht inhärent, das gerade auf die Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen angelegt ist.23 Demgemäß finden sich im EStG zahlreiche Normen, die das objektive und subjektive Nettoprinzip als ertragssteuerrechtliche Spezifizierung des Art. 3 Abs. 1 GG24 einfachgesetzlich umsetzen. Das grundrechtlich verankerte Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit versteht sich mithin als ein solches der materiellen Rechtsstaatlichkeit im oben genannten Sinne.

III. Der verfassungsrechtliche Konflikt

Mit Blick auf die Voraussetzungen einer Analogie und die ausgewählten Besteuerungsprinzipien des Grundgesetzes lässt sich das Problem der Analogie im Steuerrecht näher bestimmen: Einerseits knüpft diese Rechtsfortbildungsmethode an eine Lücke im Steuergesetz an und intendiert diese zu schließen, während gegensätzlich das Rechtsstaatsprinzip nach Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit strebt und somit insbesondere im Falle einer Analogie zulasten des Steuerpflichtigen gegen eine Lückenausfüllung und für die Hinnahme eines unvollständigen Wortlautes spricht. Andererseits kann für einen vom Wortlaut nicht erfassten, jedoch aufgrund der einzelsteuerrechtlichen „immanenten Teleologie“ interessensgleichen und im Sinne der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ebenso steuerwürdigen Sachverhalt aufgrund gleichheitsrechtlicher Erwägungen das Interesse bestehen, diesen durch entsprechende Normenanwendung ebenso zu besteuern. Folglich präzisiert sich das hier untersuchte Problem der Analogiefähigkeit steuerrechtlicher Normen auf einen Konflikt zwischen formeller und materieller Rechtsstaatlichkeit und stellt in erster Linie ein verfassungsrechtliches, kein methodisches Problem dar.25

C. Problemanalyse: Zur Zulässigkeit belastender Analogien

Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich der soeben hergeleitete Konflikt auf die Rechtsfortbildungsmethode der Analogie auswirkt und für den Fall gelöst werden kann, dass sie den Steuertatbestand zulasten des Steuerpflichtigen verschärft.

I. Finanz- und verfassungsgerichtliche Rechtsprechung

Die Frage nach der Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung hat als eine der „fundamentalen“ und „grundlegendsten Themen“26 der Steuerrechtswissenschaft Einzug in zahlreiche Entscheidungen der finanz- und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gefunden.

1. Rechtsprechung des Reichs- und Bundesfinanzhofs

Der Reichsfinanzhof (RFH) sah sich schon kurz nach der Aufnahme seiner Tätigkeit (1918) mit der hier untersuchten Frage konfrontiert. Nachdem er 1920 in einem Urteil den Grundsatz entwickelte, dass die

„Regel zur Entscheidung des Einzelfalls […] dem leitenden Gedanken des geltenden Rechtes, wie es sich als einheitliches Ganzes entwickelt hat, zu entnehmen [ist]“27,

ergänzte der RFH 1921 gutachterlich, dass der Richter durch Rechtsanwendung nicht

„einen anderen Tatbestand, der nach seiner Ansicht möglicherweise den Gesetzgeber hätte veranlassen können, die gleiche Steuer auch auf diesen Fall zu erstrecken, der Steuerpflicht unterwerfen“28


15 BVerfGE 7, 89, 92 f.; BVerfGE 20, 323, 331; Hess, Analogieverbot und Steuerrecht, 1974, S. 149 f.; Barth (Fn. 6), S. 525 f.; Hey, in: Tipke (Begr.)/Lang (Fort.), Steuerrecht21, 2013, § 3 Rn. 230 ff.; Robbers, in: BonnKommGG (Fn. 14), Art. 20 I Rn. 1729.

16 Hess (Fn. 15), S. 161.

17 Felix, in: FS Spitaler, 1958, S. 135, 146.

18 Gersch, in: Klein/Orlopp (Fn. 7), § 3 Rn. 11; Koenig, in: Pahlke/Koenig (Hrsg.), Kommentar zur AO2, 2009, § 38 Rn. 2.

19 BVerfGE 34, 325, 328 f.; BVerfGE 42, 64, 72.

20 BVerfGE 84, 239, 268 u. 271; BFH, II R 129/88, BStBl. II 1992, 707, 708 f.; Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999; Hey, in: Tipke/Lang (Fn. 15), § 3 Rn. 110.

21 Statt vieler BVerfGE 66, 214, 223: „Es ist ein grundsätzliches Gebot der Steuergerechtigkeit, dass die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichtet wird. […] Im Gesetzgebungsverfahren ist es als ‚das Prinzip der Steuergerechtigkeit‘ bezeichnet worden, ‚jeden Bürger nach Maßgabe seiner finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit mit Steuern zu belasten‘ (BT-Drucks. 7/1470, S. 211 f.). Dieses Prinzip war schon in Art. 134 WRV normiert; bereits damals wurde es als ‚oberster Besteuerungsgrundsatz‘ […] gewertet […].“ – Rechtschreibung und Abkürzungen durch Verfasser angepasst.

22 Hey, in: Tipke/Lang (Fn. 15), § 3 Rn. 121.

23 BVerfGE 82, 60, 86; Birk, Steuerrecht15, 2012, § 2 Rn. 188 f.

24 Tipke, in: DStJG 5 (Fn. 5), S. 1, 9.

25 So auch Tipke, in: FS Wallis, 1985, S. 133, 142; ders., Die Steuerrechtsordnung I2, 2000, S. 198.

26 Tipke, in: DStJG 5 (Fn. 5), S. 1.

27 RFH, II A 232/20, E 4, 48, 52.

28 RFH, I D 1/21, E 6, 292, 298.

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kann. Dem konnte gleichwohl, wie sich aus weiteren Entscheidungen ergab, die auf diese Formulierungen verwiesen,29 nur ein Verbot freier Rechtsschöpfung entnommen werden.30

Basierend auf dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips, hielt der Bundesfinanzhof (BFH) im Folgenden die

„Ausdehnung des Steuertatbestandes über den möglichen Wortsinn hinaus [für nicht statthaft], weil es allein dem Gesetzgeber vorbehalten ist, den Kreis der steuerbaren Tatbestände zu bestimmen“31.

Für ein Verbot von Analogien zulasten des Steuerpflichtigen sprachen sich im Anschluss an dieses Urteil aus dem Jahr 1969 weitere Entscheidungen aus.32 Zeitgleich und dessen ungeachtet entschied der BFH Rechtsstreitigkeiten – bei methodenehrlicher Betrachtung – durch Analogien zulasten der Steuerpflichtigen, ohne diese jedoch ausdrücklich als solche zu bezeichnen.33 So hat der II. Senat die Besteuerungspflicht nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG 1959, die ausgelöst wurde, wenn zu den persönlich haftenden Gesellschaftern einer KG eine Kapitalgesellschaft gehört, über den Wortlaut hinaus auf die sogenannte „doppelstöckige“ GmbH & Co. KG angewendet, eine Gestaltung, bei der eine GmbH & Co. KG, also keine Kapitalgesellschaft, die Komplementärin einer anderen GmbH & Co. KG ist.34

Ein signifikantes Urteil fällte am 20. Oktober 1983 der IV. Senat des BFH. Soweit ersichtlich, ist dieses Urteil das erste, in dem das Gericht ausdrücklich eine Lückenausfüllung durch Analogieschluss zuungunsten des Steuerpflichtigen entwickelt und für verfassungsrechtlich zulässig erachtet:

„Der Senat vertritt […] die Auffassung, dass das Gebot der Rechtssicherheit in Einzelfällen eine Lückenfüllung durch steuerverschärfende Analogie nicht ausschließt. Ergibt sich einwandfrei, dass eine Lücke im Gesetz vorliegt, […] so ist eine Lückenfüllung auch zum Nachteil des Steuerpflichtigen möglich.“35

Diese – wohl als zustimmende Reaktion auf die Beiträge zur Tagung der DStJG 1981 zum Thema „Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung und Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht“36 zu verstehende – Rechtsauffassung des BFH blieb seitdem in seiner Ausdrücklichkeit einzigartig.

2. Die Position des Bundesverfassungsgerichts

Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat sich mehrfach zur Rechtsfortbildung im Steuerrecht geäußert. Ausführlich zu den Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsfortbildung durch die Judikative und Exekutive hat sich das BVerfG anlässlich der Überprüfung des § 3 KVStG a. F. mit einer Entscheidung vom 10. Oktober 1961 bekannt. Dieser gemäß erfordern es die Grundsätze des Rechtsstaats und die damit verbundene Rechtssicherheit,

„dass die Norm, die eine Steuerpflicht begründet, nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt ist, sodass die Steuerlast messbar und in gewissem Umfang für den Staatsbürger voraussehbar und berechenbar wird“37.

Gleichwohl hat das BVerfG in selbiger Entscheidung, um das Gebot materieller Gerechtigkeit umzusetzen, dem Richter die Kompetenz zugebilligt, dass dieser

„Lücken schöpferisch ausfüllt und damit den objektiven Willen des Gesetzgebers im Einzelfall verwirklicht“38.

In einer weiteren vielzitierten Entscheidung aus 1962 hielt es das BVerfG für „bedenklich“, wenn ein Steuertatbestand durch Rechtsfortbildung geschaffen oder ausgeweitet wird,

„denn das Steuerrecht wird von der Idee der primären Entscheidung des Gesetzgebers über die Steuerwürdigkeit bestimmter generell bezeichneter Sachverhalte getragen und lebt dementsprechend aus dem Diktum des Gesetzgebers“39.

Unklar blieb jedoch weiterhin die Grenze richterlicher Rechtsfindung; eine „Primärentscheidung“ des Gesetzgebers schloss eine „Sekundärentscheidung“ der Gerichte nicht aus.40 Ausdrücklich an diese unter dem Namen „Diktum-des-Gesetzgebers“ bekannt gewordene Entscheidung anknüpfend konkretisierte ein Beschluss vom 30. Januar 1985, der sich mit der Rechtsprechung zum Sonderbetriebsvermögen eines GbR-Gesellschafters auseinandersetzte,

„dass die rechtsprechende Gewalt durch Analogie keine Steuertatbestände schaffen oder verschärfen kann“41.

Bemerkenswert an der Aussage dieses Beschlusses ist, dass sich zu diesem Zeitpunkt sowohl die Rechtsprechung des BFH als auch eine stark im Vordringen befindliche Auffassung in der wissenschaftlichen Literatur für die Zulässigkeit steuerverschärfender Analogien ausgesprochen hatte.42

II. Herleitung der Zulässigkeit belastender Analogien

Im Folgenden soll die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung durch Analogien zulasten des Steuerpflichtigen an den einschlägigen verfassungsrechtlichen Prinzipien der


29 RFH, IV A 3/27, E 20, 258, 259; RFH, I A a 76/29, E 25, 232, 235; RFH, V A 537/35, E 39, 252, 256.

30 Hess (Fn. 15), S. 66 f.

31 BFH, II 210/65, BStBl. II 1969, 736, 737.

32 BFH, VIII R 109/75, BStBl. II 1977, 283; BFH, VI R 177/75, BStBl. II 1977, 524, 525; BFH, I R 97/76, BStBl. II 1978, 628, 630.

33 Tanzer, StuW 1981, 201, 206.

34 BFH, II R 49/71, BStBl. II 1976, 121, 122 f.

35 BFH, IV R 175/79, BStBl. II 1984, 221, 224 – Rechtschreibung und Zeichensetzung durch Verfasser angepasst.

36 Diese Tagung am 5. und 6. Oktober 1981 in Mainz gilt als „Schicksalsmoment“ (Wendt, in: FS Wadle, 2008, S. 1203, 1205) der hier untersuchten Frage.

37 BVerfGE 13, 153, 160 – Rechtschreibung und Zeichensetzung durch Verfasser angepasst.

38 BVerfGE 13, 153, 164.

39 BVerfGE 13, 318, 328 – interne Zitate durch Verfasser ausgenommen.

40 Seuffert, DStR 1985, 5, 7; Woerner, in: GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 967, 974.

41 BVerfG, 1 BvR 279/83, NJW 1985, 1891 – Rechtschreibung durch Verfasser angepasst.

42 Vergleiche etwa BFH, IV R 175/79, BStBl. II 1984, 221, 224 und Tipke, in: DStJG 5 (Fn. 5), S. 1 ff.

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formellen und materiellen Rechtsstaatlichkeit gemessen werden.

1. Grundrechte

Dabei gilt es eingangs zu untersuchen, ob sich aus den Grundrechten verfassungsrechtliche Grenzen für die Zulässigkeit belastender Analogien ergeben.

a) Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)

Das Grundgesetz schützt in Art. 2 Abs. 1 GG mit der allgemeinen Handlungsfreiheit eine umfassende allgemeine Verhaltensfreiheit.43 Unabhängig davon, ob ein Steuergesetz direkt oder im Wege der Analogie angewendet wird, stellt es einen Eingriff in dieses Grundrecht dar. Fraglich ist nur, ob die Analogie eine den Eingriff rechtfertigende Eingriffsermächtigung im Sinne der Schrankentrias sein kann.

Weil das Steuererhebungsrecht des Staates kein „Recht anderer“ (Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 Var. 1 GG) ist, kann die Analogie die Handlungsfreiheit nur aufgrund der verfassungsmäßigen Ordnung (Var. 2) einschränken. Versteht man diese als Inbegriff aller formell und materiell mit der Verfassung konformen Normen,44 so verschiebt sich die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit auf eine nachgelagerte Ebene, auf der die Analogiefähigkeit der Steuernorm anhand anderer Grundrechte und Verfassungsprinzipien zu prüfen ist.45 So ergibt sich unmittelbar aus Art. 2 Abs. 1 GG keine Lösung des hier behandelten Problems.

b) Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG)

Eine Rechtsfortbildung zuungunsten des Steuerpflichtigen könnte mit der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG kollidieren. Einer Rechtfertigung vor diesem Grundrecht bedarf die Besteuerung jedoch nur, wenn das Steuergesetz eine berufsregelnde Tendenz aufweist,46 was bei Steuern, die primär die Erzielung von Einnahmen bezwecken (§ 3 Abs. 1 AO), selten der Fall ist.47 Bezogen auf die Frage der Analogien heißt das, dass die lückenausfüllende Anwendung einer nicht berufsregelnden Norm nicht berufsregelnd werden kann und die Analogie einer berufsregelnden Norm die gleiche Eingriffsintensität wie die lückenausfüllende Norm besitzt und auf selbiger Grundlage gerechtfertigt ist.

c) Eigentumsschutz (Art. 14 Abs. 1 GG)

Letztlich könnte sich aus der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG eine Einschränkung belastender Analogien im Steuerrecht ergeben.

Art. 14 GG schützt konkrete vermögenswerte Rechte.48 Nicht erstreckt sich der Schutzbereich des Grundrechts auf das Vermögen als solches.49 Die Steuerabgabe ist mithin eine von Art. 14 Abs. 1 GG grundsätzlich nicht geschützte „eigentumsneutrale Vermögensbelastung“50. Dessen ungeachtet liegt ein Verstoß gegen Art. 14 GG in atypischen Fällen ausnahmsweise vor, wenn die Steuer eine erdrossende Wirkung hat.51

Dies als Beurteilungsmaßstab zugrunde gelegt, wäre eine steuerverschärfende Analogie mit Art. 14 Abs. 1 GG unvereinbar, wenn durch die Lückenausfüllung selbst die Grenze zur Erdrosselungssteuer überschritten würde. Derartige Analogien zu Rechtsnormen, die selbst keine erdrosselnde Wirkung für den Steuerpflichtigen entfalten, sind jedoch nicht denkbar, weil eine Analogie an vergleichbar steuerwürdigende Sachverhalte anknüpft und in ihrer Intensität mit der entsprechend angewendeten Norm identisch ist. Somit ergeben sich auch aus Art. 14 Abs. 1 GG keine Einschränkungen für steuerverschärfende Analogien.

2. Demokratie und Gewaltenteilung

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer Bundesstaat, Art. 20 Abs. 1 GG. Hieraus und aus Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG folgt, dass nur der vom Volke durch Wahlen legitimierte parlamentarische Gesetzgeber über die Steuerwürdigkeit tatsächlicher Lebenssachverhalte entscheiden und demgemäß folgerichtig Steuern auferlegen kann. In diesem Kontext nahm der RFH gutachterlich Stellung52 und erging die daran anknüpfende Entscheidung des BVerfG53, nach der das Steuerrecht „aus dem Diktum des Gesetzgebers“ lebe.

a) Steuerrechtliche Analogien als illegitime Rechtsschöpfung

Zwar ist es auch unter dem Grundgesetz grundsätzlich anerkannte Aufgabe der Gerichte, Gesetzeslücken durch Analogien zu schließen.54 Im Steuerrecht, für das der Gesetzgeber selbst den parlamentarischen Besteuerungswillen durch Jahressteuergesetze stets aktuell zum Ausdruck bringt, könnte dies jedoch bezweifelt werden. Aus dem „Aktionismus des Steuergesetzgebers“55 schließen Friauf56 und Wendt57, dass die Lückenausfüllung im Steuerrecht stets auf einem hypothetischen, nicht rechtsförmig gefassten Willen beruhe, weil der Gesetzgeber seinen Willen zeitnah umsetzen könne. So sei, weil die Lückenausfüllung nur das umsetze, was der Rechtsanwender für „konsequent“ oder „besser“ halte, die Analogie nicht auf einen legitimierten Gesetzgeber zurückzuführen und verstoße gegen das Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip.58


43 BVerfGE 111, 54, 81; Lang, in: Epping/Hillgruber (Fn. 3), Art. 2 Rn. 2.

44 BVerfGE 6, 32, 37 f.; BVerfGE 10, 354, 363; Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Fn. 3), Art. 2 Rn. 39.

45 Hess (Fn. 15), S. 117 ff.

46 BVerfGE 13, 181, 185; Mann/Worthmann, JuS 2013, 385, 389.

47 Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1990, S. 146; Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 245.

48 BVerfGE 24, 367, 396; Jarass/Pieroth (Fn. 14), Art. 14 Rn. 7.

49 BVerfGE 75, 108, 154; Walz (Fn. 47), S. 147; Wendt, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum GG9, 2011, Art. 14 Rn. 38; Papier, in: Maunz/Dürig (Fn. 3), Art. 14 Rn. 160.

50 Selmer (Fn. 47), S. 295; so auch BFH, I R 43/89, BStBl. II 1991, 427, 433; a.A. Friauf, DÖV 1980, 480, 488.

51 BVerfGE 87, 153, 169; BFH, VIII R 95/72, BStBl. II 1974, 572, 580; Völker, DStZ 1989, 235, 241; Hey, in: Tipke/Lang (Fn. 15), § 3 Rn. 184.

52 RFH, I D 1/21, E 6, 292, 299 (s.o.).

53 BVerfGE 13, 318, 328.

54 BVerfGE 34, 269, 287 f.; BFH, IV R 175/79, BStBl. II 1984, 221, 224; Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Fn. 3), Art. 20 Rn. 158.

55 Seer, in: Tipke/Lang (Fn. 15), § 1 Rn. 8.

56 Friauf, in: DStJG 5 (Fn. 5), S. 53, 67.

57 Wendt (Fn. 36), S. 1203, 1212.

58 So auch Friedrich, in: FS Wallis, 1985, S. 151, 154.

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b) Analogien als Fortführung gesetzgeberischer Wertungen

Keineswegs soll jedoch dem Gesetzgeber durch die Rechtsfortbildung, wie von Friauf und Wendt angedeutet, die alleinige Legislativkompetenz abgesprochen werden. Es liegt in der Natur des Steuerrechts, dass es aufgrund der hohen Komplexität der Lebenssachverhalte lückenhaft ist. Schon aus tatsächlichen Gründen ist es daher für den Gesetzgeber kaum möglich, auch trotz jährlicher Steuergesetze alle Lücken im Wortlaut zu erfassen und zu schließen. Aufgrund der gefestigten Methodik der Analogiebildung kann auch das Argument nicht überzeugen, die Lückenausfüllung stütze sich nicht auf einen rechtsförmig gefassten Willen und sei gar willkürlich und spekulativ. Als methodische Voraussetzung muss sich die Zulässigkeit der Analogie nach der „immanenten Teleologie“ richten. So hat auch schon der RFH festgestellt, dass eine Lückenausfüllung nur möglich sei, „wenn der Gesetzgeber die Steuerpflicht für den Tatbestand selbst angeordnet, aber diesen sie bedingenden Tatbestand nicht völlig genau umschrieben hat“59. Folglich wirkt die Analogie innerhalb der teleologischen Vorstellung des Gesetzgebers nur „nachbessernd“60. Demgemäß, die Methodentreue der Analogienbildung vorausgesetzt, ist auch im Steuerrecht die Lückenausfüllung kein Eindringen in den gesetzesfreien Raum, sondern führt den Willen der demokratisch legitimierten Volksvertretung praeter legem entsprechend fort.61 Nach hier vertretener Auffassung steht mithin das Demokratieprinzip einer belastenden Analogie nicht entgegen; beides steht vielmehr ausdrücklich in Einklang.62

3. „Nullum tributum sine lege“?

Eine absolute Unzulässigkeit steuerrechtlicher Analogien zuungunsten des Steuerpflichtigen könnte sich auch aus Art. 103 Abs. 2 GG, der seinerseits eine spezielle Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips darstellt,63 ergeben.

Indes beschränkt der Wortlaut des Art. 103 Abs. 2 GG das hieraus abgeleitete Verbot der Überschreitung des möglichen Wortsinns64 auf das materielle Strafrecht. Die Übertragung dieses strengen Gesetzesvorbehalts auf ein regelmäßiges Analogieverbot auf dem Gebiet des Steuerrechts für den Steuerpflichtigen belastende Analogien gemäß eines Grundsatzes „nullum tributum sine lege“65 ließe sich daher allenfalls auf eine entsprechende Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG stützen.

a) Analogieverbot wegen vergleichbarer Eingriffsintensität

Eine solche Analogie wird von einem Teil der Literatur befürwortet.66 Begründet wird diese Auffassung mit der vergleichbaren Eingriffsschwere von Strafe und Steuer. Weil eine Geldstrafe und eine Steuerabgabe die „stärksten Eingriffe in die Individualsphäre“67 darstellten, bedürfe es im Steuerrecht eines mit dem strengen strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt vergleichbaren Grundsatzes. Überdies sei eine Analogie des Art. 103 Abs. 2 GG auf die „erstrebenswert[e] Konkordanz zwischen Steuerrecht und Steuerstrafrecht“68 zurückzuführen.

b) Kritik an der Analogiefähigkeit des Art. 103 Abs. 2 GG

Kritisch zu würdigen ist, ob diese Begründung eines steuerrechtlichen Analogieverbots durch die analoge Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG überzeugen kann.

Sie stößt schon deshalb auf erhebliche Bedenken, weil Gegenstand der Analogie die Verfassung ist. Versteht man das Grundgesetz als eine „einheitliche Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens der staatlichen Gemeinschaft“69, ist dessen Unvollständigkeit äußerst fragwürdig. In diesem Sinne bildet der Verfassungstext eher ein „lückenloses System“70, in dem kein Raum für eine ergänzende Lückenausfüllung bleibt.

Schlösse man dementgegen die Lückenhaftigkeit der Verfassung nicht aus, müsste das Grundgesetz überdies planwidrig unvollständig sein. Dies begegnet gleich mehreren gewichtigen Zweifeln: Telos des Art. 103 Abs. 2 GG ist die Bestimmbarkeit von verbotenem Verhalten durch den Staatsbürger.71 Im Sinne der Feuerbach‘schen „Theorie des psychologischen Zwangs“ kann nur geschriebenes Recht zur Unterlassung bestimmten Verhaltens generalpräventiv wirken.72 Sinn und Zweck des Steuerrechts ist jedoch, insbesondere durch die Verwirklichung sogenannter Finanzzwecknormen, die Sicherung des Steueraufkommens zur Staatsfinanzierung (vgl. § 3 Abs. 1 Hs. 1 AO), nicht die Unterlassung bestimmter Handlungen.73 Ferner sind das durch die Strafnormen zum Ausdruck kommende Unwerturteil und der Schuldvorwurf nicht mit dem Verteilungs- und Finanzierungscharakter des Steuerrechts vergleichbar.74 Letztlich ist zweifelhaft, ob eine Lücke auch planwidrig wäre. Obwohl ein strenger Gesetzesvorbehalt für das Steuerrecht schon zu Geltungszeiten der Weimarer Reichsverfassung diskutiert wurde, hat der Verfassungsgeber


59 RFH, I D 1/21, E 6, 292, 299 – Betonung durch Verfasser.

60 BFH, IV R 175/79, BStBl. II 1984, 221, 224; Englisch, in: Tipke/Lang (Fn. 15), § 5 Rn. 82.

61 Roland, SteuerStud 2009, Beil. 1, 11; Papier, Die finanzgerichtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, S. 176 f.; Tipke, StuW 1981, 189, 192; Englisch, in: Tipke/Lang (Fn. 15), § 5 Rn. 82.

62 So auch Tanzer, in: StuW 1981, 201, 209 f.; Tipke, in: DStJG 5 (Fn. 5), S. 1, 11.

63 BVerfGE 78, 374, 382; BVerfGE 95, 96, 130; Jarass/Pieroth (Fn. 14), Art. 103 Rn. 43.

64 BVerfGE 71, 108, 115; Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, S. 127 ff.

65 In Anlehnung an „nulla poena sine lege“.

66 Kruse, StuW 1959, 210, 227; Felix, in: DStJG 5 (Fn. 5), S. 99, 128 f.

67 Kruse, StuW 1959, 210, 227.

68 Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, 1983, S. 153.

69 BVerfGE 19, 206, 220.

70 Roellecke, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II, 1976, S. 22, 33; in diesem Sinne auch Müller, Juristische Methodik I10, 2009, S. 139.

71 BVerfGE 41, 314, 319; BVerfGE 87, 209, 223 f.

72 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB2, 2011, Einl. Rn. 65; Rüping, in: BonnKommGG (Fn. 14), Art. 103 II, Rn. 6.

73 Tipke, StuW 1981, 189, 192; Papier (Fn. 61), S. 177; Walz (Fn. 47), S. 144.

74 Weber-Grellet, DStR 1991, 438, 444; Crezelius (Fn. 68), S. 153; Hess (Fn. 15), S. 141 f.

Kahf, Analogie im Steuerrecht – eine verfassungsrechtlich zulässige Methode gegen „Steuerschlupflöcher“? (BLJ 2013, 66)71

in Kenntnis dieser Problematik ein Rechtsfortbildungsverbot ausdrücklich nur für das Strafrecht normiert.75 Dies legt nahe, dass für das Steuerrecht eine dem Art. 103 Abs. 2 GG ähnliche Regelung bewusst nicht in das Grundgesetz aufgenommen wurde.

Eine Übertragung des Art. 103 Abs. 2 GG auf dieses Rechtsgebiet im Wege der Analogie muss demnach ausscheiden.

4. Rechtsfortbildung und Rechtssicherheit

Weil sich aus den Grundrechten, dem Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip, sowie aus Art. 103 Abs. 2 GG eine verfassungsrechtliche Grenze der Rechtsfortbildung zuungunsten des Steuerpflichtigen nicht entnehmen lässt, kommt es letztlich auf die allgemeinen Wertungen des Gebots der Rechtssicherheit an.

a) Keine Vorhersehbarkeit der Besteuerungsbelastung bei Analogien

In Anlehnung an das Urteil des BVerfG aus 196176 wird vertreten, dass eine Analogie zulasten des Steuerpflichtigen, sei sie steuerverschärfend oder steuerbegründend, ausgeschlossen ist.77 Die Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit der Besteuerung könne effektiv nur gewährleistet werden, wenn sie sich innerhalb des zwar auslegungsfähigen, aber noch möglichen Wortsinns des Steuertatbestandes bewege. Um Rechtssicherheit zu gewährleisten, müsse der steuerliche Eingriff durch das positive Recht normiert werden. Dieses zu gestalten wäre jedoch nur Aufgabe der Legislative, nicht der Judikative oder Exekutive.

b) Gegenthese: Rechtssicherheit durch Regelsicherheit

aa) Hinreichende Vorhersehbarkeit bei Methodentreue?

Dem hält eine mindestens ebenso stark vertretene Auffassung entgegen, dass nur eine methodengerechte Rechtsfortbildung und Lückenausfüllung hinreichende Rechtssicherheit schaffe.78 Tipke versteht „Rechtssicherheit [als] Regelsicherheit, Sicherheit vor regelloser Willkür“79. Demgemäß sei die Besteuerung durch belastende Analogien vorhersehbar und verfassungsgemäß, wenn sie methodentreu hergeleitet würde.

Gegen diese Auffassung könnte man indes anführen, dass sich das Steuerrecht der Rechtsfortbildung entziehe, weil es positivistisches Recht sei, dem es an der „Sachlogik der Steueranknüpfung“80 fehle.81 Zwar kann die Bruchstückhaftigkeit der Steuergesetze nicht vollends von der Hand gewiesen werden, jedoch gibt es beispielsweise mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip, dem Liebhaberei-, Annuitäts- und Sozialstaatsprinzip wesentliche der Besteuerung zugrunde liegenden Prinzipien.82 Weil das Recht nicht mit der Gesamtheit geschriebener Normen identisch ist,83 muss sich die verfassungsrechtliche Vorhersehbarkeit statt positivistisch an dem Wortlaut, auch an der Methodik der Lückenausfüllung orientieren.

Überdies wird zu Recht darauf verwiesen, dass auch die Gerichte, die ihre Urteile unter der Prämisse eines Analogieverbots gefasst haben, das Lückenausfüllungsverbot zuungunsten des Steuerpflichtigen durch exzessive Auslegung umgingen (zum Beispiel der doppelstöckigen GmbH & Co. KG unter C.I.1.).84

Nach zutreffender Ansicht ist Rechtssicherheit daher nur durch methodengerechte Rechtsfortbildung und Regelsicherheit zu erreichen.

bb) Verfassungskonforme Anwendung der Analogievoraussetzungen

Nimmt man mit der hier vertretenen Ansicht an, dass eine Besteuerung auch dann vorhersehbar ist, wenn ein Tatbestand methodengerecht rechtsfortbildend verschärft wird, ist die Anschlussfrage zu erörtern, ob und wie das Rechtsstaatsprinzip die Analogievoraussetzungen beeinflusst.

(1) Keine Einschränkung

Eine Anpassung der Analogievoraussetzungen aufgrund der Verfassung könnte man ablehnen und die Grenze der Rechtsfortbildung erst am „Gebot der rechtsanwendungs-politischen Zurückhaltung“85 ziehen, also dort, wo mit der Analogie in die souveräne Entscheidungshoheit des Gesetzgebers über die Auswahl der Steuertatbestände eingegriffen wird. Dies käme im Ergebnis einer Ablehnung jeder eingeschränkten Zulässigkeit der Analogie im Steuerrecht gleich.86 Dieses Verständnis birgt jedoch eine „Tendenz zum Willkürlichen“87, wenn die Einschätzung über die legislative Nachbesserungsbedürftigkeit allein dem Richter obliegt. Diese Auffassung, die dem Steuerpflichtigen keine hinreichende Vorhersehbarkeit gewährt, ist daher abzulehnen.

(2) Subjektiver oder objektivierter gesetzgeberischer Wille als Analogieschranke

Eine belastende Analogie ist nur dann verfassungskonform, wenn der Steuerpflichtige aufgrund erkennbarer Umstände nicht auf den (unzureichenden) Wortlaut vertrauen darf. Das schutzwürdige Vertrauen in den Wortlaut nehmende Umstände können nach einer Ansicht solche sein, die den subjektiven Willen des Gesetzgebers erkennen lassen, den in Frage stehenden Sachverhalt unter die Norm zu fassen. Dieser Wille kann aus dem Gesetz und unter Berücksichtigung der Gesetzesbegründung und Parlamentsdebatten ermittelt werden.88


75 Barth (Fn. 6), S. 408 f.; Papier (Fn. 61), S. 22 ff.

76 Vgl. Fn. 37 mit zugehörigem Zitat im Text.

77 BFH, I R 20/76, BStBl. II 1978, 346, 347; BFH, I R 205/66, BStBl. II 1972, 455, 457; Offerhaus, BB 1984, 993, 996 f.; Friauf, in: DStJG 5 (Fn. 5), S. 53, 60 ff.; Friedrich (Fn. 58), S. 151, 156; Hegelau, Analogie im Steuerrecht, 1985, S. 87; Scholtz, in: Koch/Scholtz (Hrsg.), Kommentar zur AO5, 1996, § 4 Rn. 18.

78 BFH, IV R 175/79, BStBl. II 1984, 221, 224; Tipke (Fn. 25), S. 200 ff.; Völker, DStZ 1989, 235, 239.

79 Tipke, StuW 1981, 189, 194 f.

80 Kruse, in: DStJG 5 (Fn. 5), S. 71, 75 f.

81 Wendt (Fn. 36), S. 1203, 1213 f.

82 Tipke, in: DStJG 5 (Fn. 5), S. 1, 12.

83 BVerfGE 34, 269, 287.

84 Englisch, in: Tipke/Lang (Fn. 15), § 5 Rn. 83.

85 Walz (Fn. 47), S. 142 ff., 154.

86 So auch Tanzer, StuW 1981, 201, 206.

87 Woerner, BB 1984, 523.

88 BFH, IV R 175/79, BStBl. II 1984, 221, 224; Tipke, in: DStJG 5 (Fn. 5), S. 1, 12; Plückebaum, DStZ 1984, 284.

Kahf, Analogie im Steuerrecht – eine verfassungsrechtlich zulässige Methode gegen „Steuerschlupflöcher“? (BLJ 2013, 66)72

Nach einer engeren These erfordert das Gebot der Rechtssicherheit, dass sich die planwidrige Unvollständigkeit aus dem objektivierten Willen des Gesetzgebers ergibt – maßgeblich sei also allein der Gesetzestext selbst.89 Gemeinsam halten es beide Auffassungen für unentbehrlich, dass der Wille eindeutig sein müsse, um dem Steuerpflichtigen das Vertrauen in den Wortlaut des Gesetzes nehmen zu können.

Naheliegend ist zunächst der für die subjektive Bestimmung der Unvollständigkeit sprechende Gedanke, dass sich auch die Methode der Auslegung aller Gesetzesmaterialien bedient. Jedoch muss der subjektive Wille im Falle seiner Verfassungswidrigkeit zugunsten der verfassungskonformen Auslegung weichen, die einen objektiviert-teleologischen Ansatz verfolgt.90 Weil die Analogiefähigkeit zunächst eine Verfassungsfrage ist, wäre demnach der objektivierte Wille maßgeblich.

Mitunter wird versucht, die subjektive Methode mit dem Demokratieprinzip zu rechtfertigen, da bei der Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien der hinter dem Gesetz stehende wahre Wille des Gesetzgebers eher zum Ausdruck komme als im Gesetz selbst.91 Dieses Argument verkennt indes, dass der Steuergesetzgeber selbst an das Grundgesetz gebunden und an dessen Geboten und Prinzipien zu messen ist. Nur weil der subjektive Wille demokratisch – da er den wahren Willen des Gesetzgebers besser erkennen lässt, vielleicht „demokratischer“ – ist, heißt dies noch nicht, dass dieser mit dem Rechtsstaatsprinzip harmonisiert und verfassungsgemäß ist.92 Ein demokratisch gefasster Besteuerungswille kann gleichwohl mit den verfassungs-rechtlichen Geboten der formellen Rechtsstaatlichkeit unvereinbar sein.

Vielmehr spricht die Natur des Steuerrechts für die objektiv-teleologische Ermittlung der Gesetzeslücke. Als besonders intensives, wesentliche private und unternehmerische Entscheidungen prägendes Eingriffsrecht muss das Steuerrecht dem Steuerpflichtigen eine erhöhte Rechtssicherheit durch Vorhersehbarkeit bieten. Selbst von den Vertretern des subjektiven Ansatzes wird eingestanden, dass die Erkundung des tatsächlichen Willens für diesen weder zumutbar noch verhältnismäßig ist.93 Denn nur wenn auch ein Richter „den gesetzgeberischen Plan aus [dem Gesetz] ebenso exakt belegen [kann] wie das Defizit an verbaler Ausformung“94, kann der aufmerksame Steuerpflichtige die Unausgewogenheit des Steuergesetzes erkennen und sich auf die den Wortlaut übersteigende Besteuerung einstellen.95

Folglich müssen sich die Analogievoraussetzungen, um den Anforderungen der der Verfassung wegen gewährten Rechtssicherheit zu genügen, eindeutig und nur aus dem Gesetzestext selbst herleiten lassen.

D. Fazit

Der Beitrag hat gezeigt, dass die Grundrechte, das Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip, sowie das Gebot der Rechtssicherheit einer den möglichen Wortsinn eines Steuertatbestandes überschreitende Besteuerung nicht entgegenstehen. Die Rechtsfortbildung durch die Finanzverwaltung und die Gerichte im Wege einer Analogie zulasten des Steuerpflichtigen setzt aus verfassungs-rechtlichen Erwägungen gleichwohl voraus, dass sich allein aus der Teleologie des Steuergesetzes selbst der eindeutige Wille des Gesetzgebers ergibt, den in Frage stehenden Sachverhalt als steuerwürdig einzustufen. Andernfalls schließt das schutzwürdig Vertrauen des Steuerpflichtigen in das geschriebene Recht die Besteuerung auf Grundlage einer Analogie aus.

Trotz oder aufgrund der lebhaften Diskussion über die Analogiefähigkeit steuerrechtlicher Normen ist anzuerkennen, dass sich die Finanzgerichte der Problematik um die verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung mehr als andere Gerichte bewusst sind und sich entsprechend dezidierter hiermit auseinandersetzen.96 Schließlich bleibt zu hoffen, dass sich die Exekutive und insbesondere die Judikative – unabhängig von einer konkreten Rechtsauffassung – der Frage nach den Grenzen der Lückenausfüllung praeter legem methodenehrlich annimmt, um hierdurch selbst Rechtssicherheit zu schaffen.


89 Woerner (Fn. 40), S. 967, 976 f.; ders., FR 1992, 226, 231; Birk (Fn. 23), § 2 Rn. 174.

90 Woerner, BB 1984, 523.

91 Tipke, StuW 1981, 189, 194 f.

92 Woerner, BB 1984, 523.

93 Tipke, in: DStJG 5 (Fn. 5), S. 1, 12 f.

94 Woerner, in: DStJG 5 (Fn. 5), S. 23, 44.

95 Woerner, BB 1984, 523.

96 Ebenso dahingehend die Rechtsprechung des BFH analysierend Woerner, in: DStJG 5 (Fn. 5), S. 23, 51.